29 - Entscheidungen

Karo mustert Tom mit gerunzelter Stirn. Ihre Zweifel sind ihr förmlich ins Gesicht geschrieben.

„Eine Waffe? Was zum Teufel will er mit einer Waffe?"

„Keine Ahnung, das ist es, was mich beunruhigt. Hat er nichts Verdächtiges zu dir gesagt?"

„Nein, nur, dass er sich da drüben etwas genauer umsehen wollte. Er meinte, es würden dort tatsächlich Eingeborene leben, und er wolle versuchen, sie aus der Ferne zu beobachten. Deshalb brachte er ein Fernglas mit. Er hat sich extra vergewissert, dass das Metall die Funktionsweise des Portals nicht beeinträchtigt."

Tom schließt einen Moment lang die Lider. Melanies Vermutung scheint also richtig zu sein, Silvio ist tatsächlich bewaffnet und zog nicht einmal Karo ins Vertrauen. Was hat er bloß vor? Tom sieht der Wissenschaftlerin in die Augen. Er muss sicher sein, dass er nicht einem Hirngespinst aufsitzt.

„Metall von einem Fernglas oder einer Pistole?"

„Keine Ahnung, beides dürfte etwa gleich schwer sein. Er hat es mir nicht gezeigt, nachdem ich ihm sagte, er könne soviel Metall mitschleppen, wie er wolle..."

„Also gut, gehen wir davon aus, dass er tatsächlich eine Pistole mit sich herumträgt. Nun stellt sich die Frage, warum er sie heimlich an dir vorbeischmuggelte."

Karo starrt einen Moment lang zu Boden. Dann zieht sie entschlossen eine Schublade an ihrem Arbeitstisch auf. Tom erkennt die kleine Box mit dem Ersatzschlüssel sofort. Er nimmt ihn beinahe ehrfürchtig entgegen. Karo hebt warnend einen Zeigefinger.

„Sei bloß vorsichtig damit. Wir haben noch nie versucht, zwei Schlüssel parallel in Betrieb zu nehmen. Es könnte zu Interferenzen führen, wenn sie gleichzeitig zu nahe an den Dodo gebracht werden."

„An den Dodo? Ich denke er ist irgendwo in einem Keller eingebunkert?"

„Richtig. Aber andererseits auch nicht. Das Portal führt faktisch durch den Dodo hindurch, egal wo er gelagert ist. Der Schlüssel definiert nur, wo Anfangs- und Endpunkt des Portaltunnels liegen sollen."

Toms Gesicht muss seine völlige Ignoranz spiegeln, denn Karo unterbricht sich und schenkt ihm ein verständnisvolles Lächeln.

„Das ist im Grunde genommen einfache Quantenphysik. Stell dir vor, der Dodo beherbergt ein Mikro-Wurmloch, das dich in eine beliebige Dimension transportieren kann. Den Schlüssel brauchst du, um am richtigen Ort anzukommen. Quasi um die richtige Türe aufzuschließen, deshalb nennen wir die Kristalle auch Schlüssel. Wir wissen einfach noch nicht genau, was passiert, wenn zwei identische Ausführungen der Schlüssel gleichzeitig zur Anwendung kommen. Deshalb bitte ich dich, vorsichtig zu sein. Vor allem wenn du da drüben Silvio antriffst und ihr etwa zusammen zurückkommen wollt."

Tom nickt. Das Szenario einer friedlichen Begegnung klingt verlockend. Aber im Moment will er nicht an eine andere Möglichkeit denken.

„Gut, soviel habe ich verstanden. Nicht gleichzeitig durch das Portal, sonst kann es sein, dass wir ein Feuerwerk erleben."

„Das vielleicht nicht, aber der Dodo könnte Schaden nehmen, und er ist unendlich kostbar. Theoretisch ist es möglich, dass das Portal durch die Interferenzen zerrissen wird und einer von euch dort drüben strandet, bis wir genug Energie haben, es ein weiteres Mal hochzufahren."

„Zwei Tage, wenn ich mich recht erinnere. Nun, das klingt immerhin besser als für immer. Wünsch mir Glück!"

Während Tom hinunter zur Portalkammer steigt, denkt er an Melanie und die letzten belanglosen Worte, die sie austauschten. Er versucht, sie sich mit gefärbtem Haar vorzustellen. Blond? Schwarz? Oder ein grelles Rot? Nein, sie gefällt ihm definitiv besser so. Nicht dass seine Meinung zählt. Bestimmt gibt es eine Menge Männer, die Melanie begehrlich nachblicken. Was wohl der Grund ist, dass sie mit ihrer Tochter alleine lebt?
Aber diese Fragen sind im Moment wirklich irrelevant. Er kann sie danach fragen, wenn er zurück ist. Nein, nicht wenn, sondern sobald er zurück ist. Er will sich nicht auf einen Misserfolg seiner Mission einstellen.

Vom Eingang der Kammer blickt er zu Karo hoch und setzt ein unternehmungslustiges Lächeln auf. Dabei ist er nicht sicher, wem er damit etwas vormachen will, Karo oder sich selbst. Wenn Silvio ein doppeltes Spiel spielt, kann sein Vorhaben rasch lebensgefährlich werden.

Tom atmet tief durch und macht den entscheidenden Schritt in den wabernden Tunnel des Portals hinein.

~ ~ ~

Nach einer hastigen Verabschiedung von Naliq und Salej folgt Lou Silvio. Er nimmt den Weg in Richtung der Klippe, an deren Fuß laut seiner Aussage das Portal liegt. Das ergibt Sinn, schließlich ist dies der Ort, an dem Naliq sie ursprünglich fand. Während sie hinter ihrem Chef herstolpert, muss sie sich eingestehen, dass sie sich immer noch völlig benommen und orientierungslos fühlt. Am liebsten würde sich sich irgendwo hinsetzten, um in Ruhe ihre Gedanken zu ordnen.
Oder noch besser in ihre Hängematte liegen, sanft hin- und herschaukeln und der Brandung zuhören. Vermutlich würde sich ihr Gedankenchaos ganz von alleine ordnen. Aber Silvio scheint es eilig zu haben. Deshalb bemüht sie sich, mit ihm Schritt zu halten. Das fiel ihr noch nie leicht, hat er doch deutlich längere Beine als sie.

Im Moment vermischen sich Erinnerungen an ihr altes Leben mit Traumsequenzen aus den vergangenen Wochen und Monaten. Es fällt ihr schwer, zwischen Einbildung und Wirklichkeit zu unterscheiden. Einzig die letzten Tage mit Naliq und Salej heben sich wohltuend konkret von erinnerten Schrecken und einem unwirklichen Leben in einer anderen Welt ab.

Am Rand des offenen Platzes bleibt sie stehen und wirft einen Blick über die Schulter zurück. Salej und Naom stehen noch an der gleichen Stelle und blicken ihr nach. In dem Gesicht des Jungen fallen vor allem die großen, dunklen Augen auf. Der Jäger stützt sich auf seinen Bogen und seine Stirn liegt in Falten. Eigentlich trägt er häufig diesen Gesichtsausdruck. Aber diesmal wirkt er nicht grimmig, sondern besorgt. Sie kann sich nicht vorstellen, weshalb er sich Sorgen machen sollte. Aber vermutlich täuscht sie sich nur.

Sie wendet sich ab und blickt direkt in Silvios Augen. Er muss ihr Zögern bemerkt haben und ist stehengeblieben.

„Geht es dir gut? Du siehst ziemlich mitgenommen aus."

Lou nickt nur. Es ging ihr auch schon mal besser. Zum Beispiel bevor sie mehrere Monate mit Gedächtnisverlust auf einer Robinsoninsel zubrachte. Aber im Moment hat sie gerade keine Lust, das mit Silvio zu diskutieren. Noch immer stürmen neue Erinnerungen auf sie ein, und noch immer hat sie das Gefühl, dass ihr einzelne Puzzleteile fehlen, um ein Gesamtbild zusammenzufügen.

Sie ruft sich zur Ordnung. Was auch immer in ihrer Beziehung mit Silvio schief lief, er ist nach wie vor ihr Chef und gerade eben auch ihr Retter. Statt sich vor ihm zu verschließen, sollte sie ihm Fragen stellen, die ihrem löchrigen Gedächtnis auf die Sprünge helfen.

„Silvio, weshalb hat es so lange gedauert, bis das Portal repariert war?"

„Karo sagt, ein Erdbeben hätte die Ausrichtung Laser beeinflusst. Es hat wohl ewig gebraucht, bis sie das überhaupt herausgefunden hat. Danach war es relativ einfach, das Portal wieder in Betrieb zu nehmen. Ich war vor zwei Tagen bereits einmal hier, auf einem Testdurchgang. Da bleib mir aber zu wenig Zeit, um nach dir zu suchen."

„Wie lange war ich denn eigentlich hier?"

„Nun, etwa zwei Monate, glaube ich. Ich müsste in meiner Agenda nachsehen."

Ärgerlich beißt sich Lou auf die Lippen. Es ist typisch für Silvio, dass er sich an so etwas Unwesentliches wie ihr Verschwinden nicht erinnern kann.

„Welches Datum haben wir denn heute?"

„Den sechsten Juli."

Lou bleibt überrascht stehen.

„Das sind mehr als drei Monate!"

„Betrachte es als Forschungsreise."

Silvio ist nun ebenfalls stehengeblieben und dreht sich zu ihr um. Sie befinden sich kurz vor der Stelle, wo der Abstieg hinunter zum Strand beginnt und der Wald den Blick auf die Bucht freigibt.

„Wirklich, mach dir keine Sorgen. Ich werde dir den Lohn für diese Zeit bezahlen. Schließlich hast du ja wertvolle Beziehungen geknüpft und sogar das hiesige Kauderwelsch gelernt. Das wird uns bestimmt helfen, wenn es Ärger gibt mit dem Bauprogramm. Der Platz vorhin schien mir übrigens recht gut gelegen. Vielleicht könnten wir dort fürs erste unser Hauptquartier einrichten."

Mit einer ausladenden Geste umfasst er die große Bucht. In seinen Augen glänzt Begeisterung.

„Das Ressort muss dann natürlich hinunter an die Bucht, direkter Zugang zum Strand ist wichtig. Vielleicht sollten wir uns einen Bauplatz gleich hinter den Hütten dort drüben suchen, dort scheint es offene Flächen zu geben. Das erspart uns die Rodung."

Die Hütten sind das Dorf Liqqa, und die offenen Flächen sind die Felder, welche von den Dorfbewohnern bestellt werden. Naom schüttelt ungläubig den Kopf.

„Und was passiert mit den Einwohnern des Dorfes?"

„Die werden sich an uns gewöhnen. Das tun sie immer. Dass du mit ihnen kommunizieren kannst, wird das Ganze erleichtern. Trotzdem rechne ich mit Widerstand. Besser wir sind aufs Schlimmste vorbereitet."

~ ~ ~

Salejs blickt Naom nach, die hinter dem seltsamen Fremden herstolpert, als ob sie krank wäre oder zu viel von Jalais Nektar der Visionen getrunken hätte. Der letzte Blick, den sie ihm und Naliq über die Schulter zuwarf, lässt ihn befürchten, dass er sie nicht wiedersehen wird. Das hinterlässt ein unangenehm kaltes Gefühl in seiner Brust.

Er blickt zu Naliq hinunter, der wie versteinert neben ihm steht. Was dem Jungen wohl gerade durch den Kopf geht? Tröstend legt Salej ihm eine Hand auf die Schulter. Wie schmal diese doch ist! Der Junge hat in den letzten Tagen beim Hausbau soviel geleistet, dass der Jäger darüber beinahe vergaß, dass er noch mehr ein Kind ist, als ein Mann.
Nun schaut er fragend zu Salej auf.

„Kommt sie zurück?"

Das ist eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Zudem fürchtet Salej, dass die wahrscheinlichste Antwort dem Jungen nicht gefallen wird. Er drückt dessen Schulter etwas kräftiger.

„Ich weiß es wirklich nicht. Der Fremde hat Geister in ihr geweckt, die geschlafen haben. Vielleicht werden sie ihr erlauben, hier zu bleiben, vielleicht werden sie Naom von uns wegführen. Es liegt nicht in unserer Hand. Komm, wir sollten das Dach decken. Bald kommt die Zeit der Stürme."

Naliq senkt den Kopf, aber nicht schnell genug, um die Träne zu verbergen, die über seine Wange rinnt. Salej versucht, seiner Stimme einen aufmunternden Klang zu geben.

„Komm schon, Naliq, dein neues Haus ist beinahe fertig. Ich bin sicher, es wird ein gutes Haus. Ein trockener Platz, um dem Regen zu lauschen, der aufs Dach prasselt."

„Das ist nicht mein Haus, es ist unser Haus. Wenn ich wieder allein bin, brauche ich kein neues Dach. Mein altes genügt für mich."

Salej lässt den Blick hinüber zu dem alten, behelfsmäßigen Unterstand gleiten. Er bietet kaum genug Platz, um eine Hängematte im Trockenen aufzuhängen.

„Nun, in deinem alten Haus gibt es nicht genug Platz, wenn ich dich besuchen will."

„Wirst du mich denn besuchen, auch wenn Naom weggeht?"

„Bestimmt, wer soll dir denn sonst die Jagd beibringen?"

Ein zaghaftes Lächeln stiehlt sich auf das Gesicht des Jungen. Aber es verfliegt wie ein Morgennebel, als Naoms Schrei durch den Wald hallt.

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