24 - Rückkehr

Silvio wartet ungeduldig auf den Nebel, der die Öffnung des Portals ankünden sollte. Immer wieder sieht er sich um, den Rücken gegen den sonnenwarmen Felsen neben dem Höhleneingang gepresst. Obwohl er hierher kam, um Louisa zu suchen, jagten ihm die Spuren im Sand einen gewaltigen Schreck ein. Zugegebenermaßen hatte er nicht wirklich damit gerechnet, hier etwas — oder jemanden — anzutreffen.

Die Abdrücke von nackten Füßen, die in eine düstere Höhle hinein- und wieder hinausführten, wirkten frisch und waren auch für einen ungeübten Spurenleser wie ihn deutlich zu erkennen, so also ob hier vor wenigen Stunden jemand vorbeigekommen wäre. Gegen das Meer hin hatten die Wellen sie verwischt, aber außerhalb der Brandungslinie behielt der nasse Sand die Spuren, und sie stammten eindeutig von zwei oder mehreren Personen. Sie können also nicht nur von Louisa sein.

Silvio verzichtete darauf, sich in der Höhle umzusehen. Das Risiko, von jemandem in dem beengten Raum überrascht zu werden, scheint ihm zu gewagt. Louisas ursprüngliche Theorie, dass diese Welt von Menschen bewohnt sei, bewahrheitet sich also. Eigentlich hatte er sich ein Tor in eine unbewohnte Dimension oder Parallelwelt gewünscht. Nun, vielleicht lässt sich daraus trotzdem etwas machen. Aber nicht heute. Er hat keine Lust, sich mit Eingeborenen auseinanderzusetzen, deren Sprache er nicht spricht und die vielleicht nicht einmal ganz menschlich sind. Das ist definitiv mehr Lous Steckenpferd. Nein, er wird die Suche für heute sein lassen und ein anderes Mal besser ausgerüstet zurückkommen. Silvio hat nicht vor, sich wie Kapitän Cook von Wilden erschlagen zu lassen, womöglich sogar von Kannibalen.

Endlich bildet sich über dem Sand direkt vor der Höhle der ersehnte blaue Nebel. Silvio tritt einige Meter zurück, damit er nicht vorzeitig von dem Strudel erfasst wird. Rasch breitet sich die Erscheinung aus und beginnt sich zu verfärben. Bereits sind die ersten Wibel zu erkennen, wie zuvor in der Kammer des Dodekaeders. Hier draußen in der freien Natur wirkt das Schauspiel noch unwirklicher.

Aber Silvio ist nicht in der Stimmung, es zu genießen. Ungeduldig wartet er darauf, dass sich das Portal öffnet. Da fällt ihm ein, dass er wenigstens einen Beweis für seine Entdeckung mitbringen sollte. Rasch holt er das Handy aus seiner Gesäßtasche und nimmt ein paar Fotos der Spuren und des Höhleneingangs auf. Ein Glück, dass er es vorhin vermieden hat, die Fußabdrücke zu verwischen. Immer wieder blickt er zu den wirbelnden Nebelfetzen hinüber, die nun um eine feste Achse kreisen. Bald ist es soweit. Deutlich ist jetzt ist der zentrale Wirbel zu erkennen, in dem sich gleich das Portal öffnen wird.

Silvio verstaut das Mobiltelefon und umfasst mit der Hand den Kristall, der ihm den Heimweg weisen soll. Da ist er, der glühende Tunnel, der ihn nach Hause bringen wird. Noch einmal schaut er sich um und holt tief Atem, bevor er sich dem Portal ein zweites Mal anvertraut.

Sobald er den Tunnel betritt, verblasst die Welt hinter ihm. Ringsum gibt es nur noch die wirbelnden Farben, die ein beängstigendes Gefühl der Orientierungslosigkeit vermitteln. Es kostet Silvio Mühe, zielstrebig einen Schritt vor den anderen zu setzen und sich durch die farbige Masse voranzukämpfen. Boden und Wände des Tunnels befinden sich in ständiger Bewegung und fühlen sich an wie Watte oder ein weiches Polstermaterial, in das seine Füße einsinken. Die wirbelnde Drehung lässt ihn immer wieder torkeln und mit ausgestreckten Händen nach Halt suchen, den ihm der unwirkliche Tunnel nicht geben kann.

Zum Glück weiß Silvio, dass es sich nur um Illusionen handelt. Verbissen setzt er einen Fuß vor den anderen. Allmählich wird das Vorankommen einfacher. Je tiefer er in den Schlund vordringt, desto fester wirkt die Substanz und desto langsamer die scheinbare Drehung. Mit knirschenden Zähnen und halbgeschossenen Augen setzt er einen Fuß vor den anderen, bis er den Scheitelpunkt des Portals erreicht.. Hier verfestigt sich die Realität und seine Schritte hallen plötzlich auf einem harten, glasartigen Material, das in blauem Licht schimmert. Dieses geht von einem faustgroßen Kristall aus, der im Zentrum des Tunnels schwebt und um den sich das ganze Gebilde dreht. Sein Anblick löst in Silvio einen neuen Schub der Übelkeit aus. Rasch duckt er sich an dem Kristall vorbei und setzt seinen Weg fort.

Der zweite Abschnitt des Wegs ist leichter zu bewältigen. Obwohl die Substanz der Tunnelwände nun wieder weicher wird, kann Silvio bereits sein Ziel erahnen, ein ruhiger Pol von blauem Licht in der sich drehenden Glut. Noch einige Dutzend hart erkämpfte Schritte, und er torkelt hinaus in die Portalkammer, die er vor einer Stunde verlassen hat.

Erschöpft stützt Silvio die Hände auf die Knie und versucht, zu Atem zu kommen. Der Hinweg kostete ihn weit weniger Mühe als die Rückkehr. Dankbar nimmt er einen Becher mit kaltem Wasser an, den Karo ihm hinhält. Ein Blick über die Schulter zeigt ihm, dass sich das Portal bereits hinter ihm geschlossen hat. Die letzten Spuren des blauen Nebels lösen sich gerade auf und die Kammer wirkt wieder leer.

„Das war vielleicht ein Trip. An dem Portal müssen wir noch arbeiten, die Durchquerung kostet zu viel Energie."

„Lou meinte, es werde mit der Zeit einfacher."

Karo nimmt den leeren Becher entgegen und deutet auf einen Stuhl, den sie vorsorglich bereitgestellt haben muss. Tom starrt sie entgeistert an.

„Heißt das, dass Lou mehrmals durch das Portal ist?"

„Ja, dreimal kurz, und dann, beim vierten Mal ist es passiert. Das Portal ist sicher, auch wenn es dir nicht so vorkommt. Nur das Erdbeben war nicht vorhersehbar."

Silvio kann leicht erkennen, dass Tom nicht gleicher Meinung ist. Aber Lous Bruder geht nicht auf Karos Aussage ein, sondern wendet sich direkt an Silvio.

„Und, hast du etwas von ihr gesehen? Irgendeine Spur?"

Umständlich kramt Silvio sein Telefon hervor. Die Kamera-App ist noch geöffnet. Er sucht nach dem Bild mit den Fußspuren.

„Hier, das sind Spuren, die ich gefunden habe. Es gibt tatsächlich Menschen da drüben."

„Und Lou?"

„Keine Ahnung. Sie hat auf jeden Fall nicht am Portal auf mich gewartet. Wir werden überlegen müssen, wie wir vorgehen wollen. Wir wissen nicht, von wem die Spuren stammen."

Tom streckt verlangend die Hand aus.

„Gib mir den Kristall, ich gehe meine Schwester suchen."

Silvio ist froh, dass Karo seinem Gegenüber beschwichtigend eine Hand auf den Arm legt.

„Hör zu, wir können den Dodo nicht ein drittes Mal in so kurzer Zeit hochfahren. Wir müssen mindestens zwei Tage warten, damit die Kristallstruktur sich regenerieren kann. Das lässt uns Zeit genug, die nächste Passage sorgfältig zu planen."

~ ~ ~

Prüfend klopft Jalai den Stamm eines kräftigen Baums ab und nickt. Naom schwingt die Axt, gefasst auf den harten Aufschlag. Sie sind seit den frühen Morgenstunden dabei, geeignete Stämme für das Grundgerüst des geplanten Hauses zu finden und zu fällen. Zufrieden betrachtet sie die Kerbe, die ihr Axtschlag hinterlassen hat. Inzwischen weiß sie, wie sie mit dem Werkzeug umgehen muss. Wenige Schritte hinter ihr entfernt Naliq die Äste von einem bereits gefällten Baum.

Obwohl Jalai behauptet, er sei zu alt und verstehe nichts von der Sache, ist er den beiden zukünftigen Hausbauern eine große Hilfe. Zum einen besitzt er eine Axt mit einer schweren Klinge aus einem glasartigen Stein, die sich zum Fällen von Bäumen eignet. Zudem kann er den beiden willigen, aber ungeübten Zimmerleuten beibringen, welches Holz sich für den Bau eignet. Das Haus soll ja nicht gleich von Termiten befallen werden oder im ersten Regenguss vermodern.

Die gefällten und entasteten Stämme durch den dichten Wald zum Bauplatz zu bringen, ist eine Herausforderung. Deshalb suchen sie sich Bäume aus, die möglichst nahe am Wasser stehen. Sie mit dem Boot an den Fuß der Klippe zu bringen, ist einfach. Mithilfe eines Seils gelingt es auch, sie auf den Bauplatz hochzuziehen. Mitte Nachmittag liegen dann die zehn Stämme für das Grundgerüst eines einfachen Hauses am Bauplatz.

Naom hat längst eingesehen, dass aus ihrer Traumvilla mit einer Veranda und einem gemütlichen Schaukelstuhl im Moment nichts wird. Wenn sie noch vor dem Einsetzen der Regenzeit einziehen wollen, müssen sie sich mit einem einfacheren Bau begnügen. Sie orientieren sich deshalb an Jalais Haus. Hauptsache ist, dass es ein dichtes Dach bekommt und den kommenden Stürmen standhält.

Das Eingraben und Verankern der Hauspfosten braucht Zeit. Zunächst markieren sie die Standorte mit einigen großen Steinen, die sie anschließend gleich zum Verkeilen der Pfosten in ihren Verankerungsgruben verwenden wollen. Zum Glück liegen genügend geeignete Steine bereits bei Naliqs altem Lager bereit.

Die Sonne steht bereits tief über dem Horizont und Jalai hat sich längst zurückgezogen, als Naliq und Naom versuchsweise eine Grube ausheben und den ersten Eckpfosten aufrichten. Sie sind beide so auf ihr Unterfangen konzentriert, dass sie den Beobachter am Waldrand gar nicht bemerken.

Naliq hält den Pfosten in seiner Grube aufrecht, während Naom versucht, ihn mit Steinbrocken zu stabilisieren. Während sie mit einer Hand noch den soeben eingesetzten Stein festhält, greift sie nach einem weiteren, um den ersten zu stützen. Aber alle Brocken in ihrer Reichweite sind zu klein. Sie blickt zu Naliq hoch.

„Gut festhalten. Ich brauche einen größeren Stein."

Der Junge nickt und lehnt sein Gewicht gegen den Pfosten, um ihn am Umfallen zu hindern. Im Knien lässt Naom den Blick über ihre Steinsammlung gleiten, als zwei sehnige Hände ihr von der Seite her einen Felsbrocken reichen. Sie springt sie auf, von dem unerwarteten Besucher zu Tode erschreckt. Überrascht blickt sie in das vertraute Gesicht Salejs.

„So wird das Haus nie fertig."

Naom weiß nicht, ob sie auf den Jäger sauer sein soll, weil er sich angeschlichen hat, oder ob sie ihm den Stein abnehmen soll, den er ihr immer noch hinhält wie ein Friedensangebot. Schließlich überzeugt sie das fröhliche zucken seiner Mundwinkel, den Stein anzunehmen. Er ist schwerer, als sie dachte und sie lässt ihn mit einem überraschten Aufschrei zu Boden fallen. Immerhin gelingt es ihr, rechtzeitig ihren Fuß wegzuziehen. Trotzdem verwandelt sich Salejs angedeutetes Lächeln in ein ausgewachsenes Grinsen.

Ärgerlich verzieht Naom den Mund und sucht nach einer bissigen Bemerkung, als sich der Jäger kommentarlos bückt und den Stein wieder aufnimmt. Mit einem Nicken bedeutet er ihr, ihm beim Einsetzen zu helfen. Sie zögert nur einen Moment, denn das Angebot Salejs scheint aufrichtig gemeint zu sein. Gemeinsam setzen sie den Stein in die Grube. Er passt beinahe perfekt und Naom schiebt rasch zwei weitere, kleinere nach, so dass der Pfosten schließlich gut verkeilt ist und Naliq ihn loslassen kann.

Während die letzten Sonnenstrahlen ihr goldenes Licht über die Bucht senden, füllen sie zu dritt die ausgehobene Erde wieder in die Grube und treten sie fest. Versuchsweise rüttelt Salej an dem Pfosten. Er bewegt sich nicht und Naom ist überzeugt, dass sie über den Erfolg beinahe genauso strahlt wie ihr junger Freund. Salej macht eine einladende Geste.

„Jalai sagt, das Essen sei bei Sonnenuntergang bereit. Wir sollten ihn nicht warten lassen. Morgen ist ein guter Tag, um weiterzubauen."

Naom muss zugeben, dass sie bisher gar nicht an Verpflegung dachte. Aber schon nur der Gedanke an eine Mahlzeit lässt ihren Magen laut knurren. Naliq geht es nicht besser und sie beeilt sich, ihm beim wegräumen der Werkzeuge zu helfen. Salej nimmt seinen Bogen auf und noch immer ist sein gewohnt mürrischer Ausdruck nicht auf sein Gesicht zurückgekehrt.

Während sie dem Jungen zurück zum Haus des Heilers folgt, wundert sich Naom, was wohl der Grund für die ungewohnt gute Laune des Jägers ist. Aber sie wagt nicht, ihn danach zu fragen. Dennoch gesteht sie sich ein, dass mit Salej ihre Zuversicht zurückgekehrt ist. Der bevorstehende Hausbau scheint ihr auf einmal mehr wie ein spannendes Abenteuer als wie ein hoffnungsloses Unterfangen.

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