32 - Abschied

Tom beobachtet das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Er begreift rasch, dass Lou mit ihren beiden eingeborenen Freunden zusammenspannt, und er kann es ihr nicht verübeln. Die Koordination zwischen den dreien ist beeindruckend, als ob sie einander ohne viele Worte verstehen würden. Allerdings ist er grundsätzlich gegen die Anwendung von Gewalt. Deshalb war er zunächst erleichtert, dass der Pfeil des Jungen von Silvios Oberschenkel abprallte, ohne ihn ernsthaft zu verletzen. Danach ging alles zu schnell, um ihm irgend eine Art der Reaktion zu erlauben. Deshalb hier er sich zurück.

Als Louisas Freund sich schließlich aufrichtet, während Silvio regungslos am Boden liegen bleibt, fragt Tom sich, was genau passiert ist. Mit einem Räuspern versucht er, die Aufmerksamkeit seiner Schwester auf sich zu ziehen.

„Lou, ist er tot?"

„Silvio? Nein, er ist bewusstlos. Das Pfeilgift wirkt sehr schnell, aber nur für kurze Zeit. Er wird bald wieder zu sich kommen. An der Pfeilspitze haftete nicht genug, um einen Menschen längere Zeit außer Gefecht zu setzen."

„Bist du sicher?"

Seine Zweifel stehen ihm wohl ins Gesicht geschrieben, denn Lou wendet sich nun in dieser seltsam kehligen Sprache an den Mann, der Tom mit gerunzelter Stirn unverhohlen mustert. Der Eingeborene beugt sich daraufhin über Silvio und öffnet mit dem Daumen vorsichtig eines seiner Augenlider, bevor er mit einem weitern Schwall unverständlicher Wörter antwortet. Louisa wendet sich wieder Tom zu.

„Salej meint, er schlafe noch für zwei Handbreit von einem Sonnenlauf. Das ist etwas schwierig zu übersetzen, vielleicht eine knappe halbe Stunde? Ich habe seit Monaten keine Uhr mehr gesehen. Viel länger kann es auf jeden Fall nicht sein. Als ich zum ersten Mal versehentlich eine Jagdpfeilspitze anfasste, sammelte ich unfreiwillig Erfahrungen mit dem Gift. Es ist dir danach eine Weile kotzübel, aber das vergeht rasch und du lernst, in Zukunft vorsichtiger mit den Pfeilen umzugehen. Wir sollten versuchen, Silvio zurück durch das Portal zu bringen bevor er aufwacht."

Noch nicht vollständig überzeugt überlegt Tom, wie sie das schaffen wollen. Silvio ist groß, und Lou sieht nicht gerade aus, als wäre sie in Topform, mit all dem Blut, das ihre Glieder bedeckt. Aber es ist bestimmt besser, ihn in bewusstlosen Zustand zu KHTravel zurückzuschaffen, als noch mehr Gewalt zu riskieren. Da fallen ihm unvermittelt seine vorherigen Bedenken wieder ein.

„Hör zu, Lou, ich hatte vorhin einen Moment lang echt Angst, Silvio wolle uns beide und vielleicht auch deine Freunde beiseite räumen. Das würde ihm freie Hand zum Aufbau seines Urlaubsparadieses geben."

Nachdenklich fingert Lou an ihrer Stirnwunde herum. Sie hat jetzt aufgehört zu bluten, sieht aber hässlich aus und ist schmutzverkrustet.

„Ich weiß nicht, ob er so skrupellos wäre. Aber ausschließen kann ich es nicht. Ich habe mich schon einmal in ihm getäuscht. Wenn es bloß einen Weg gäbe, das vermaledeite Portal wieder zu verschließen."

„Vielleicht wäre Karo bereit, uns zu helfen. Warum kann er sich nicht einfach eine andere, unbewohnte Welt suchen?"

„Das ist nicht so einfach. Diese hier zu finden war schwierig genug. Die Parallelwelt muss unserer ähnlich genug sein, um Leben ohne größere technische Hilfskonstruktionen zu erlauben. Niemand will im Urlaub eine Gasmaske tragen. Es ist wie eine Suche nach einer Nadel im Heustock. Du gibst mehr oder weniger wahllos Koordinaten in den Dodo ein und hoffst, dass ein glücklicher Treffer dabei ist. Den Hauptteil der Arbeit übernimmt natürlich der Computer, aber trotzdem hat es Monate gedauert, bis wir über dieses Juwel hier gestolpert sind."

Tom schüttelt verständnislos den Kopf.

„Heißt das, du hast monatelang dabei geholfen, diese Welt zu suchen, und nun, wo ihr sie gefunden habt, entwickelst du Bedenken?"

Lou senkt einen Moment lang den Kopf und malt mit der Zehenspitze einen Kringel in den grobkörnigen Sand.

„Ich hatte von Anfang an Bedenken. Aber ich redete mir ein, diesmal würde es anders, diesmal würden wir die alten Fehler vermeiden. Schließlich war ich von Beginn an mit dabei und nahm mir vor, das Projekt aktiv in die richtige Richtung zu steuern. Ich war naiv. Inzwischen hatte ich reichlich Gelegenheit, diese Welt kennenzulernen und zu sehen, wie Silvio darauf reagiert. Das hat meine Illusionen zerplatzt wie eine Seifenblase."

Tom mustert seine Schwester nachdenklich. Früher hätte sie eine Fehleinschätzung nie so unverblümt zugegeben. Abgesehen von ihren Verletzungen sieht sie gesund aus, das Haar von der Sonne gebleicht und die Haut gebräunt. Sie hat Gewicht verloren und die Muskeln an ihren bloßen Armen und Beinen zeugen davon, dass sie viel Bewegung hat. Alles in allem scheint sie trotz ihrem momentanen Zustand fitter und lebensfreudiger zu sein, als er sie jemals gesehen hat.

„Was hat Silvio getan? Du siehst aus, als wärst du zusammengeschlagen worden."

„Das meiste war ein Unfall, glaube ich. Er hatte mich am Arm gepackt, und als er wütend wurde, drückte er immer fester zu. Als ich den Schmerz kaum mehr aushalten konnte, versuchte ich, mich zu befreien. Dabei bin die Felsen hinunter gestürzt. Ich hatte Glück dass ich mich direkt über der Wand noch irgendwie festhalten konnte."

Toms Blick folgt Lous ausgestrecktem Finger hinauf zu der Felswand, und ein kalter Knoten formt sich in seinem Magen. Ja, sie hatte tatsächlich Glück — und er würde zu gern wissen, ob da nicht doch vielleicht Absicht dahinter steckte. Immerhin brachte Silvio eine Pistole mit...

Eine helle Kinderstimme reißt ihn aus seinen düsteren Gedanken. Der Junge hat den Bogen wieder aufgenommen und hält einen weiteren Pfeil bereit, während er Silvio scharf beobachtet. An der Spitze erkennt Tom nun eine grünliche Masse, wohl das Pfeilgift.

Lou tritt zu dem Kind und legt ihm eine Hand auf die Schulter, während sie einige Worte mit ihm wechselt. Dabei dreht sie Tom den Rücken zu. Sofort nimmt der Mann, den sie Salej nannte, eine beschützende Position zwischen ihnen beiden ein. Sein Gesichtsausdruck ist grimmiger denn je. Tom hebt die offenen Hände, um anzudeuten, dass er keine Gefahr darstellt.

„Lou? Kannst du deinem Freund sagen, dass ich nicht vorhabe, dich zu erdrosseln? Er soll sich seine Sorge bitte für Silvio aufsparen."

~ ~ ~

Naom wendet sich zu ihrem Bruder um. Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. Es tut gut, einmal mehr Zeugin von Toms trockenem Humor zu werden.

„Naliq, Salej, dies ist mein Bruder Tom. Er ist gekommen, um mich zu suchen."

Sofort entspannt sich Salej und legt eine Hand zur Begrüßung über die Brust. Tom imitiert die Geste etwas ungeschickt, aber geistesgegenwärtig.

„Ich habe ihnen gesagt, dass du mein Bruder bist. Familie ist hier sehr wichtig."

„Offensichtlich. Dann habe ich ja Glück, ich kann auf die Bekanntschaft mit ihrem Pfeilgift verzichten. Nachdem ich beinahe vier Monate gebraucht habe, um dich zu finden..."

„Wie hast du das überhaupt geschafft? Silvio ist nicht der Typ, seine Geschäftsgeheimnisse zu verraten."

Tom versichert sich, dass der Genannte noch regungslos am Boden liegt, bevor er antwortet.

„Deine Kollegin Melanie war eine große Hilfe. Und, nachdem ich zu KHT durchgedrungen bin, auch Karo. Sie scheint dich wirklich zu mögen."

Naom reibt sich getrocknetes Blut von der Wange. Sie muss aussehen, als ob sie an einer Schlacht teilgenommen hätte.

„Die Mädels sind großartig. Mel — ich wusste nicht einmal, dass sie Bescheid weiß. Dass Karo vor deinem unwiderstehlichen Charme einknickte, überrascht mich hingegen nicht. Ich bin froh, dass du gekommen bist. Sonst hätte Silvio vielleicht wirklich einfach aufgeräumt mit mir. Ich war entsetzlich blauäugig was seine Motive angeht."

„Lass uns nur hoffen, dass er es nicht doch noch versucht, wenn wir zurück sind. Obwohl, wenn wir ihn zurückbringen, haben wir außer Karo auch Alfred und Mel als Zeugen. Vielleicht reicht das, um ihn zu stoppen."

Naom runzelt die Stirn.

„Alfred?"

„Ein Bekannter und Freund. Er wartet mit Melanie am Empfang von KHTravel. Einer der Rentner, der auf der Italienreise dabei war. Erinnerst du dich?"

„Ja, klar, die Bootsflüchtlinge. Es ist echt beruhigend, wieder ein funktionierendes Gedächtnis zu haben. Nach dem Unfall mit dem Portal wusste ich nicht einmal mehr meinen Namen. Erst als Silvio hier auftauchte, konnte ich allmählich meine Erinnerungen wieder zusammenkratzen. Zumindest dafür sollte ich ihm wohl dankbar sein, auch wenn mein Gedächtnis sich immer noch anfühlt wie ein Puzzle mit fehlenden Teilen."

Sie beobachtet, wie Tom ungläubig den Kopf schüttelt.

„Vier Monate ohne Gedächtnis? Wie hast du das überstanden?"

Ihr Blick wandert zu Naliq und Salej. Ohne Jalaj und den Jungen wäre sie in dieser fremden Welt völlig verloren gewesen. Und inzwischen weiß sie, dass auch Salej sie von Beginn an unterstützte. Sie ist für ihre Hilfe und selbstlose Freundschaft unendlich dankbar. Der Gedanke, sich von ihnen womöglich für immer zu verabschieden, schmerzt. Dann sind da noch der besonnene Hjal und Sonem, von deren ruhiger Kompetenz sie so beeindruckt ist und die sie eben erst richtig kennenlernte. Mit einem schiefen Lächeln sieht sie ihren Bruder an.

„Ich hatte Hilfe, und ich fand einige gute Freunde. Weißt du, weshalb es so lange dauerte, bis das Portal wieder hergestellt war?"

„Karo sagt, ein Erdbeben habe die Ausrichtung der Laser verschoben. Erst als ich anfing, Druck zu machen, hat sie aber das Problem gefunden. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich zu ihr durchgedrungen bin. Ich war zuerst bei der Polizei und habe alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt. Wenn nicht Silvio schließlich selbst mit der Sprache herausgerückt wäre, würden Mel und ich immer noch wilde Vermutungen anstellen. Wobei die Realität all unsere Theorien weit übertrifft."

Lous Lächeln wird breiter.

„Tom, ich war vorhin wirklich froh, dich zu sehen. Nach meinem Sturz und als Silvio mit der Pistole herumzufuchteln begann, dachte ich, dass er uns alle umbringen wird."

Bevor Tom darauf antworten kann, lässt Naliqs Stimme sie aufblicken.

„Naom? Ich glaube, er wacht auf."

Sofort sind Salej und Naom an Silvios Seite. Tatsächlich flattern seine Augenlider, laut Salej ein sicheres Zeichen, dass er bald zu sich kommen wird. Der Jäger kennt die Wirkung seines Gifts bestimmt am besten. Er sieht Naom fragend an.

„Soll ich ihn noch einmal betäuben?"

„Nein, Tom und ich werden ihn in seine eigene Welt zurückbringen. Er kann nicht hierbleiben."

Salej legt in einer Geste der Bestätigung den Kopf schräg. Aber Naliq starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an.

„Kommst du zurück?"

Naom schluckt leer. Dies ist die Frage, vor der sie sich fürchtet.

„Ich weiß es nicht, Naliq. Ich weiß nicht, ob ich zurückkommen kann. Ich würde es gerne tun, aber..."

Sie unterbricht sich, als der Junge enttäuscht das Gesicht abwendet. Hilfesuchend sieht sie Salej an. Aber der Jäger, dessen pragmatische Art sie in den letzten Tagen schätzen lernte, kann ihr auch keine Antwort auf ihre Frage bieten. Er legt Naliq eine Hand auf die Schulter.

„Naom wird zurückkommen, wenn sie kann. Wir werden ihre Hängematte ins neue Haus bringen."

Wir warten auf dich, bedeutet das. Plötzlich kämpft Naom gegen Tränen. Rasch umarmt sie Naliq und dann Salej, bevor sie Tom heranwinkt.

„Komm, wenn wir ihn zu zweit tragen, bekommen wir ihn zum Portal, bevor er aufwacht. Ich möchte drüben sein, bevor er uns hier noch mehr Ärger bereiten kann."

Währen Tom sich bückt, um Sivios Schultern anzuheben, nimmt sie seine Beine. Silvio ist schwer, aber es gelingt ihnen, ihn Schritt für Schritt zum Portal zu bringen. Ihr Knie schmerzt höllisch, aber das muss warten. Tom bemerkt ihr Hinken.

„Schaffst du das, Lou? Vielleicht sollte besser dein Freund tragen helfen."

„Salej? Nein, ich will ihn nicht mit ins Portal bringen. Naliq würde uns dann folgen und unsere Welt wäre nicht gut für die beiden. Es sind nur noch zwei Meter. Das geht schon, irgendwie."

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