26 - Überraschung

Tom stopft sein Smartphone samt Ladekabel in die Tasche und steckt den Schlüsselbund ein. Endlich, dieser Tag wollte wirklich kein Ende nehmen. Die Teamsitzung war alles andere als spannend und es gelang ihm nicht, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Sein Notizblock, vollgekritzelt mit geometrischen Formen, zeugt deutlich davon. Lauter Dodekaeder, in verschiedenen, perspektivischen Ansichten. Das Ding verfolgt ihn schon im Traum. Tom seufzt und reißt das oberste Blatt ab, um es zusammenzuknüllen und in den Papierkorb zu werfen.

Höchste Zeit, dass er loskommt und nachsieht, was bei KHTravel abgeht. Dass er noch keine Nachricht von Karo erhalten hat, kann Verschiedenes bedeuten. Entweder ist Silvio noch unterwegs, oder er ist ohne besondere Neuigkeiten zurückgekehrt. Andererseits hätte Karo ihm zumindest eine SMS schicken können falls dies der Fall ist. Sie weiß, wie gespannt er auf Neuigkeiten wartet. Aber vielleicht hat sie wirklich zu viel zu tun, und dann ist ja auch noch Silvio bei ihr. Was das bedeutet, möchte Tom lieber nicht wissen.

Während er die Treppe zur Tiefgarage hinuntereilt, überlegt er, ob er Karo anrufen soll. Aber falls sie noch das Portal bedient, wird sie wohl kaum antworten. Wirkt es in ihren Augen zu aufdringlich, wenn er ihr eine Nachricht hinterlässt?

Abrupt bleibt er auf dem letzten Treppenabsatz stehen und schimpft sich einen Idioten. Er ist gerade im Begriff, sich für mehr als eine Stunde in den schlimmsten Stoßverkehr zu begeben. Da kann ihm niemand verübeln, wenn er vorher einen kurzen Anruf tätigt, um sich zu versichern, das sich die Reise lohnt. Und solange er nicht einmal weiß, ob Karo ernsthaft an ihm interessiert ist, braucht er auch nicht übertrieben auf ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen.

Ungeschickt befreit er das Telefon von dem hastig darum gewickelten Kabel. Heute ist er wirklich ungewohnt schusslig. Nachdem er das Kabel bewusst sorgfältig wieder aufgerollt und weggesteckt hat, wählt er Karos Nummer.

Das Rufzeichen wirkt gedämpft, wie aus weiter Ferne. Aber vermutlich bildet er sich das nur ein. Oder es liegt am schlechten Empfang hier unten. Langsam geht er die Stufen wieder hoch, das Handy ans Ohr gepresst. Gespannt zählt er mit. Sechs, sieben, ... ob sie das Telefon überhaupt dabei hat, wenn sie im Dodekaeder arbeitet? ... Neun, zehn, ... jetzt müsste doch endlich die Ansage der Sprachbox kommen?

Tom drückt sich gegen die Wand, um eine Arbeitskollegin vorbeizulassen, die ihm einen fragenden Blick zuwirft. Tom verzieht den Mund zu einem entschuldigenden Lächeln und zuckt die Schultern. Die Kollegin geht weiter, vermutlich bereits mit den eigenen Plänen für den Abend beschäftigt.
Nach dem zwanzigsten Klingeln unterbricht Tom enttäuscht die Verbindung. Es hilft nichts, wenn er mehr erfahren will, muss er persönlich bei KHT vorbeischauen.

~ ~ ~

Silvio folgt dem Eingeborenen mit vorsichtigen Schritten. Seine rechte Hand hat er in die Tasche das Anoraks gesteckt, wo sie den Griff der Pistole fest umklammert. Eigentlich hat er nicht vor, die Waffe zu benutzen, dennoch vermittelt sie ihm ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit. Der Wilde besitzt schließlich auch einen Bogen und ein langes Messer, das er offen im Gürtel trägt. Silvio fragt sich, woraus die Klinge besteht. Sie sieht nicht aus, wie ein Material, das er kennt. Auf jeden Fall ist das Messer keine Konkurrenz für eine Schusswaffe, und ein Bogen ist viel zu umständlich, um eine echte Gefahr darzustellen. Dieser Gedanke sollte ihn beruhigen, tut es aber nicht.

Der Mann verlangsamt immer wieder seine Schritte und blickt zurück, um auf Silvio zu warten. Ab und zu murmelt er sogar einen kurzen Satz in einer unverständlichen Sprache. Normalerweise fällt es Silvio leicht, zumindest zu erkennen, welcher Sprachfamilie ein Idiom angehört. Aber das hier klingt völlig fremd.

Als der Fremde zum nächsten Mal anhält, bleibt Silvio ebenfalls stehen. Er ist sich bewusst, dass er gerade dabei ist, sich in eine außerordentlich gefährliche Situation zu begeben. Er weiß nicht das geringste über die Eingeborenen hier. Vorzugsweise hätte er sie vor der ersten Kontaktaufnahme zunächst einige Zeit aus der Ferne beobachtet, sich ein Bild gemacht von ihren Bräuchen und Eigenheiten, vielleicht Überwachungskameras installiert. Dass er buchstäblich in diesen Mann hineinlief, war ein Missgeschick. Aber jetzt lässt sich nichts mehr daran ändern, der Kontakt ist etabliert.

Mit der linken Hand wischt Silvio sich den Schweiß von der Stirn. Seine Kleidung ist viel zu schwer für das warme Wetter, im Gegensatz zu derjenigen des Fremden, der mehr oder weniger nur ein um die Hüften geschlungenes Tuch trägt. Er versucht, seiner Stimme einen vertrauenerweckenden Klang zu geben.

„Langsam, wir habe es nicht eilig. Hm. Zumindest ich nicht. Wo gehen wir denn überhaupt hin?"

Der Fremde lauscht seinen Worten aufmerksam und mit leicht schräggelegtem Kopf. Allerdings scheint er nichts zu verstehen. Zumindest besteht seine Antwort aus einer Reihe von unbekannten Silben.

„Kial-ej! Naom she latejo ej."

Der Sprecher mustert Silvio erwartungsvoll. Dieser nimmt sich Zeit, den Einheimischen ebenfalls etwas genauer zu betrachten. Er ist gut einen Kopf kleiner als Silvio, was dazu beiträgt, dass er nicht besonders bedrohlich wirkt, selbst wenn der Mann einige Jahre jünger zu sein scheint. Allerdings ist das schwer abzuschätzen.
Seine knappe Kleidung lässt deutlich die sehnigen und muskulösen Arme erkennen. Vielleicht ist der Mann als Gegner doch nicht zu unterschätzen. Nun, Silvio hat nicht vor, es darauf ankommen zu lassen. Und bisher verlief die Begegnung ausgesprochen friedlich, vielleicht macht er sich völlig unbegründet Sorgen.

Die Haut des Fremden und seine Haare sind verhältnismäßig dunkel, aber Silvo fällt kein passender Vergleich ein. Vielleicht ein Südseeinsulaner? Zumindest lässt sich dieser Mann nicht eindeutig einer bestimmten Region oder Bevölkerung zuweisen. Seine Augen wirken einen Hauch asiatisch, aber...

Silvio schüttelt den Kopf. Dieser Gedankengang ist unsinnig, das hier ist eine neue Welt. Sie hätte auch unbesiedelt sein können, wie er es eigentlich erhoffte. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass die Eingeborenen irgendwelchen seiner persönlichen Vorstellungen und Maßstäben entsprechen. Immerhin sind sie nicht drei Meter groß und mit Reißzähnen ausgestattet.

Diese Vorstellung bringt ihn zum Lächeln, und er entspannt sich etwas. Mit einer Geste bedeutet er dem Fremden, weiterzugehen, bewusst, dass hinter der nächsten Ecke eine neue Überraschung warten kann.

Die Überraschung versteckt sich nicht hinter einer Ecke, sondern im Schatten einer Gruppe von skurril geformten Lavafelsen. Der Pfad führt sie zunächst aufwärts bis zu einer Stelle, wo der Wald zurücktritt und die Sicht hinaus auf das Meer freigibt. Unten in einer Bucht erkennt Silvio die Häuser einer Siedlung. Es sind nicht mehr als zwei Dutzend Dächer, mit Palmwedeln gedeckt, über denen der Rauch von Kochfeuern hängt.

Idyllisch, ist sein erster Gedanke. Und mit dem zweiten beginnt er sich auszumalen, wie er diesen bisher unberührten Ort erfolgreich vermarkten könnte. Bestimmt gibt es ein gut betuchtes Publikum für Reisen in ein neuentdecktes, tropisches Paradies. Unwillkürlich schlägt sein Herz schneller.

Silvio kann förmlich sehen, wie unten in der Bucht ein Hotelkomplex entsteht, geschickt in die Landschaft eingepasst, aber mit allem erdenklichen Luxus des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Ein Pool für die Gäste die dem Meerwasser nicht trauen, Bungalows zwischen Palmen...

Die Stimme seines Begleiters reißt ihn aus seinen Betrachtungen.

„Kial-ej! Eh eshe sio."

Mit einem letzen Blick auf die Bucht reißt Silvio sich los. Er kann seine Baupläne später weiterverfolgen und verfeinern, sobald er einen geeigneten Partner für das Unternehmen findet. Im Moment ist es wichtiger, das Vertrauen seines neuen Bekannten zu gewinnen. Dadurch kann die Entwicklung dieses Ortes viel schneller erfolgen, als wenn sie mit unzufriedenen Eingeborenen konfrontiert werden.

Nur wenige Schritte weiter erreichen sie einen Platz, der sorgfältig vom Unterholz geräumt wurde. Das halbfertige Gerüst eines Hauses aus roh belassenen Holzstämmen nimmt den größten Teil der ebenen Fläche vor einer malerischen Gruppe von schwarzen Basaltfelsen ein.

Über einer Feuerstelle kräuselt sich ein dünner Rauchfaden. Bei den Felsen liegen weitere Bauhölzer aufgestapelt, lange Stangen, wohl für die Dachkonstruktion. Daneben türmt sich ein Haufen von frisch geschnittenen Palmwedeln. Der Platz für das Haus ist gut gewählt, mit einer schönen Aussicht auf die Bucht und hinaus auf das Meer.

Für die große Masse der Touristen wäre der Weg zum Strand zu weit. Aber für jene, die ein abgeschiedenes, ruhiges Plätzchen dem Rummel eines Resorts vorziehen, wäre dieser Flecken ideal. Allerdings müsste die Bauweise etwas weniger primitiv gehalten sein, und einige der großen Bäume müssten gefällt werden, um Platz für einen Pool zu schaffen. Ob es eine Möglichkeit gibt, hier fließendes Wasser herzuleiten? Mit dem Stiefel tritt Silvio ein Stück Erde los. Zumindest der Baugrund wirkt auf den ersten Blick nicht schlecht.

Ein helles Lachen lässt Silvio aufblicken. Mit einem lauten Rascheln schiebt sich ein mächtiges Blätterbündel aus dem Wald auf der gegenüberliegenden Seite des Bauplatzes. Erst nach einem Moment erkennt Silvio die beiden dünnen, braunen Beine, die unten aus dem Grünzeug herausschauen. Ein zweites, noch mächtigeres Bündel von Palmwedeln folgt dem ersten.

Mit einigen unverständlichen Worten in einer hellen Kinderstimme wird das erste Bündel neben dem Hausgerüst abgeworfen. Daraus taucht ein schmächtiger, vielleicht acht- oder zehnjähriger Junge mit zerzaustem schwarzen Haar und einem breiten Grinsen auf. Ohne die Ankömmlinge zu bemerken, wendet er sich seinem Begleiter zu, um ihm beim niedersetzen der Palmzweige zu helfen.
Das gestaltet sich etwas komplizierter, die Blätter rascheln und bewegen sich wild, so dass der Junge zurücktritt und sich lachend die Seiten hält. Dann gelingt es dem Blätterträger endlich, sich von seiner Last zu befreien. Es handelt sich zu Silvios Überraschung um eine Frau, die eine farbige Bluse trägt und sich lachend Blattreste aus den Haaren zupft.

Silvio braucht einen Moment, um sich zu fassen. Diese sonnengebleichte Mähne, das Gesicht mit den großen braunen Augen und der kecken, etwas aufgestülpten Nase... seine Stimme klingt heiser und kratzt in seinem Hals.

„Louisa!"

~ ~ ~

Melanie knallt ihr Handy auf den Schreibtisch. Warum kann Tom nicht einmal beim ersten Versuch, ihn anzurufen, rangehen? Die Sache mit der fehlenden Pistole lässt sie immer noch frösteln. Egal wie sie die Dinge betrachtet, es bleibt ein mulmiges Gefühl. Vielleicht braucht Silvio die Pistole ja nur für den Notfall, falls er Lou aus einer gefährlichen Situation befreien muss oder so. Vielleicht weiß er auch deutlich mehr, als er Tom gegenüber zugab. Zumindest sollte dieser davon erfahren, das Silvio bewaffnet ist.

Inständig hofft sie, dass Tom nicht mit durch das Portal ist. Zutrauen würde sie es ihm, obwohl er ihr versicherte, er werde Silvio den Vorrang lassen. Aber was, wenn nicht? Und was ist, wenn Lous Verschwinden kein Zufall oder Unfall war? Sie reibt sich müde die Augen. Vielleicht bildet sie sich ja alles nur ein, lässt ihrer lebendigen Fantasie zu sehr freien Lauf. Das Leben ist schließlich kein Krimi. Nun, das Leben ist auch kein Science Fiction Roman, und trotzdem fühlt es sich gerade so an.

Entschlossen nimmt sie das Handy wieder auf. Wenn Tom auch jetzt, nach seinem Feierabend, nicht antwortet, bedeutet das, dass er entweder mit durch das Portal ist oder bei KHT in der Werkhalle und damit unerreichbar. In beiden Fällen kann sie nichts unternehmen.
Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf Melanies Gesicht. Obwohl sie Tom nicht erreicht, hindert sie niemand daran, Stefanie Berger zu fragen, ob Kathi heute bei ihr übernachten kann. Diese hat ihr das Angebot bereits mehrfach gemacht, zusammen mit Andeutungen, Melanie sollte wieder mal einen Abend unter die Leute kommen. Nicht dass sie damit gemeint hat, ihrem Chef nachzuspionieren, aber das braucht Stefanie ja nicht zu wissen.
Zudem hat Toms Freund Alfred ihr mehrfach seine Hilfe angeboten.

Sie durchsucht ihre Kontakte. Eigentlich wollte sie die Nummer des Rentners gar nicht speichern, da es ihr seltsam vorkam, jemanden, den sie kaum kennt, in ihre kleine Liste von Freunden aufzunehmen. Aber jetzt ist sie froh, dass sie es tat. Melanie zögert nur einen kurzen Moment, bevor sie Alfreds Nummer wählt.

„Alfred? Hier ist Melanie Hofmann. Ich habe ein Problem. Besitzt du einen Wagen?"

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