33 - Interferenzen
Tom versucht, möglichst viel von Silvios Gewicht zu tragen, damit er Lou entlasten kann. Im Moment kann er sich noch nicht vorstellen, wie sie es schaffen wollen, ihre bewusstlose Last durch den sich drehenden Tunnel zu bringen. Ihm wurde beim letzen Mal auch so schon schlecht. Aber Lou lässt sich ihre Schmerzen nicht anmerken. Stetig setzt sie einen Fuß vor den anderen. Erst direkt vor dem Portal wirft sie einen letzten, langen Blick zurück über die Schulter auf ihre beiden Freunde, der Tom beinahe das Herz zerreißt.
Salej und Naliq stehen dicht beieinander am Strand und sehen Louisa nach. Das Gesicht des Jägers wirkt grimmig wie immer, dasjenige des Jungen ist von Tränen nass. Mit versteinerten Zügen wendet sich Lou wieder Tom zu. Obwohl er deutlich die Feuchtigkeit in ihren Augenwinkeln erkennen kann, klingt ihre Stimme emotionslos.
„Also dann. Gehen wir."
Tom zögert einen Moment und sucht nach tröstenden Worten, aber ihm fällt nichts passendes ein. Deshalb verändert er seinen Griff unter Silvios Schultern, um nicht abzurutschen, und tritt mit einem großen Schritt rückwärts ihn den blauen Dunst, der den Eingang des Portals markiert. Sofort verfärbt sich der wabernde Nebel, und die schon bekannten, farbigen Wirbel beginnen sich zu bilden. Tom atmet tief ein und wagt den zweiten Schritt in den sich öffnenden Tunnel mit den vielfarbigen, drehenden Wänden.
Einen Moment lang kämpft er um sein Gleichgewicht und dagegen, Silvio fallenzulassen. Dann findet sein Blick denjenigen Louisas und es gelingt ihm, den Schwindel zu überwinden. Im farbigen Licht der Tunnelwände wirkt das Gesicht seiner Schwester kantig und verkniffen, von dunklen Flecken übersät. Das getrocknete Blut, denkt Tom und konzentriert sich darauf, einen Schritt nach dem anderen tiefer in den Portaltunnel einzudringen.
Seltsamerweise scheint der Untergrund diesmal fester zu sein und es fällt ihm leichter, die Illusion der Drehung auszublenden. Dankbar dafür, dass die zweite Durchquerung tatsächlich einfacher zu sein scheint als die erste, geht er weiter.
Trotz ihrer Bürde kommen sie überraschend gut voran und erreichen bald die Stelle, wo das gleißendere Licht des Dodos die Farbenwirbel überstrahlt. Tom sieht sich nach dem Juwel um, überrascht über dessen verstärkte Leuchtkraft. Wie vorher schwebt der Dodo in der Tunnelmitte und Tom fragt sich einmal mehr, wie sich der kostbare Stein gleichzeitig in einem gut gesicherten Kellerraum befinden kann.
In diesem Moment bewegt sich Silvio, und Tom bleibt überrascht stehen. Ein Zittern durchläuft den großen Mann und seiner Kehle entringt sich ein lautes Stöhnen. Sorgfältig senkt Louisa seine Beine zu Boden und Tom folgt erleichtert ihrem Beispiel. Er richtet sich auf und reibt sich den schmerzenden Rücken.
„Er wacht auf. Was machen wir jetzt?"
„Es wird eine Weile dauern, bis er wirklich wach ist. Sobald das Zittern aufhört, kann er vielleicht sogar selbstständig gehen. Er wird aber noch benommen sein und sich vermutlich sogar übergeben. Du, findest du auch, dass sich der Tunnel heute anders anfühlt? Irgendwie enger, aber fester und heller? Außerdem kann ich mich nicht an dieses Surren erinnern."
„Jetzt wo du es sagst. Ja, als ich vorhin herkam, schien mir der Boden elastisch und... Scheiße, ich habe Karos Warnung völlig vergessen."
Lou starrt ihn an, und auf ihrer Stirn bildet sich eine Falte. Das bläulich-weiße Licht des Dodos lässt das Weiße in ihren Augen strahlen.
„Welche Warnung?"
„Sie meinte, ich solle unter keinen Umständen versuchen, gleichzeitig mit Silvio das Portal zu durchqueren. Sie fürchtete, zwei Schlüssel in unmittelbare Nähe des Dodos zu bringen, könnte zu gefährlichen Interferenzen führen."
Langsam, wie in Zeitlupe, zieht Louisa einen kleinen geknüpften Beutel aus ihrer Bluse hervor. Mit Daumen und Zeigefinger entnimmt sie daraus einen klaren Kristall und zeigt ihn Tom auf der offenen Handfläche.
„Wenn du einen Schlüssel hast und Silvio einen zweiten, dann sind wir jetzt gerade mit dreien davon im Tunnel. Was sind laut Karo die Konsequenzen?"
Tom fährt sich mit der Hand durchs Haar.
„Keine Ahnung, und Karo wusste es auch nicht. Sie meinte, der Dodo könnte Schaden nehmen oder der Tunnel zerreißen. Das Ganze klang ziemlich spekulativ."
Er lässt seinen Blick über die Tunnelwände gleiten, deren Drehung sich merklich verlangsamt hat. Falls Karos vage Vermutung stimmt, sollten sie machen, dass sie vorwärts kommen und das Portal verlassen.
„Lass uns gehen, solange wir noch können. Ich will nicht in dem Tunnel sein, wenn er tatsächlich bricht."
Lou nickt. Wie in Trance steckt sie den Kristall wieder ein und greift nach Silvios zitternden Beinen. Gemeinsam schleppen sie den Mann am Dodo vorbei, dessen gleißendes Licht nun rhythmisch pulsiert. Das Surren, das Louisa vorher erwähnte, wird allmählich lauter und dröhnt in Toms Ohren. Er ist froh, als sie sich vom Dodo entfernen und der Effekt wieder etwas nachlässt. Tom stolpert weiter, fest entschlossen nicht noch einmal anzuhalten. Aber plötzlich lässt Lou Silvios Beine fallen. Sie muss ihre Stimme heben, um sich über das inzwischen ohrenbetäubende Surren bemerkbar zu machen.
„Wir sind gleich da. Gib mir bitte deinen Kristall, Tom."
Gleichzeitig beugt sie sich über Silvio, um in dessen Taschen nach dem dritten Schlüssel zu suchen. Triumphierend hält sie ihn kurz darauf hoch. Tom zögert einen Moment, bevor er seinen eigenen aus der Tasche klaubt.
„Was hast du vor, Lou?"
„Ich werde versuchen, diesem Experiment ein für allemal ein Ende zu setzen. Wenn es mir gelingt, den Dodo permanent zu schädigen, kann niemand mehr in diese Welt eindringen, und auch nicht in eine andere. Geh, bring Silvio zurück. Ich werde warten, bis ihr beim Ausgang seid."
„Du bist verrückt, Lou, wenn der Tunnel zusammenbricht, könntest du umkommen."
Seine Schwester streckt die Hand nach dem Schlüssel aus. Ihr Gesicht ist ernst und entschlossen.
„Ich weiß, ich habe das schon erlebt und bin dabei tatsächlich beinahe umgekommen. Trotzdem muss ich es versuchen. Ich schulde es Jalai und Naliq — und Salej."
„Heißt das, ich werde dich nie wiedersehen?"
„Vermutlich nicht, Tom. Du wirst vielleicht nicht einmal wissen, ob ich Erfolg hatte. Aber wenn ich es schaffe, den Tunnel zum Zerreißen zu bringen oder vielleicht sogar dem Dodo zum Explodieren, weißt du, dass mein Ziel erreicht ist."
„Lou, ich will das nicht. Du bist meine einzige Schwester."
Einige Sekunden lang sehen sie sich unverwandt an. Tom ist klar, dass Louisas Entschluss gefasst ist. Er holt tief Atem.
„Schau, dass du so weit als möglich vom Dodo weg bleibst, dann kannst du den Tunnel vielleicht noch verlassen, oder wirst hinausgeschleudert."
Louisa nickt, die Hand immer noch fordernd ausgestreckt. Zu ihren Füßen versucht Silvio, sich aufzurichten. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt und seine Augen rollen unkontrolliert von einer Seite zur anderen. Eilig drückt Tom seiner Schwester den Kristall in die Hand. Nun, da sie zwei davon dicht beieinander hält, flackern sie in allen Farben des Regenbogens und das Geräusch im Tunnel wird schier unerträglich. Die Wände und der Boden beginnen zu vibrieren.
Lou tritt um Silvio herum um Tom kurz aber fest zu umarmen. Ihre Worte direkt an seinem Ohr sind dennoch kaum mehr verständlich.
„Ich hab dich lieb, Tom. Grüße Mel und Kathi von mir. Ich muss versuchen, diese Welt zu retten."
Am liebsten würde Tom sie zurückhalten, aber er weiß, dass ihre Entscheidung längst gefällt ist. Er bückt sich, um dem verwirrten Silvio beim Aufstehen zu helfen und ihn so schnell wie möglich in Richtung des Ausgangs zu zerren.
~ ~ ~
Louisa blickt einen Moment lang wehmütig ihrem Bruder nach, der mit Silvio auf das Tunnelende zustolpert. Dann wendet sie sich ab, um so rasch als möglich zum Dodo zurückzukehren. Wenn sie ihren Plan umsetzen will, muss sie sich beeilen. Wer weiß, ob Karo nicht ein Mittel hat, den Dodo von ihren Manipulationen zu schützen.
Die Vibrationen des Tunnels sind jetzt zu einem konstanten Rütteln geworden, das sie aus dem Gleichgewicht bringt. Immer wieder muss sie sich an den Tunnelwänden abstützen, um nicht den Halt zu verlieren. Dies ist schlimmer als ihre Albträume, aber wenn es eine Möglichkeit gibt, das Portal zu zerstören und damit die Welt ihrer Freunde vor einer Invasion von Touristen zu schützen, muss sie es einfach versuchen.
Endlich erreicht sie den Dodo und presst sich vorsichtig entlang der Tunnelwand daran vorbei. Erst auf der anderen Seite holt sie den dritten Kristall aus dem Beutel. Sie legt die drei funkelnden Steine auf ihre Handfläche und streckt sie zum Dodo hin aus. Die Kristalle klirren gegeneinander als sie vergeblich versucht, ihren zitternden Arm ruhig zu halten. Lou weiß genau, das sie mit dem Feuer spielt. Soviel hat sie von Karos komplizierten Theorien begriffen.
Der Dodo beginnt noch heller zu strahlen und sie muss die Augen zukneifen, um nicht geblendet zu werden. Die drei Schlüssel pulsieren in den Farben des Spektrums und das Zittern des Portaltunnels bringt Lous Zähne zum vibrieren. Sie tritt noch etwas näher an das schwebende Juwel heran, nicht sicher, was sie sonst tun kann, um den Effekt weiter zu verstärken.
Aber der große Kristall nimmt ihr die Entscheidung ab. Gefangen in seinem gleißenden Licht schweben die drei Schlüssel nun über ihrer Handfläche und hängen nur eine Handbreit vom Dodo entfernt in der Luft, während sie ihre Hand langsam zurückzieht. Ohne den Dodo aus den Augen zu lassen, macht sie einen Schritt rückwärts,
Zuerst langsam und dann immer schneller beginnen sich die Schlüssel um den größeren, zentralen Kristall zu drehen wie Satelliten um einen Planeten. Fasziniert beobachtet Lou ihre sich kreuzenden Umlaufbahnen aus farbigem Licht. Allmählich nähern sich diese dem Mutterkristall und Lou blickt erschrocken auf, als ein splitterndes Geräusch das durchdringende Surren im Portal unterbricht. Entsetzt stellt sie fast, dass die Drehung des Tunnels nun zum Stillstand gekommen ist und die Wände plötzlich Risse aufweisen.
Mit einem letzen Blick zum Dodo wendet Lou sich ab und läuft so schnell ihr verletztes Knie es ihr erlaubt auf das Portal zu, das sie hoffentlich an den Strand zurückbringt. Kurz bevor sie den Ausgang aus dem Tunnel erreicht, rauben ihr ein ohrenbetäubender Knall und eine Druckwelle das Bewusstsein.
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