22 - Ins Portal

In der Nacht nach der Abreise der Jäger schläft Naom unruhig. Immer wieder erwacht sie und lauscht auf die ruhigen Atemzüge Naliqs, der in der Hängematte neben der ihren friedlich schlummert. Zumindest er kennt keine Schlafprobleme. Es hat bestimmt Vorteile, so jung und unbeschwert zu sein. Sie wünscht sich eine vergleichbare Sorglosigkeit und fühlt sich dem Jungen gleichzeitig verbunden.
Wie sie hat er keinen festen Platz in dieser Gesellschaft. Wie sie besitzt er kaum etwas, außer den Kleidern, die er auf dem Leib trägt. Ganz anders als sie ist er aber mit seinem Schicksal weitgehend zufrieden. So abwegig dies sein mag, sie beneidet ihn um seine Vergangenheit, so düster sie auch sein mag, um das unverrückbare Wissen, dass seine Verwandten tot sind und er auf sich allein gestellt ist.

Umständlich klaubt Naom den Kristall aus dem kleinen Beutel, den sie um den Hals trägt. Er leuchtet bläulich im schwachen Licht des untergehenden Mondes, das in die offene Hütte dringt. Naliq half ihr, den Beutel aus Pflanzenfasern zu knüpfen. Sie lächelt in Erinnerung an seine behenden Finger und seine gespielte Verzweiflung, als sie sich zu Beginn ungeschickt anstellte. Das Endprodukt ist kein Kunstwerk. Aber es erfüllt seinen Zweck und sie weiß nun, wie sowas gemacht wird. Jede neue Fertigkeit, die sie hier lernt, wird ihr vielleicht in der Zukunft zu Gute kommen.

Die Flächen des Kristalls fühlen sich kühl an, und sie lässt nachdenklich ihre Finger den Kanten entlang gleiten. Der Stein ist ein Stück ihrer Vergangenheit, da ist sie sich sicher. Aber ein einzelnes Puzzleteil reicht nicht aus, um das ganze Bild zu rekonstruieren. Trotzdem ist es beruhigend, den Kristall zu berühren. Sie umschließt ihn mit der Hand, dreht sich zur Seite und findet endlich den ersehnten Schlaf.

Naom erwacht als Naliq ihre Schulter berührt. Sie braucht einen Moment, um aus ihrer verworrenen Traumwelt in die Wirklichkeit zurückzufinden. Der Junge bleibt neben ihrer Hängematte stehen, bis sie sich aufrappelt. Der Grund für das ungewohnte Verhalten wird sofort klar, als sie Sonem auf dem Platz vor dem Haus warten sieht. Immerhin ist dies eine Besucherin, vor der sie keine Angst empfindet. Sie zieht ihr ausgeblichenes und inzwischen zerrissenes T-shirt zurecht, einmal mehr daran erinnert, dass sie dringend neue Kleider benötigt.

Aber sie kann einen hohen Gast wegen solcher Kleinigkeiten nicht warten lassen. Deshalb tritt sie so selbstbewusst wie möglich vor das Haus, um die Besucherin formell zu begrüßen und hereinzubitten. Sonem nimmt die Einladung lächelnd an.

Naliq ist bereits unterwegs, um frisches Wasser zu holen, und bald flackert ein kleines Feuer in der mit Steinen umringten Herdstelle. Geduldig wartet Sonem, bis der Tee bereit ist. Naom schließt daraus, dass ein wichtiges Geschäft sie herführt. Immerhin ist Naliq nicht im Wald verschwunden, was sie ihm hoch anrechnet. Die ängstlichen Blicke, die er der Besucherin zuwirft, entgehen ihr aber nicht. Der Junge nimmt die Aufgabe, ihr zur Seite zu stehen, wirklich sehr ernst.

Endlich kocht das Wasser und Naom gießt es vorsichtig über die in drei Schalen vorbereiteten Blätter. Sie sind frisch, erst gestern gepflückt. Dass sie zum finden der geeigneten Pflanzen nicht mehr auf Hilfe angewiesen ist, erfüllt sie mit einem gewissen Stolz. Sofort breitet sich ein würziger Duft in der Hütte aus. Sonem nimmt ihre Schale mit einem anerkennenden Nicken entgegen. Erst als sie von dem Gebräu gekostet hat, richtet sie das Wort an Naom und Naliq.

„Jalai kommt bald zurück. Im Dorf gibt es Stimmen, die sagen, er verliere seine Heilkraft, wenn sein Haus unrein ist."

Naom runzelt die Stirn. Obwohl sie die Worte versteht, erschließt sich ihr Sinn nicht sogleich. Dass Jalai zurückkehrt, ist gut, aber der Rest... Naliq scheint schneller begriffen zu haben. Sein sonst so fröhliches Gesicht nimmt einen verschlossenen Ausdruck an, der Mund zugekniffen und die Augen schmal. Sonem hebt beschwichtigend die Hand.

„Ich weiß, dass ihr gut auf Jalais Besitz aufpasst. Aber es ist besser, wenn ihr auszieht, sobald er zurück ist."

Naom nickt. Sie hätte das kommen sehen sollen. Vielleicht war das der Grund für Manaqs Aggressivität. Allerdings versteht sie nicht, weshalb Sonem gerade jetzt diese Forderung stellt. Sie ist nun schon so lange hier, warum löste ihre Anwesenheit nicht schon vor Wochen Unmut aus?

„Weshalb... jetzt?"

Sonem versteht ihre Frage auch ohne Präzisierung. Vorsichtig nimmt sie einen Schluck von dem heißen Tee und sieht Naom gerade in die Augen.

„Deine Hand ist geheilt, du bist wieder gesund. Es gehört sich nicht, dass jemand so lange im Haus des Heilers wohnt. Ihr solltet ein Haus bauen, im Dorf oder anderswo."

Nun, gerade gestern sprachen sie über Hausbau. Aber heute, vor diesem neuen Hintergrund, hat das Unterfangen den Reiz des Spielerischen verloren. Sie will gerade ihre Bedenken äußern, als Naliq ihr mit leuchtenden Augen zuvorkommt.

„Wir werden unser Haus auf der Klippe bauen. Es ist ein guter Platz. Sogar Salej sagt das."

„Dann solltet ihr das tun. Salej weiß, was er sagt."

Naom hat das unangenehme Gefühl, dass dies damit beschlossene Sache ist. Niemand scheint daran zu zweifeln, dass dieser schmächtige Junge und sie in der Lage sind, ein Haus zu bauen. Nun, zumindest ist es eine Herausforderung, die sie von ihren verlorenen Erinnerungen ablenken wird, und zwar gründlich.

Sonem trinkt ihre Schale leer und setzt sie am Boden ab, das Zeichen, dass sie gehen will.
Naom bleibt nur, ebenfalls aufzustehen. Mit einem beinahe verschmitzten, wissenden Lächeln überreicht ihr Sonem ein Bündel. Sie weiß nicht, was sie damit anfangen soll. Ist das ein Geschenk? Etwas für Jalai? Zögernd wirft sie einen Blick auf Naliq. Aber der Junge ist damit beschäftigt, sein eigenes, kleineres, in ein Blatt eingeschlagenes Paket zu öffnen. Es enthält eine fest gedrehte Schnur, die Naom nach den Erfahrungen der letzten Tagen unschwer als Bogensehne erkennt.

„Es ist Zeit, dass du ein Jäger wirst, Naliq."

Die freundlichen Worte Sonems lassen den Jungen übers ganze Gesicht strahlen. Mit einer ungeduldigen Geste bedeute er Naom, ihr Bündel ebenfalls zu öffnen. Sie versichert sich mit einem Blick zu Sonem, dass dies das richtige Vorgehen ist, bevor das Tuch auffaltet.

Staunend betrachtet sie die farbenprächtige Bluse, die sie in der Hand hält. Nun, das ist ein würdiger Ersatz für ihr zerschlissenes T-shirt. Als sie das Kleidungsstück ausbreiten will, fällt beinahe ein kleinerer, schwerer Gegenstand zu Boden. Es gelingt ihr gerade noch, das Messer aufzufangen. Überrascht spürt sie das Gewicht in der Hand und fährt mit dem Daumen über die goldglänzende, scharfe Metallklinge. Sie kann nur ahnen, wie kostbar dieses Geschenk ist.

~ ~ ~

Es ist Samstagmittag, Melanie schließt die Tür zum Reisebüro ab und verstaut den Schlüssel in ihrer Handtasche. Endlich Feierabend! Eigentlich hätte Silvio den Samstagmorgen übernehmen sollen, aber heute hatte er kurzfristig etwas anderes vor. Melanie hasst es, Kathi auch samstags der Tagesmutter anzuvertrauen, aber zum Glück ist Frau Berger flexibel und die Kleine beklagt sich nicht. Trotzdem hat sie ein schlechtes Gewissen und fühlt sich einmal mehr als unzulängliche Mutter.

Sie versichert sich noch einmal, dass die Tür wirklich verschlossen ist und macht sich auf den Heimweg. Schon nach wenigen Schritten wird sie von einem Unbekannten angesprochen, der auf dem Gehsteig wartet. Der ältere Mann hat kurzes, silbergraues Haar und trägt eine randlose Brille.

„Entschuldigen sie, sind sie Melanie Hofmann?"

Trotz des freundlichen Lächelns weicht Melanie einen Schritt zurück, sicher, dass sie diesen Mann noch nie gesehen hat. Er hebt beschwichtigend eine Hand.

„Entschuldigen sie, ich wollte sie nicht erschrecken. Tom Walter hat mir erzählt, dass sie hier arbeiten. Ich wollte nicht ins Geschäft kommen weil... Haben sie einen Moment Zeit?"

„Nicht wirklich. Um was geht es?"

Trotz der Erwähnung von Toms Namen ist sie immer noch misstrauisch. Das ist ihrer Stimme bestimmt anzuhören. Zumindest verzieht der Unbekannte den Mund, als ob er etwas Saures gekostet hätte.

„Tut mir wirklich leid, dass ich sie überfalle. Erlauben sie mir bitte eine Frage. Wieviel hat ihnen Tom über dieses Portal erzählt?"

Melanie holt tief Luft. Tom warnte sie, dass die Leute von KHTravel möglicherweise weit gehen würden, um ihr Geheimnis zu hüten. Deshalb zögerte er, mit der Sprache herauszurücken und sie voll ins Vertrauen zu ziehen.

„Hören sie, ich habe keine Ahnung, um was es da geht. Tom ist ein Freund, nicht mehr. Ich muss jetzt los..."

„Warten sie, sie verstehen mich falsch. Ich habe mit dieser Gesellschaft nichts zu tun. Aber ich fürchte, dass Tom sich in Gefahr begibt."

Melanie, bereits im Davongehen, bleibt stehen und dreht sich langsam um. Der Fremde streckt in einer altertümlich wirkenden Geste eine Hand aus. Zögernd ergreift Melanie sie. Der Händedruck ist fest und warm, weckt Vertrauen.

„Mein Name ist Alfred Moser, ein Freund von Tom. Ich bin mir nicht sicher, ob er ihnen die ganze Wahrheit erzählte, obwohl ich ihm dazu geraten habe."

Nun ist Melanies Neugier geweckt. Tom berichtete ihr am letzten Sonntag von Alfred, und wie sie sich kennenlernten. Ihr Misstrauen ist vergessen.

„Hören sie, ich möchte meine Tochter abholen. Können wir unterwegs sprechen? Tom schien mir zuletzt wirklich etwas geheimniskrämerisch. Was hat er vor?"

Im Gehen wirft ihr der Rentner von der Seite her einen Blick zu.

„Er will das Portal benutzen, um Louisa zu suchen."

„Was? Das ist gefährlich! Was ist, wenn er ebenfalls nicht zurückkehrt? Wann?"

„Heute Nachmittag. Von mir ließ er sich nicht davon abbringen. Vielleicht haben sie bessere Chancen. Ich glaube, er mag sie."

Melanie bleibt stehen, um in ihrer Tasche nach dem Handy zu suchen. Ob es stimmt, das Tom sie mag? Manchmal hat sie das Gefühl, dass ja. Und dann wieder zweifelt sie daran, dass er sie überhaupt wahrnimmt. Aber was ist mit ihr? Wie weit ist sie bereit, für ihn zu gehen?

~ ~ ~

Silvio betrachtet den Kristall, bevor er ihn in die Tasche seines leichten Anoraks steckt und sich vergewissert, dass der Reißverschluss ganz geschlossen ist. Er setzt ein unternehmungslustiges Lächeln auf, was ihm gelingt ohne wie eine Grimasse zu wirken, und bläst Karo, die am Fenster des Kontrollraums steht, einen Kuss zu. Sie schüttelt grinsend den Kopf und bedeutet ihm, loszugehen. Die Gesichter von Tom und Pascal neben ihr wirken angespannt. Silvio ist nicht sicher, ob sich darin Besorgnis spiegelt oder nur die Erwartung des bevorstehenden Spektakels.

Er gibt Karo ein Handzeichen, Daumen und Zeigefinger zu einem O gekrümmt, die übrigen Finger gestreckt. Das bedeutet „okay" oder „alles in Ordnung" unter Tauchern. Karo nickt und betätigt den Schalter, der das Portal in Betrieb setzt.

Silvio dreht sich um und betrachtet den kleinen Dodekaeder, der wenige Meter vor ihm das Zentrum der größeren Konstruktion einnimmt. Seine Seiten sind nur jeweils eineinhalb Meter lang und der Raum im Zentrum ist nicht größer als seine Küche. Allerdings besitzt dieser Raum wesentlich mehr Potential als jeder andere, den er jemals betreten hat.

Nun beginnen die Metallstäbe, welche die Kanten bilden, blau zu glühen. Ein Vibrieren und ein tiefes Summen laufen durch die Metallkonstruktion, und die Luft im Innenraum beginnt zu wabbeln und wird undurchsichtig. Einen Moment lang wirkt es, also ob der geometrische Körper mit kompaktem, indigoblauem Nebel gefüllt wäre. Dann wird die blaue Substanz fleckig, verfärbt sich zunächst violett und purpurn, bildet kleine Wirbel die sich zu größeren vereinigen. Das Farbspiel wechselt und wird intensiver bis Rot- und Orangetöne dominieren und einen einzigen. zentralen Wirbel im Innenraum bilden. Dieser wächst, gewinnt Tiefe, zieht Silvios Blick wie magisch an. Und dann wirkt er auf einmal wie ein langer, sich ständig drehender Tunnel.

Silvio klopft auf die Tasche, welche den Kristall enthält. Der Schlüssel erlaubt es ihm, das Portal zu durchqueren und in die Welt einzudringen, die Louisa verschluckt hat. Er holt tief Atem und macht einen Schritt vorwärts, hinein in den farbigen, wirbelnden Tunnel.

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