4 - Antworten

Es gibt bestimmt angenehmere Ding, als in einem fremden Land aufzuwachen, ohne sich an etwas zu erinnern, sei es der Grund der Reise an diesen exotischen Ort oder auch nur so einfache Dinge wie den eigenen Namen.

Mit einem tiefen Seufzern versucht sie, in der Hängematte eine bequemere Stellung zu finden. Nun ist sie mindestens schon drei Tage hier und kann sich immer noch an nichts Zusammenhängendes erinnern. Dabei sind einige der Bilder, die sie in ihren Träumen sieht, sehr real und stammen ganz bestimmt aus ihrer Vergangenheit.

Da gibt es belebte Straßen in einer Stadt, vorbeieilende Fußgänger, Autos, grüne Landschaften mit sanften Hügeln und Bergen im Hintergrund. Aber meist kann sie sich an diese Eindrücke kaum erinnern, wenn sie erwacht. Sie werden überlagert von einem immer gleichen Albtraum.
Im Gegensatz zu den normalen Träumen krallen sich die Bilder des Albtraums in ihrem Hirn fest und verblassen auch tagsüber nie vollständig.

Der Traum verläuft immer gleich. Es ist, als ob sie mit hoher Geschwindigkeit durch einen Tunnel fahren würde, auf ein helles Licht in einiger Entfernung zu. Allerdings beginnt der Tunnel sich plötzlich um die Mittelachse zu drehen und anstatt näher zu kommen, entfernt sich das Licht an seinem Ende. Die Tunnelwände drehen sich immer schneller, wirbeln in atemberaubendem Tempo, glühen in einem gespenstisch orangen Licht und strahlen Hitze aus.
Danach fühlt es sich an, als würde sie durch einen Strudel oder endlosen Schlund aus Magma senkrecht hinunter ins Erdinnere stürzen. Dann, wenn sie denkt, dass sie sich gleich übergeben muss, ziehen sich die Wände des Tunnels immer enger zusammen, bis sie von ihnen auf allen Seiten umschlossen wird und verzweifelt darum ringt, um Hilfe zu schreien. Aber ihre trockene, brennende Kehle bringt keinen Ton hervor und sie weiß, dass sie nun gleich ersticken muss.
Daraufhin erwacht sie schweißgebadet und um Atem ringend.

Inzwischen fürchtet sie sich beinahe davor, einzuschlafen, denn sie weiß dass der Traum sie früher oder später wieder einfangen wird. Deshalb ist sie froh, als der alte, kahlköpfige Mann zu ihr tritt, um nach ihren Verletzungen zu sehen. Er reicht ihr eine Schale Wasser, die zumindest die eingebildeten Schmerzen in ihrer Kehle lindert. Schlucken ist immer noch unangenehm, aber wenigsten scheinen ihre Rippen nicht mehr bei jedem Atemzug in ihre Lunge zu stechen.

Nachdem sie ausgetrunken hat, nimmt der alte Mann die Schale wieder entgegen und lächelt ihr zu. Sie versucht die Geste zu erwidern, schließlich kann er nichts für ihre verzweifelte Situation und sie wagt sich nicht vorzustellen, was mit ihr geschehen wäre, wenn er sich nicht um sie gekümmert hätte.
Aber heute wendet er sich nicht gleich ab, um anderen Dingen nachzugehen. Er bedeutet ihr, sich aufzusetzen und stützt sie beim Versuch, seinem Wunsch nachzukommen. Ihre Rippen schmerzen und ihre Beine sind steif, besonders das linke Knie. Aber sonst scheint alles funktionsfähig, außer ihrem rechten Arm natürlich.

Dass der Arm gebrochen sein muss, hat sie sich inzwischen selbst ausgerechnet. Er ist ordentlich geschient und mit einem Verband aus einem Bastgeflecht umwickelt. Nichts, was sie da tun könnte, außer auf eine rasche Heilung zu hoffen.

Sie folgt ihrem Begleiter zu der Stelle unten am Strand, die er ihr vor zwei Tagen zeigte. Dort kann sie zwischen zwei gezackten Felsen in Ruhe ihr Geschäft verrichten. Er geht unterdessen ein Stück dem Meer entlang in Richtung des Dorfes, von dem sie nur die Blätterdächer einiger Häuser hinter einem Palmenhain erkennen kann. Irgendwann will sie sich das ansehen. Aber im Moment fühlt sie sich noch nicht in der Lage dazu, so weit zu gehen.

Sie knöpft sich ungeschickt mit der linken Hand ihre dunkelgraue Cargohose zu, als der Kahlköpfige zurückkommt und ihr mit einem breiten Lachen eine große Krabbe entgegenstreckt. Nun, das Tier ist wirklich beachtlich, sie möchte ihren Finger nicht in eine seiner Scheren bekommen. Allerdings nimmt sie an, dass es sich hier um ihre nächste Mahlzeit handelt, und das bringt sie dazu, einmal leer zu schlucken. Er hofft doch nicht, dass sie weiß, wie man so etwas zubereitet?

Es stellt sich heraus, dass er das nicht tut. Im Gegenteil er ist versessen darauf, es ihr beizubringen. Das ist nicht gerade die angenehmste Erfahrung, die sie sich vorstellen kann. Aber als das Krabbenfleisch schließlich über dem Feuer gart und seinen Duft verbreitet, erklärt ihr rumpelnder Magen eindeutig, dass es Zeit ist, gewisse Hemmungen abzubauen.

Der alte Mann, der ihr lachend beim Essen zusieht, erklärt gestikulierend etwas in seiner kehligen Sprache. Ob er sich wohl lustig macht? Nein, vermutlich wünscht er ihr nur einen guten Appetit.  Er steht auf, nimmt einen Beutel von einem Haken unter dem Dach und bedeutet ihr, sich wieder hinzulegen. Sie nickt, bleibt aber bei der glimmenden Feuerstelle sitzen, während sie ihm nachblickt bis er im Wald hinter der offenen Hütte verschwindet.

Gedankenverloren stochert sie mit einem Stock in der Glut herum, als sie hinter sich ein leises Geräusch vernimmt. Sie dreht sich um, und erkennt überrascht einen Jungen, der nur wenige Schritte außerhalb des Daches in der Sonne steht und sie anstarrt.

Es handelt sich bestimmt um den Jungen, der sie an jenem ersten Tag nach dem Aufwachen beobachtete. Allerdings kann sie ihn diesmal ganz sehen, nicht nur das Gesicht mit den großen, dunklen Augen und dem ungekämmten Haar.

Er trägt eine Art Lendenschurz aus einem Gewebe, das dem Verband um ihren Arm ähnelt. Sonst ist er unbekleidet, abgesehen von verschiedenen Halsketten und Bändern, die sich um seine schmalen Hand- und Fußgelenke winden. Am Gürtel trägt er ein gefährlich aussehendes, gezähntes Messer oder einen Dolch aus einem weißen Material. Ob das wohl Knochen ist? Wie Metall sieht es auf jeden Fall nicht aus. Er stützt sich auf einen langen Stab, den er in der rechten Hand hält. Nein, kein Stab, ein Speer, oder genauer eine Harpune mit scharfen Widerhaken. Ein Jäger, also, obwohl er dafür recht jung scheint.

Sie räuspert sich und hebt die linke Hand in einer Geste, von der sie hofft, dass sie freundlich wirkt.

„Hallo."

„Ri tenshej. Najo ke sjell."

Damit dreht der Junge sich um und rennt davon, hinunter zum Strand. Sie flucht leise vor sich hin. Wenn sie doch nur ein Wort verstehen könnte. Wie soll sie jemals herausfinden, wo sie ist und was passiert ist, wenn sie sich an nichts erinnern und mit niemandem verständigen kann?

~ ~ ~

Tom ist froh, dass er Melanie dazu bringen konnte, sich nach der Arbeit mit ihm zu treffen. Nicht dass das ursprünglich sein Plan war, aber als er Louisas Namen erwähnte, war ihr die Situation offensichtlich unbehaglich.

Deshalb bohrte er nicht weiter, besonders weil in dem Moment, als er sich nach Louisa erkundigte, zwei Kundinnen den Laden betraten, die es eilig hatten. Tom ließ ihnen deshalb den Vortritt und setzte sich auf einen Stuhl, um zu warten.
Bald verlor er aber die Geduld. Die beiden Damen würden Melanie vermutlich noch mindestens eine Stunde in Anspruch nehmen. Deshalb schnappte er sich vom leeren Arbeitsplatz hinter dem Tresen einen Block mit Post-it Zetteln und einen Kugelschreiber. Er war grün, Louisas Lieblingsfarbe. Ob das ihr Arbeitsplatz war? Egal, das spielte jetzt wirklich keine Rolle.

Rasch kritzelte Tom eine Nachricht auf den obersten Zettel und schob ihn Melanie zu.

‚Ein Bier nach Feierabend? Ich hole Sie ab.'

Die junge Frau betrachtete den Zettel und lächelte ihm flüchtig zu, bevor sie sich wieder in die Flugbuchungen ihrer Klientinnen vertiefte.

Nun steht er also wieder vor dem Reisebüro und wartet auf Melanie. Durchs Schaufenster kann er erkennen, dass sie immer noch mit den beiden Frauen beschäftigt ist. Er blickt auf die Uhr. Zwanzig vor sieben, der Laden hat eigentlich seit zehn Minuten geschlossen.

Kurzentschlossen öffnet Tom die Tür und tritt ein, bereit es mit einem Trick zu versuchen.

„Wir sollten wirklich los, Liebes, wir kommen sonst schon wieder zu spät."

Entgeistert blickt ihn eine der Damen an und holt Luft, vermutlich um ihn in die Schranken zu weisen. Ihre Kollegin legt ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm und blickt auf die Uhr.

„Oh mein Gott, schon so spät. Bitte entschuldigen sie, sie hätten uns sagen sollen, dass sie Feierabend haben. Macht es ihnen etwas aus, wenn wir am Montag wiederkommen? Vielleicht könnten sie uns bis dahin ein geeignetes Reiseprogramm und einige nette Hotels zusammenstellen."

Melanie blickt ihre Kundin dankbar an.

„Selbstverständlich. Bis dahin kann ich mich auch für sie erkundigen, welche Impfungen notwendig sind und wieviel Zeit sie für die Transfers einrechnen sollten."

„Perfekt. Also, nichts für ungut und noch einen schönen Abend. Komm, Bea, lassen wir die jungen Leute ihren wohlverdienten Feierabend genießen."

Damit schiebt sie ihre widerstrebende Freundin aus dem Geschäft und lächelt Tom im Vorbeigehen entschuldigend zu. Melanie blickt den beiden verblüfft nach.

„Wow. Wie haben sie das geschafft? Ich dachte schon, ich würde die Nacht hier am Bildschirm verbringen. Das war wirklich eine Rettung aus einer dringenden Notlage."

Tom grinst, selbst überrascht, wie gut sein plumper Trick funktionierte. Er streckt Melanie, die gerade ihren Computer herunterfährt, eine Hand entgegen.

„Hallo, ich bin Tom. Louisas Bruder. Eigentlich bin ich nur hergekommen, weil ich wissen möchte, wo meine Schwester steckt."

Melanie zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. Die dunkelrote Farbe ihres T-Shirts passt wirklich gut zu ihren braunen Augen und Haaren.

„Lous Bruder? Derjenige, der sich überreden ließ, mit einer Horde verrückter Rentner nach Italien zu fahren statt in die Flitterwochen?"

„Nun ja, für die Absage der Flitterwochen war mehr meine Ex-Freundin zuständig, Sandy. Abgesehen davon war eigentlich nur vorgesehen, um ihre Hand anzuhalten, flittern stand erst später auf dem Programm. Aber ja, der Tom bin ich. Haben sie Zeit, zusammen etwas zu trinken? Ich mache mir wirklich Sorgen um Lou."

Melanie blickt auf ihr Handy, um die Zeit abzulesen, stopft es dann eilig in die Tasche und kramt ihre Schlüssel hervor.

„Ich muss meine Kathi bei der Tagesmutter abholen, ich bin ohnehin schon spät dran. Es ist gleich hier um die Ecke. Wenn sie wollen..." sie blickt Tom kurz an und lächelt. „Wenn du willst können wir zusammen hingehen und uns unterwegs unterhalten."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top