3 - Fragen

Alfred sitzt bereits unter der großen Linde, als Thomas den Garten des Wirtshauses betritt. Der Tag im Büro war anstrengend, und er fand keine Zeit, sich um seine vermisste Schwester zu sorgen. Aber auf dem Weg hierher versuchte er zum zigsten Mal, Lou anzurufen – erfolglos. Inzwischen hat er mindestens fünf Nachrichten auf ihrer Sprachbox hinterlassen und ernsthafte Zweifel nagen an seiner ursprünglichen Zuversicht, dass sie bloß anders beschäftigt ist und sich bestimmt bald melden wird.

Er setzt sich Alfred gegenüber und versucht, seine Ängste hinter einem unbesorgten Lächeln zu verbergen. Aber damit ist er bei dem aufmerksamen Rentner an der falschen Adresse.

„Was ist denn bei dir los, Tom? Du siehst aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen."

„Gar nicht so falsch, aber lass nur, vermutlich bilde ich mir nur etwas ein."

Der ältere Mann betrachtet ihn nachdenklich, das Kinn in die Hand gestützt. Dann ruft er die Kellnerin heran und bestellt zwei Bier, ohne Tom aus den Augen zu lassen.

Erst als sie wieder allein sind, schüttelt er den Kopf.

„Ich will ja nicht aufdringlich sein, und dein Privatleben geht mich genau genommen gar nichts an. Aber entweder hat dich gerade deine Freundin sitzen lassen, oder dich beschäftigt irgend ein anderes lebensbedrohendes Problem."

Überrascht sieht Tom sein Gegenüber an. Kann Alfred Gedanken lesen?

„Das mit der Freundin war vorher. Ich meine, vor zwei Wochen, bevor wir nach Italien gefahren sind. So absurd es klingt, ich bin darüber schon beinahe hinweg. Im Moment mache ich mir ernsthaft Sorgen um Lou, meine Schwester. Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, sauer auf sie zu sein."

Alfred hebt übertrieben verständnislos die Augenbrauen und bringt Tom damit zum Lächeln.

„Nun, ich sollte dir wohl die ganze verrückte Geschichte von Anfang an erzählen."

Und das tut er, von seinem dummen Streit mit Sandy bis zu Louisas überraschendem Vorschlag, für sie eine Reiseleitung zu übernehmen, damit sie selbst an einem wichtigen neuen Projekt weiterarbeiten konnte. Alfred reibt sich das glattrasierte Kinn.

„Du hast das alles nur gemacht, um deinen Liebeskummer zu verdrängen? Hut ab, junger Mann!"

„Danke, wenn du es so ausdrückst, klingt es wirklich ziemlich verrückt. Aber ich muss zugeben, diese Reise war eine interessante Erfahrung. Ich verstehe nur nicht, was mit Lou los ist. Langsam mache ich mir echt Sorgen. Zunächst fürchtete ich, sie würde mich jeden Tag anrufen weil sie sich Sorgen machte um ihre Reisegruppe. Ich ließ sie sogar versprechen, dass sie mir nicht dauernd auf den Keks fallen würde. Aber jetzt ich habe seit unserer Abreise immer noch nichts von ihr gehört, und sie antwortet nicht auf meine Anrufe."

„Steht ihr einander nahe?"

Tom zuckt die Schultern. Schwierige Frage – ja, schon, aber dann auch wieder nicht. Er versteht sich gut mit seiner Schwester, sonst hätte er ihr die Geschichte mit Sandy nie erzählt. Andererseits hätte er sie nicht angerufen, wenn er in diesem Moment nicht dringend jemanden gebraucht hätte, um sein Herz auszuschütten. Es kann auch mal vorkommen, dass sie einige Wochen keinen Kontakt haben. Bei Lous Job ist das wohl normal.

„So nahe wie sich Geschwister nun mal stehen. Wir sehen uns vielleicht einmal im Monat, schreiben eine SMS. Aber diese Funkstille ist mir unheimlich."

„Da hast du wohl recht, vor allem nachdem du für sie eingesprungen bist. Hast du schon bei ihr im Geschäft angerufen?"

Nein, das hat er nicht. Thomas sieht auf die Uhr. Heute wird er dort niemand mehr erreichen. Aber morgen wird er als erstes dort anrufen. Dankbar lächelt er Alfred zu. Aber der Knoten der Anspannung in seinem Magen löst sich nicht.

~ ~ ~

Als sie das nächste Mal die Augen aufschlägt, scheint ihr die Sonne direkt ins Gesicht. Sie blinzelt und versucht, die Hand vors Gesicht zu heben, um sich Schatten zu machen. Aber ihr rechter Arm gehorcht ihr nicht. Ein zuckender Schmerz erinnert sie daran, dass damit etwas nicht stimmt. Genau, der Unfall. Ob ihr Arm gebrochen ist?
Sie nimmt die linke Hand zu Hilfe, um die verklebten Lieder zu reiben. Die Bewegung bringt ihre Unterlage zum Schaukeln. Erschrocken und desorientiert hält sie inne, schaut sich zum ersten Mal richtig um.

Sie liegt in einer Hängematte, die unter einem Dach aus trockenen Blättern festgemacht ist und, ausgelöst durch ihre Bewegung, sanft hin und her schaukelt. Außer dem Dach, dem groben Stoff der Hängematte und einem Stück blauen Himmels, dominiert von einer tief stehenden, grellen Sonne, kann sie nichts sehen.

Die Schmerzen in ihrem Arm und den Rippen halten sie davon ab, sich aufzurichten. Mit der gesunden Hand tastet sie ihren Brustkorb ab. Eine Art Verband aus rauem Stoff umschließt ihn, und ihr rechter Arm ist auch gleich daran festgebunden. Vielleicht ist er wirklich gebrochen.

Verzweifelt versucht sie, sich an den Hergang des Unfalls zu erinnern. War sie mit dem Auto unterwegs? Oder im Flugzeug? Letzteres scheint ihr wahrscheinlicher – wie wäre sie sonst irgendwo gelandet wo es Hängematten und Blätterdächer gibt? Aber einen Flugzeugabsturz hätte sie wohl kaum einfach so aus dem Gedächtnis gestrichen. Ist so etwas überhaupt möglich?

Die Anstrengung, sich an etwas Zusammenhängendes zu erinnern, verstärkt ihre Kopfschmerzen und sie schließt die Augen, um vor sich hin zu dösen. Vermutlich ist sie dabei wieder eingenickt, denn als sie die Augen zum nächsten Mal öffnet, blickt sie direkt in das Gesicht eines Jungen. Mit halb offenem Mund starrt er sie an, die großen braunen Augen fast verdeckt von ungekämmten, schwarzen Locken, die ihm in die Stirn fallen.
Eine schmutzige braune Hand wird einen Moment am Rand der Hängematte sichtbar, als der Junge sich näher lehnt, um sie genauer zu betrachten. Sie versucht zu lächeln, aber vermutlich wirkt es eher wie eine Grimasse. Auf jeden Fall verschwinden Hand und Gesicht aus ihrem Blickfeld, und sie hört leichte Schritte davoneilen.

Kurz darauf taucht ein anderes Gesicht auf. Nun, vielleicht hat der Neuankömmling den Jungen erschreckt, und nicht ihr gequältes Grinsen. Zumindest hofft sie das.
Freundliche braune Augen, von zahllosen Fältchen umgeben, mustern sie sorgfältig. Die schmalen Lippen geben in einem Lächeln den Blick auf eine Reihe von abgenutzten Zähnen frei. Der Schädel des alten Mannes ist vollständig kahl, und eine alte, gezackte Narbe zieht sich von der linken Augenbraue bis übers Ohr.

Er beugt sich über die Hängematte und bietet ihr mit einer ruhigen, knotigen Hand eine kleine Schale mit Flüssigkeit an. Sie kämpft darum, sich etwas aufzusetzen, um das Gefäß mit der linken Hand entgegenzunehmen.
Der Mann bemerkt ihre Schwierigkeiten und mit einem unverständlichen, kehligen Laut dreht er sich weg, wohl um die Schale abzustellen. Auf jeden Fall taucht er gleich darauf wieder an ihrer Seite auf und hilf ihr behutsam, eine bequemere Stellung zu finden. Dann reicht er ihr das Gefäß mit einem breiten Lächeln erneut.

Vorsichtig schnuppert sie daran, aber es enthält nur Wasser, das sie gierig hinunterschlürft. Der Mann nimmt die leere Schale und bringt sie gleich darauf gefüllt wieder zurück. Diesmal trinkt sie langsamer, genießt es, die kühle Flüssigkeit durch ihre schmerzende Kehle rinnen zu lassen.

„Danke. Das war sehr gut."

Erst als das Lächeln auf dem Gesicht des alten Mannes durch ein Stirnrunzeln ersetzt wird, begreift sie, dass sie noch mit einem weiteren Problem konfrontiert ist. Die nächsten Worte ihres Gastgebers bestätigen dies.

„Eshe ika Jalai. Ja-eshe ej alejko?"

~ ~ ~

Tom steht vor dem Schaufenster des Reisebüros „Magic Tours" und betrachtet die bunten Werbeplakate. Das meiste, was hier angeboten wird, entspricht dem üblichen Massengeschmack, Strand, Swimmingpools, Palmen. Aber ganz rechts gibt es Aushänge für besondere Reisen, darunter „Hilfe für Bootsflüchtlinge", das innovative Programm, das er selber kennenlernen durfte.

Das Ganze wirkt professionell, und Thomas fragt sich, weshalb er nie vorher hier bei Lou auf der Arbeit vorbeischaute. Er ließ sie zwar seine geplante Reise ins Paradies buchen, aber er war noch nie in dem Geschäft, das seiner Schwester soviel bedeutet.

Mit der Hand auf der Türklinke holt er tief Luft. Nachdem er auch am Donnerstag weder Lou noch ihren Chef telefonisch erreichen konnte, beschloss er, einfach hier vorbeizukommen. Falls ihn das auch nicht weiterbringt, wird er schließlich doch die Polizei alarmieren müssen.

Bevor er den Mut fasst, die Tür zu öffnen, wird sie schwungvoll von innen aufgerissen und er steht einem glücklich strahlenden jungen Paar gegenüber. Vermutlich habe sie gerade ihre Flitterwochen gebucht. Tom spürt einen Stich, der ihn daran erinnert, dass er doch noch nicht über die Trennung von Sandy hinweg ist. Trotzdem nickt er dem Paar freundlich zu und betritt das kühle Ladeninnere.

Hinter einem niedrigen Tresen mit eleganten Flachbildschirmen sitzt eine attraktive Frau, vielleicht Mitte zwanzig und lächelt ihm entgegen. Ihr kastanienbraunes Haar ist kurz geschnitten und sie trägt ein dunkelrotes „Magic Tours" T-Shirt.

„Guten Abend, ich bin Melanie. Kann ich ihnen helfen?"

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