21 - Naliqs Haus

Von der unheimlichen und trostlosen Höhle am Strand klettern sie zurück auf die Klippe. Inzwischen hat es zu regnen begonnen, und der Pfad ist glitschig. Trotzdem hält Naom den fingerlangen Kristall fest umschlossen in ihrer Faust. Sie erinnert sch mit Gewissheit, diesen Stein schon einmal gesehen zu haben. Aber trotz aller Anstrengung fällt ihr nicht ein, wo und unter welchen Umständen. Dennoch ist sie fest überzeugt, dass er wichtig ist, wichtig für sie persönlich. Deshalb ist sie nicht bereit, ihn der Unsicherheit ihrer Hosentaschen anzuvertrauen. Diese zeigen inzwischen deutliche Spuren des Lebens im Freien, insbesondere in Form von größer werdenden Löchern in dem verblichenen Stoff.

Vom Klippenrand ist es nicht weit bis zu Naliqs Lager. Einige große Felsblöcke schützen es gegen den Wind, aber ansonsten ist es nicht viel mehr als ein Platz unter einem großen Baum, den der Junge von Unterholz befreite. Ein behelfsmäßiges Dach aus Palmblättern, gestützt von zwei gegen die Felsen verkeilten Pfosten, schützt einen knapp bemessenen Schlafplatz vor den häufigen Regengüssen.
Neben einer kleinen Feuerstelle steht ein Topf mit abgesplittertem Rand, wohl ein Gefäß, das der Vorbesitzer nicht mehr für brauchbar hielt. Neben einigen Schüsseln aus Kokosnussschalen ist es der einzige Besitz, den Naliq sein eigen nennt.

Das beste an dem Platz ist die Aussicht gegen Westen, über die Klippe hinaus aufs Meer. Auch die Bucht mit dem Boot, das Dach von Jalais Haus und ein Abschnitt des Wegs ins Dorf sind von hier aus zu sehen. Naom versteht nun, weshalb der Junge immer genau weiß, wann es günstig ist, bei dem alten Heiler vorbeizukommen. Oder wann er besser fernbleibt, weil Besuch da ist. Sie nickt anerkennend.

„Ein schöner Ort."

Naliq strahlt übers ganze Gesicht. Es ist immer wieder überraschend, wie wenig es braucht, um den Jungen glücklich zu machen. Mit einer ausladenden Geste deutet er auf den offenen Platz.

„Hier werde ich ein richtiges Haus bauen. Es ist ein guter Platz. Die Felsen halten den Sturm ab und Wasser gibt es da hinten."

Wenn er so dasteht, neben seinem ärmlichen Lager, und mit leuchtenden Augen sein zukünftiges Haus beschreibt, kann Naom nicht umhin, die unverwüstliche Zuversicht da Waisenjungen zu bewundern. Aber in diesem Punkt muss sie ihm recht geben, der Platz ist wirklich schön und bestimmt gibt es hier oben weniger Mücken als unten bei Jalais Hütte. Sie lässt sich von Naliqs Begeisterung mitreißen und zusammen entwerfen sie den Plan für ein großzügiges Gebäude. Sie versucht gerade, dem Jungen das Konzept einer Veranda zu erklären, als ein leises Lachen sie aufblicken lässt.

Am Rand der Lichtun, unter einem Baum mit tiefhängenden Ästen, stehen Haqaj und Salej und beobachten die beiden. Naom fühlt sich ertappt und verschränkt die Arme vor der Brust. Den Speer fest in der Hand stellt sich Naliq neben sie.

„Was wollt ihr hier? Das ist mein Haus."

Beschwichtigend hebt Haqaj die offene Hand auf Nabelhöhe. Die Geste ist Naom immer noch fremd, wird hier aber oft verwendet um eine freundliche Absicht zu vermitteln. Der Jäger tritt einige Schritte vor und sieht sich neugierig um. Aber er geht nicht weiter auf Naliqs ausgeklügelte Baupläne ein.

„Ich komme, um mich zu verabschieden. Es ist Zeit, weiterzuziehen."

Enttäuschung flutet wie eine kalte Welle Naoms Empfinden. Sie schilt sich eine Närrin, heimlich gehofft zu haben, Haqaj könnte im Dorf bleiben. Aber sie weiß, dass es keinen Sinn hat, sich gegen die Entscheidung des Jägers zu sträuben. Sie versteht die Regeln dieser Gesellschaft immer noch nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob es eine andere Option für ihn gäbe. Trotzdem schmerzt es, jemanden zu verlieren, den sie in den vergangenen Tagen als Freund schätzen lernte.
Haqaj überbrückt die unangenehme Stille, indem er mit raschen Schritten näher tritt und zuerst Naom, dann Naliq kurz umarmt. Für einen Moment atmet Naom seinen Geruch nach Feuer und Schweiß ein, dann ist er schon wieder zurückgetreten und rückt sich den Köcher mit Pfeilen auf der Schulter zurecht, bevor er sich mit einem freundlichen Lächeln abwendet.

Salej, mit dem gewohnt finsteren Gesichtsausdruck, nickt kurz und macht sich bereit, dem anderen Jäger zu folgen. Eine neue Welle der Besorgnis lässt Naom das Wort ergreifen.

„Salej. Gehst du auch?"

Überrascht bleibt der Jäger stehen und wendet sich langsam um. Für einmal wirkt sein Gesicht entspannt, beinahe freundlich.

„Ich begleite Haqaj nach Kahaja. Dann komme ich zurück."

Unglücklicherweise hat Naom keine Ahnung, was Kahaja ist und wie weit entfernt es liegt. Aber ihr fehlen sowohl der Mut wie die Worte, um weitere Fragen zu stellen. Besorgt fragt sie sich, was passieren wird, wenn weder Salej noch Haqaj den Heißsporn Manaq von weitern unbesonnen Taten abhalten. Etwa hilflos nickt sie deshalb und sieht den beiden Jägern nach, die leichtfüßig den Pfad zurück in den Wald nehmen. Wenn nur Jalai heimkehren würde!
Zu ihrem Erstaunen ist es Salej, der noch einmal über die Schulter zurückblickt. Diesmal glaubt sie, auf seinen Lippen ein Lächeln zu erkennen.

„Das ist ein sehr guter Platz für euer Haus."

~ ~ ~

Als Tom am Samstagmorgen eine halbe Stunde zu früh auf dem Parkplatz bei KHTravel vorfährt, erkennt er überrascht Silvios silbernen Wagen. Enttäuscht starrt er das sportliche Fahrzeug an und schimpft sich einen Narren. Er hätte wissen müssen, dass der Reisebüroinhaber für die Portalöffnung ebenfalls aufgeboten wird.

Aus seinem Privattreffen mit Karo wird dann wohl nichts. Nun, da lässt sich nichts machen, schließlich ist der Zweck dieses Besuchs in erster Linie, nach seiner Schwester zu suchen. Vergnügen kann er sich auch später. Und ob Karo an mehr interessiert ist, ist schwierig abzuschätzen.
Er schließt den Wagen ab, wirft sich die Jacke über die Schulter und drückt auf die Klingel beim Eingang. Wenige Momente später öffnet Pascal ihm die Tür. Offensichtlich haben sich heute alle am Projekt beteiligten Personen hier versammelt.

„Herr Walter. Karo hat mich informiert, dass sie heute auch dabei sein möchten."

Tom glaubt, in der Stimme des Geschäftsleiters einen leisen Vorwurf zu hören. Aber er beschließt, nicht darauf einzugehen. Betont freundlich begrüßt er sein Gegenüber und bedankt sich für die großzügige Hilfe bei der Suche nach seiner Schwester. Dadurch entspannt sich Dubois' Haltung merklich und während sie das Werkgelände überqueren, entwickelt sich sogar ein belangloses Gespräch.

Als sie die Werkhalle betreten, bleibt Tom überrascht stehen. Die gesamte Struktur des mächtigen Dodekaeders ist in ein blasses, blaues Licht getaucht. Eine tiefes, nicht unangenehmes Summen liegt in der Luft. Die Atmosphäre in der Halle scheint spannungsgeladen. Er nimmt das spöttische Lächeln seines Begleiters mit Humor zur Kenntnis.

„Ziemlich beeindruckendes Spektakel, wenn man es zum ersten Mal sieht."

„Ja, das ist bestimmt der Fall. Man gewöhnt sich daran. Kommen sie, die anderen sind schon oben."

Dubois lässt Tom den Vortritt und er steigt zügig die Stufen hinauf zum Steuerungszentrum des Dodekaeders. Silvio und Karo schauen von einem Bildschirm auf, als er den blau erleuchteten Raum betritt. Die Wissenschaftlerin hat ein strahlendes Lächeln für ihn bereit, das ihre weißen Zähne unnatürlich grell leuchten lässt. Silvio beehrt ihn mit einem festen, kameradschaftlichen Händedruck. Zumindest haben diese beiden nichts gegen seine Anwesenheit einzuwenden.

Auf einer Ablagefläche erkennt Tom den Schlüssel, den Karo vor einer Woche programmierte. Der klare Kristall ist etwa so lang wie sein kleiner Finger und gleich dick. Im Moment liegt er in einem kleinen, mit rotem Samt ausgeschlagenen Kästchen unter einem Glasdeckel, präsentiert wie ein kostbares Juwel. Nun, genau genommen ist er bestimmt kostbarer als die meisten Juwelen, die Tom bisher gesehen hat.
Er fragt sich, wo Karo das Duplikat aufbewahrt. Er kann es nirgends entdecken. Ob sie ihre Arbeitgeber darüber informiert hat, dass sie zwei Schlüssel programmierte? Tom hat keine Ahnung, woher dieser Gedanke kommt. Es gibt für Karo keinen Grund, dies vor jemandem zu verbergen. Mit einem unmerklichen Schulterzucken schiebt er den Gedankengang zur Seite und konzentriert sich auf Karos Worte.

„... beim letzten Mal. Deshalb habe ich jetzt eine zusätzliche Überwachung für die Laser eingerichtet. Ein Erschütterungssensor sollte uns sofort benachrichtigen, falls sich da unten wieder etwas bewegt. Wir können dann sofort unterbrechen und das Portal herunterfahren. Dadurch sollte es nicht zu dieser Verzerrung kommen, die wir damals erlebten."

Verzerrung? Davon hört Tom zum ersten Mal. Er öffnet den Mund um nachzufragen, aber Dubois kommt ihm zuvor.

„Das wäre mir auch lieber. Ich hatte tagelang Kopfschmerzen von dem Lichterspektakel. Ganz zu schweigen von den Vibrationen."

„Das lag daran, dass sich durch die Verschiebung das Lasers auch das Portal durch die Dimensionen verschob, bis es schließlich der Belastung nicht mehr standhielt und riss. Stell dir einen Tunnel vor, der von einer Kontinentalplatte in die andere führt. Durch die langsame Verschiebung steigt der Druck, bis die Tunnelröhre einbricht, oder, in unserem Fall, regelrecht explodiert."

Nun ist Tom massiv beunruhigt. Bisher gingen alle davon aus, dass Louisa in einer harmlos wirkenden Parallelwelt gestrandet ist. Von einer Explosion hört er zum ersten Mal.

„Moment, heißt das, Lou war da mitten drin?"

Karo starrt kurz auf ihre Hände bevor sie ihm in die Augen sieht.

„Ich glaube nicht. Sie muss drüben gewesen sein, in der anderen Welt. Sie wollte einige Stunden wegbleiben, und die Unterbrechung ereignete sich nur knapp eine Viertelstunde nachdem sie das Portal durchquert hatte. Ich bin ziemlich sicher, dass sie nicht mehr in der Nähe war."

Es fällt Tom schwer, seinen Ärger zu unterdrücken. Wann erfährt er endlich die ganze Geschichte und muss sie nicht stückweise erfragen und zusammenklauben? Aber es bringt nichts, darüber einen Streit vom Zaun zu brechen. Deshalb atmet er tief durch und wendet sich an Karo.

„Also, noch etwas was ich wissen muss, bevor ich durch dieses Portal gehe? Brauche ch einen Schutzanzug oder sowas?"

„Nein, Du kannst so los wie du bist. Es sollte nur ein Spaziergang von wenigen Metern sein, sobald das Portal einmal stabil ist. Noch etwa fünfzehn Minuten, dann bin ich soweit."

Plötzlich spürt Tom, wie seine Hände feucht werden. Er reibt sie am Gesäß seiner Jeans trocken und versucht, seine Nervosität im Keim zu ersticken. Da nimmt Silvio seinen Arm.

„Tom, ich will nicht, dass du da hinübergehst. Das ist meine Aufgabe."

Überrascht betrachtet Tom den Reisebüroleiter. Silvio scheint genau so aufgeregt zu sein wie er, sein Atem geht zu schnell und auf seiner Stirn erkennt Tom einen feinen Film von Schweiß. Was bezweckt Silvio mit diesem Angebot?

„Ne, das ist mein Job. Lou ist meine Schwester und ich suche sie nun schon seit Wochen."

„Bitte, Tom, versteh das. ich fühle mich für Lou verantwortlich. Ich bin nicht nur ihr Vorgesetzter, sondern auch ihr Freund. Du hattest recht, wir waren zusammen. Zudem hätte sie nie von diesem Projekt erfahren, wenn ich sie nicht hergebracht hätte. Es liegt definitiv an mir, das Risiko zu tragen."

Tom weiß nicht, ob er froh oder enttäuscht sein soll. Die vergangenen Monate waren geprägt von seiner Suche nach Lou, und es widerstrebt ihm, nun für diesen ultimativen Schritt Silvio den Vorrang zu lassen. Ausgerechnet dem Mann, der zunächst verleugnete, dass Lou etwas zugestoßen sein könnte. Hilfesuchend sieht er zu Karo, aber diese konzentriert sich auf ihren Bildschirm, und von Pascal kann er keine Hilfe erwarten.
Tom weiß, wann er eine Schlacht verloren hat.

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