-10- ANDERE DIMENSIONEN

Vor der Schule schob ich das Fahrrad schnell in einen der Ständer. Ich schloss es nicht an. Wie erwartet, war es das einzige Fahrrad, was jetzt vor der Schule stand. Ich sprintete zum Eingang, aus dem gerade Frau Nels trat. „Alessandro!", sagte sie überrascht. „Was machst du denn hier?" Ich überlegte einen Moment. „Ich habe ein Buch im Schließfach vergessen, das ich brauche", antwortete ich. „Ach so. Dann hol es mal. Pass aber auf, die Reinigungskräfte haben gerade gewischt", warnte sie mich.

„Ich passe schon auf", versicherte ich ihr. „Dann wünsche ich dir noch einen schönen Tag", sagte Frau Nels. „Ebenso", erwiderte ich, bevor ich die Schule betrat. Es war seltsam ruhig hier, wo doch sonst von überall her Stimmen kamen. Der Fußboden in der Eingangshalle glänzte bereits wässrig. Darauf bedacht, nicht auszurutschen, lief ich weiter. Wo sollte ich nach Philine suchen? Unsere Schule war nicht gerade klein und vor allem jetzt, wo die Reinigungskräfte auch fast durch waren und bald nach Hause gingen, wollte ich nicht länger bleiben als nötig. Früher hatten wir überlegt, mal nachts in der Schule zu bleiben und dort zu übernachten. Es wäre sicherlich spannend gewesen, aber allein verspürte ich keine Lust dazu. Ich versicherte mich, dass mich keiner sah und lieg die Treppe nach unten zum Keller.

Hier unten war es noch ruhiger als sonst, fast schon gespenstisch ruhig. Vorsichtig bog ich in den Flur ein, wo der eine Vorbereitungsraum lag. Ob die weißen Quadrate immer noch da waren? Inzwischen vermutete ich, dass sie nur eine Requisite für die Theater-AG waren, die man hier unten abgestellt hatte. Das war die logischste Erklärung. „Suchst du mich?", fragte eine Stimme und ich zuckte vor Schreck zusammen. H

inter mir kicherte jemand. Ich fuhr herum. „Erschreck' mich doch nicht so", sagte ich, immer noch erschrocken. Das Kichern erstarb. „Entschuldige bitte. Mit jedem Wort, das ich sage, könnte ich dich ja anlügen", meinte sie trocken. „Ich meine, mich daran zu erinnern, dass du dich eigentlich verpissen solltest.

" „Philine, ich...", stammtelte ich. Schon das zweite Mal, dass ich heute einem Mädchen gegenüberstand und nicht wirklich wusste, was ich sagen sollte. „Ich möchte mich entschuldigen. Für das, das ich gesagt habe und so...", brachte ich schließlich hervor. „Für all das und so", wiederholte Philine und klang nicht gerade versöhnlich. „Woher der plötzliche Sinneswandel?" „Ich habe nachgedacht", erklärte ich. „Sieh einer an... dass es noch Menschen gibt, die denken können", kommentierte Philine trocken. Sie schien deutlich verletzt zu sein und das lag definitiv an mir. „Was du über Ria und Eleonora und die perfekte Welt gesagt hast, das ergibt plötzlich alles Sinn", sagte ich. „

So plötzlich?", wunderte sich Philiine. „Schien nicht so als würde sich das noch ändern." „Ich weiß, ich habe das nicht ernst genommen", antwortete ich. „Es klang alles so unwirklich. Das konnte gar nicht sein." Ich schaffte es nicht, ihrem durchdringenden Blick standzuhalten. Also sah ich irgendwo auf den Boden. „Ich freue mich ja, dass du es wenigstens nicht gleich alles vergessen, sondern darüber nachgedacht hast", meinte sie. „Und jetzt willst du dich dafür entschuldigen, dass du mich als eine Lügnerin und, noch viel schlimmer, als Psychopathin bezeichnet hast?"

Ich nickte. „Du musst aber zugeben, wenn dir das ganze zwischen zwei weißen Quadraten erzählt wird, weiß man nicht so recht, was nun wahr oder falsch ist", versuchte ich mich zu erklären. „Okay, da muss ich dir zustimmen. Die Bühne für die Theater-AG war nicht gerade der beste Ort", gab Philine zu. Also noch ein Punkt weniger, der dafürsprach, dass sie verrückt war.

„Da sorgt man sich einmal um seine Mitmenschen, da ist man gleich aus der Anstalt ausgebrochen", schnaubte sie und konnte ein Lachen nicht mehr unterdrücken. „Wollen wir nach oben gehen? Ich glaube, die klappen hier gleich die Bürgersteige hoch." Ich nickte und folgte Philine nach oben. Die Reinigungskräfte sahen uns zwar verwundert an, aber Philine und ich grüßten freundlich und gingen nach draußen. „Können wir uns vielleicht in der Stadt irgendwas zu essen suchen? Ich habe Hunger", fragte sie.

Ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Vielleicht klärte sich dann ja alles auf und ich brauchte mir um Philine keine Sorgen mehr zu machen. „Von mir aus gerne", stimmte ich zu. „Hast du was Bestimmtes vor Augen?" „Nicht direkt", erwiderte sie. „Das entscheiden wir vor Ort." Also nahm ich mein Fahrrad und schob es neben mir her, während ich mit Philine in Richtung Stadt lief. „Warum bist du eigentlich noch in der Schule?", fragte ich.

„Dasselbe könnte ich dich fragen", antwortete sie. „Ich habe nach dir gesucht, um mich zu entschuldigen. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?", meinte ich und sah sie an. Von ihrem Anblick war ich immer noch fasziniert. Damit sie nicht merkte, dass ich sie anstarrte, sah ich dann doch wieder nach vorne auf das Geschehen im Straßenverkehrt. „Ich gebe jüngeren Schülern Nachhilfe", erklärte sie. „Wir machen Hausaufgaben zusammen oder gehen den Stoff aus dem Unterricht noch einmal durch. Du hast Glück, dass es heute länger gedauert hat, sonst wäre ich nicht mehr dagewesen."

„Warum warst du dann im Keller?", wollte ich wissen. „Ich war eigentlich schon auf dem Weg nach draußen, da habe ich dich gesehen, wie du die Treppe nach unten gegangen bist", antwortete sie. So gut bin ich also darin, mich zu versichern, dass mich keiner sieht. „Ich hatte keine Ahnung, wo ich dich suchen sollte und da du ja liebend gerne Bücher durch die Kante schleppst und die bekanntlich im Keller gelagert werden", erklärte ich mich. Philine lachte. „Ein Herz für Bücher!", sagte sie. „Die brauchen auch ihre Fürsorge. Dazu gehört eben, dass man sie mal ausführt. Mindestens aller drei Tage, sonst werden sie unruhig und lassen nicht mit sich arbeiten."

Ich sah sie erstaunt an. Sie boxte mich leicht in den Oberarm und lacht noch mehr. Ein schönes Lachen. „Hey, jetzt mach dich mal locker", forderte sie. „Nicht alles, was ich sage, stimmt auch." „Nach deiner Geschichte mit der Parallelwelt", meinte ich. Sie antwortete für ein paar Schritte nicht. „Kann sein, dass ich etwas zu bildhaft beschrieben habe. Ich wusste auch nicht wirklich, wie ich mich ausdrücken sollte", stimmte sie zu und spielte verlegen mit dem Träger ihrer Tasche. „

Also gibt es keine Parallelwelt?", fragte ich. Philine zögerte. „Nein, in dem Sinne nicht", gab sie zu. „Sorry, wenn ich dich da verwirrt habe." „Kein Ding", sagte ich und war insgeheim froh über das, was sich jetzt nach und nach herausstellte. „Was ist eigentlich mit meiner Entschuldigung? Hast du sie angenommen?" „Ich hätte dir auch eine reinhauen können", schlug Philine vor. „Wäre dir das lieber gewesen?"

„Nicht wirklich", antwortete ich uns musste grinsen. „Wenn ich immer noch sauer auf dich wäre, würde ich jetzt nicht mit dir in die Stadt gehen", erklärte sie. „Ich bin froh, dass wir das geklärt hätten", sagte ich. „Sonst würde ich immer noch denken, dass du mir nur eine ausgedachte Geschichte erzählst, um dich im Nachhinein über Ria und mich lustig zu machen." Philine blieb stehen, also musste ich auch stehenbleiben. Sie sah mich ernst an, aber dieses Mal blickte ich nicht weg. „Du kannst mir vertrauen", sprach sie mit fester Stimme. „Ich würde es nie wagen, mich über andere Menschen lustig zu machen. Spaß ist, wenn beide lachen. Außerdem, was hätte ich denn davon, wenn ich rumerzähle, dass Alessandro in Ria verliebt ist? Aus dem Alter sind wir alle raus, wo wir uns noch mit dem ‚...sitzen auf'm Baum'-Spruch geärgert haben. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich es weitererzähle." Ich nickte und schließlich gingen wir weiter.

„Warum weißt du so viel über Ria und mich?", fragte ich. Das wäre die letzte Sache, die ich noch wissen müsste. „Ich sehe dich sonst nicht und dein Name ist mir vorher noch nie irgendwo begegnet." „Ich ziehe es vor, mich nicht unbedingt in dem Mittelpunkt zu drängen", erklärte Philine. „Das brauche ich nicht. Da gehören andere hin. Und dass es gerade dich getroffen hat... ich habe es mitbekommen, dass ihr euch kennt. Wenn Ria dann allerdings super schnell Anschluss bei anderen findet und sich auch nur noch bei denen herumtreibt, macht mich das nachdenklich. Vor allem wenn diese anderen Eleonora und ihr Gefolge sind. Da sollten alle Alarmglocken schrillen."

Als sie diesen Satz sagte, wusste ich, dass Philine alles war, nur nicht verrückt, durchgeknallt oder aus einer Anstalt ausgebrochen. Eleonoras Feinde waren meine Freunde, auch wenn das möglicherweise etwas drastisch ausgedrückt war. Schließlich überquerten wir die Hauptstraße, wo die Fußgängerzone begann. Hier begannen die Geschäfte und für eine kleine Stadt wie unsere hatten wir viele davon. Die Straße führte weiter zum Marktplatz, wo eine der beiden Kirchen und das Rathaus stand und sich viele Restaurants angesiedelt hatten.

Auf der anderen Seite führte die Fußgängerzone weiter in die Altstadt, wo die Häuser besonders eng standen. Mittendrin dann die zweite Kirche mit einer großen Orgel, die man erst in den letzten Jahren restauriert hatte und wegen der jetzt viele Touristen in unsere Stadt kamen, um ein Konzert zu besuchen.

All das zeigt, dass unsere kleine Stadt doch nicht so schlecht war und wenn ich zwischen Paris und unserer wählen müsste, ich brauchte gar nicht lange zu überlegen. „Ich glaube, ich weiß, wo wir hingehen", sagte ich zu Philine. „Wohin denn?", fragte sie. „Wir gehen zu Alessandro", erklärte ich. „Hä?", fragte sie verwundert. „Eine kleine Eisdiele am Marktplatz. Der Eigentümer heißt auch Alessandro. Hat Amon mal herausgefunden, als wir vor einigen Sommern dort waren." „Gibt's da wohl Rabatt oder was?", fragte Philine lachend. „Könnte durchaus sein", antwortete ich.


Alessandro erkannte mich wieder, auch wenn ich in den letzten Wochen eher selten hier war. Er machte Philine ein paar Komplimente, wie er es so oft tat. Wir bestellten und setzten uns draußen hin. Für Ende September war es immer noch angenehm warm und nach Philines Meinung ging Eis immer. Alessandro brachte uns das Bestellte und fragte uns, wie die Schule lief. Dann kam aber schon die nächste Kundschaft und die nächsten, denen er Komplimente machen konnte.

Also saßen Philine und ich da und sahen den Leuten auf den Marktplatz zu. „Hast du schon von der Party gehört?", fragte ich sie. „Eure Plakate sind ja nicht zu übersehen", antwortete sie. „Außerdem war ich bei der großen Verkündung dabei. Junge, Eleonora hat ja gerade so getan, als würde sie gleich die Hiobsbotschaft überbringen." „Für sie ist es vielleicht eine", überlegte ich. „Sie scheinen echt schon lange daran zu planen." „Von Ria und Dion stammt das Motto, richtig?", fragte Philine. Ich nickte.

„Leider", antwortete ich duster. „Du warst einer der Fraktion, die nicht begeistert aussah", stimmte Philine zu. „Aus der Ferne betrachtet war es ja schon ein lustiges Schauspiel. Die eine Seite rastet aus und die andere zieht sofort lange Gesichter." „Wie findest du das Traumpaare-Motto?", wollte ich wissen. „Ziemlich kitschig", antwortete Philine und drehte den kleinen Regenschirm, der als Deko auf dem Becher gesteckt hatte, zwischen den Fingern.„Ich hätte mir sowas eher in den USA vorstellen können. Da werden ja öfter Bälle und Partys veranstaltet. Für eine kleine Stadt wie unsere hier denkt Eleonora in ziemlich großen Dimensionen."

„Wenn am Ende alles funktioniert und es eine schöne Party wird, dann soll es halt so sein", meinte ich. „Das muss man ihr ja zu Gute halten: Sie hat sich den Hut aufgesetzt und etwas auf die Beine gestellt. Andere, mich eingeschlossen, hätten das nicht hinbekommen." „Wo du recht hast", stimmte Philine zu. „Wenn es nur nicht so eskaliert wie vier Jahre zuvor..." „Das scheint wirklich wie ein Fluch über allen Elfer-Partys zu liegen", vermutete ich. „Was aber nicht heißen muss, dass sich alle verstecken müssen, aus Angst, dass was passieren könnte."

„Auf Partys geschehen oft Dinge, über die man noch lange redet", murmelte Philine. „Da macht einer ein Foto von einem Betrunkenen und schon geht das Theater los. Abartig ist das." Ich musste ihr zustimmen. „Aktuell ist es ja noch so, dass ich nicht mal auf die Party kommen würde", erklärte ich. „Eigentlich wollte ich Ria fragen, aber das hätte ich von vornherein lassen können."

„Sie hat doch garantiert Dion", ergänzte Philine. „Mach' dir keine Sorgen. Es gibt noch genug andere, die auch noch jemanden suchen." Sie widmete sich wieder dem kleinen Papierregenschirm. „Sollte das jetzt eine Andeutung sein?", fragte ich. Philine grinste und antwortete nicht. „Wolltest du auch hingehen?", fragte ich weiter. „Wer weiß, wenn ich jemanden habe, um das Traumpaar zu komplettieren?", erwiderte Philine und ihr Grinsen wurde noch breiter. „Könntest du dir vorstellen, mit mir hinzugehen?", fragte ich und hoffte, nicht mit Anlauf und beiden Beinen im nächsten Fettnäpfchen zu landen.

„Ich könnte es mir schon vorstellen", antwortete sie und legte den Papierschirm weg. „Und du?" „Heute Morgen habe ich noch daran gedacht, dass du ja eigentlich verrückt bist", erklärte ich, „aber inzwischen weiß ich, dass dem nicht so ist." „Wir sind alle etwas verrückt", meinte Philine nachdenklich. „Der eine mehr, der andere weniger. Ich bin froh, dass wir unseren durchaus holprigen Start überwinden konnten." „Ich bin auch froh", stimmte ich zu. „Also bleibt es dabei?" „Wir kommen zur Party als Traumpaar", bestimmte Philine.„Ich habe sogar noch ein Kostüm."

„Ich muss aber keines tragen, oder?", fragte ich alarmiert. „Wir können ja noch ausknobeln, wer von uns beiden die Arielle macht", schlug Philine vor und prustete. „Das wäre garantiert der Brüller des Abends", stimmte ich zu und musste mitlachen. Als wir uns eingekriegt hatten, winkte ich Alessandro, dass er uns bitte die Rechnung brachte. Dann gingen wir weiter. „Wo wohnst du eigentlich?", fragte ich. „Gleich hier, am Rathausplatz", antwortete Philine. „Ich wohne in dem Haus dahinten."

Sie deutete auf eines der Häuser neben dem Rathaus. „Oder wolltest du mich noch nach Hause bringen?" „Damit du nicht von Autos überfahren oder überfallen wirst", antwortete ich. „Keine Sorge, wenn ich mich überfahren lassen will, schaffe ich das auch alleine", wehrte Philine ab. „Dann sehen wir morgen?" „Wenn du dich öfter blicken lässt?", erwidert ich. „Mache ich", antwortete sie. „Jetzt, wo ich weiß, dass von dir keine Gefahr mehr ausgeht!"

„Die Gefahr sind dann eher andere", meinte ich und dachte erst im nächsten Moment daran, dass Philine auch von einer Gefahr gesprochen hatte. Sie wurde für einen Moment wieder ernst. „Ja, das ist richtig", stimmte sie zu. „Wenn Eleonora sich mit der Party nicht übernommen hat, hoffe ich doch, dass alles gut geht." „Das wird es", vermutete ich. „Arielle kann ja immer noch fortschwimmen, wenn das Haus plötzlich geflutet wird." Philines ernste Miene wich wieder ihrem schönen Lächeln.

„Stimmt", meinte sie. „Also dann, danke für den schönen Nachmittag." „Gerne wieder", sagte ich und sah ihr noch nach, wie sie zum Rathaus lief. Dann schlug die Kirchenuhr halb sechs und erst jetzt wurde mir bewusst, wie viel Zeit vergangen war. Meine Hausaufgaben hatte zu Hause bestimmt keiner erledigt. Seufzend schwang ich mich wieder aufs Fahrrad und fuhr nach Hause. Der Nachmittag mit Philine war trotzdem schön.

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