20 - Erklärungen und Erinnerungen
Haqaj wird bald zu einem gern gesehenen Gast. Der Jäger ist stets zu Scherzen aufgelegt und mit seiner und Naliqs Unterstützung gewinnt Naoms Vokabular rasch an Umfang. Sie geniest das offene Wesen des Besuchers und beklagt sich nicht darüber, wenn er morgens bereits am Feuer sitzt, bevor sie aufgestanden ist.
Dank seiner Hilfe kann sie nun einer Unterhaltung folgen, ohne ständig den Faden zu verlieren. Tagsüber zieht er meist mit Salej los. Sobald dieser auftaucht, verschwinden die beiden im Wald. Aber abends kommt Haqaj zurück und manchmal bringt er sogar Beute von seinen Streifzügen mit.
Diesmal ist es ein kleines, pelziges Tier, das Naom noch nie gesehen hat. Einerseits tut es ihr leid, andererseits hat sie inzwischen gelernt, nicht sehr wählerisch mit ihrer Nahrung zu sein. Wer sich selbst versorgen muss, bleibt auch in einem tropischen Land an manchen Tagen hungrig.
Haqaj zeigt ihr, wie sie aus dem Fleisch und einigen der Sja-Wurzelknollen, die sie mit Naliq sammelte, einen schmackhaften Eintopf zubereiten kann. Diesmal merkt sie sich genau, welche Pflanzen er zum würzen braucht. Sogar Naliq schaut aufmerksam zu und sie vermutet, dass der Junge von ihren schwer verdaulichen Experimenten ebenfalls genug hat.
Zu dritt schlagen sie sich an diesem Spätnachmittag den Bauch voll, und Naliq erklärt, er habe noch nie so etwas Schmackhaftes gegessen. Anschließend verwickelt der Besucher die beiden in ein langes Gespräch. Naom, die sich bisher an den Abenden meist nach einem guten Buch oder einem interessanten Film sehnte, genießt diese ungewohnte Art der Geselligkeit.
Sie nutzt die Gelegenheit unzählige Dinge über die Welt zu erfragen, in der sie gestrandet ist. Naliq, über ihr Unwissen maßlos erstaunt, beteiligt sich rege an der Diskussion. Es überrascht Naom, wie gesprächig der sonst Erwachsenen gegenüber so verschlossene Junge an diesem Abend ist. In einer Gesprächspause bringt sie den Mut auf, ihn direkt auf seine Situation anzusprechen.
„Naliq, weshalb gehst du nie nach Liqqa?"
Der Junge zuckt die Schultern und starrt in die Glut des Feuers. Naom fürchtet schon, ihre Frage habe ihn wieder zum Verstummen gebracht. Aber nach einer Weile streicht er sich die dunklen Locken aus den Augen und sieht sie an.
„Die Menschen fürchten meinen Siohal."
Ein Blick zu Haqaj zeigt ihr, dass der Jäger an der Geschichte genauso interessiert ist. Zum Glück übernimmt er es, weiterzufragen. Rasch begreift Naom, dass ein Siohal so etwas wie ein Fluch sein muss.
In kurzen, mit steinernem Gesicht vorgetragenen Sätzen umreißt Naliq sein Schicksal.
Seine Mutter starb bei seiner Geburt, sein Vater kurz danach bei einem Unfall. Die Schwester seines Vaters nahm ihn daraufhin bei sich auf, erlag aber vor einigen Jahren einer schweren Krankheit. Daraufhin wurde Naliq des Dorfes verwiesen, zu sehr fürchteten sich die Menschen vor seinem angeblich schlechten Einfluss. Nur Jalai war das Gerede egal, und so richtete sich der Junge im Wald hinter dem Haus des Heilers ein Lager ein.
Naom nimmt sich fest vor, diese Zuflucht bei nächster Gelegenheit zu besichtigen. Sie bedauert nun, nicht früher um Naliqs Schicksal gewusst zu haben. Andererseits, was hätte sie ändern können?
Gespannt verfolgt sie, wie Haqaj nun auch die Details ihrer eigenen Herkunft aus dem Jungen herausholt. Er muss bereits wissen, dass sie unter mysteriösen Umständen aus dem Nichts hier auftauchte und sich nicht an ihre Herkunft erinnern kann. Naom fragt sich, ob dies das Dorfgespräch ist oder ob sein Freund Salej ihm von davon berichtete.
„Naliq, was weißt du über Naoms Siohal?"
„Sie hat keinen Siohal. Ich habe sie in der Höhle am Strand gefunden. Naom brannte und schrie. Jalai meinte, sie sei sehr krank. Ich half ihm, sie hierherzubringen. Jalai hat sie geheilt und sprechen gelernt."
Der Junge wirft ihr einen beinahe entschuldigenden Blick zu. Naom kann ihre Überraschung nicht verbergen. Sie erinnert sich nicht an diese Ereignisse und hört zum ersten Mal, dass Naliq sie fand und offensichtlich Jalai zu Hilfe holte. Die Verletzungen, insbesondere das höllische Stechen beim Atmen und die gebrochene Hand dagegen sind ihr noch gegenwärtig genug. Vielleicht hätte sie damals hohes Fieber. Das würde erklären, warum Naliq meint, sie hätte gebrannt und vielleicht auch ihren Namen, der dem Wort für Feuer oder Glut entspricht. Aber für tiefere Nachforschungen fehlt ihr der Wortschtz. Immerhin weiß sie jetzt, dass sie ihr Leben vermutlich dem ausgestoßenen Jungen verdankt.
Als sie sich bei ihm bedankt, blickt er betreten zu Boden.
„Ich hatte Angst, mein Siohal würde dich auch töten, damals, und später im Wasser. Aber du bist stark."
Naom lacht.
„Ich habe keine Angst vor deinem Siohal. Und vor dem Wasser auch nicht. Morgen musst du mir dein Haus und die Höhle zeigen."
Naliq lächelt schüchtern. Bevor Naom etwas hinzufügen kann, greift Haqaj unvermittelt nach seinem Bogen. Seine Aufmerksamkeit ist nach draußen gerichtet. Bald erkennt Naom eine Person, die sich in der Dämmerung dem Haus nähert. Erleichtert stellt sie fest, dass es die vertraute Gestalt von Salej ist. Der Jäger mag stets grimmig wirken, aber immerhin verhielt er sich bisher ihr und Naliq gegenüber immer korrekt.
Salej nickt den beiden kurz zu, bevor er sich an ihren Besucher wendet.
„Haqaj, es ist Zeit. Die Ältesten warten nun auf dich."
Rasch verabschiedet sich der jüngere Mann, verspricht aber, wiederzukommen. Naom blickt den ungleichen Jägern nachdenklich hinterher. Plötzlich ist es wieder sehr ruhig in der Hütte des Heilers. Naliq unterbricht die Stille zaghaft, mit leiser Stimme.
„Es ist schade, dass Haqaj bald wieder geht."
„Gehen? Wohin?
Naliq zuckt mit schräg gelegtem Kopf die Schultern, ein Zeichen, dass er keine Ahnung hat.
„Er kommt aus einem fernen Dorf im Süden. Bis dort sind es viele Tage. Haqaj sucht sein Lashej. Eigentlich wollte er Jalai besuchen, weil er denkt, dass er vielleicht ein Heiler ist. Nach dem Fest wird er weiterziehen."
Diese Nacht hat Naom Mühe, einzuschlafen. Das liegt nicht nur an den Trommeln und dem Gesang, der von Liqqa her zu hören ist. Endlich hat sie jemanden gefunden, der ihr nicht nur diese fremde Welt erklären, sondern sie auch zum Lachen bringen kann. Und nun stellt sich heraus, dass er nur auf der Durchreise ist, auf der Suche nach seiner wahren Bestimmung.
Andererseits fühlt sie sich doppelt für Naliq verantwortlich, seit sie von seinem Schicksal weiß. Dass er es war, der sie fand und den Heiler zu ihr brachte, lässt sie in seiner Schuld stehen.
Erst spät fällt sie in einen unruhigen, traumgefüllten Schlaf.
~ ~ ~
Am Mittwoch kommt Karolines lang erwarteter Anruf. Tom nimmt ihn auf dem Weg zu seiner Verabredung mit Alfred entgegen. Ihre Stimme zu hören, löst eine Menge unterschiedlicher Gefühle in ihm aus. Einen Moment lang hat er Mühe, sich auf ihre Worte zu konzentrieren, die in ihrer typischen Art nur so hervorsprudeln. Sie merkt zum Glück nichts von seiner Verwirrung.
„Hey, Tom. Entschuldige die Verspätung, ich hatte gehofft, das früher über die Bühne zu kriegen. Aber Pascal war krank, und ich brachte seinen Partner nicht dazu, den Du-weißt-schon zu öffnen. Egal, morgen können wir endlich die Anlage justieren... Bist du noch da?"
„Ja, entschuldige. Bedeutet das, wir können mit der Suche nach Lou beginnen?"
Thomas überlegt sich fieberhaft, wie er die geschäftlichen Termine des nächsten Tages verschieben kann. Er will unbedingt dabei sein, wenn Karo das Portal öffnet. Aber er hätte sich nicht zu sorgen brauchen.
„Leider nein. Die Anlage braucht mindestens achtundvierzig Stunden Anlaufzeit zum Aufbau des... nun, des richtigen Betriebsklimas. Was ist mit nächstem Samstag, kannst du dir das einrichten?"
„Klar, Samstag ist perfekt, wann soll ich dort sein?"
Tom ist sicher, dass Karo seiner Stimme die Begeisterung anmerken kann. Aber sie geht nicht darauf ein, sondern schlägt nur vor, er solle um neun auf dem Werkgelände sein.
Er spürt ein Kribbeln im Bauch, als er die Verbindung unterbricht. Am Samstag wird er nicht nur Karo wiedersehen, sie werden auch versuchen, zu Louisa durchzudringen. Natürlich weiß er, dass die Wahrscheinlichkeit, seine Schwester in der Zielwelt sofort anzutreffen, gering ist. Aber dennoch...
Tief in Gedanken versunken überquert er den Platz vor dem Stadthaus, als ihn jemand anspricht.
„Hey, Tom, was ist los, hast du einen Geist gesehen?"
Er bleibt abrupt stehen und blickt in ein bekanntes Gesicht.
„Alfred, hallo! Nein, ich war nur gerade etwas abgelenkt. Waren wir nicht in der Linde verabredet?"
„Doch, aber ich war früh dran und dachte ich bummle noch herum. Meine alten Knochen können etwas Bewegung vertragen. Ich habe dir schon vor einer Weile von da drüben zugewinkt, aber du warst gerade in einer anderen Dimension. Also, was ist los, gibt es Neuigkeiten?"
Tom starrt einen Moment lang auf seine Schuhspitzen. Nun muss er sich entscheiden. Will er Alfred ins Vertrauen ziehen? Nachdem er Melanie am Sonntag nur die halbe Wahrheit erzählte, ist dies vielleicht die letzte Gelegenheit, sich Rückendeckung zu verschaffen, wenn etwas schief läuft. Am Samstag ist es soweit. Karo wird das Portal bedienen, und er wird derjenige sein, der nach Louisa sucht. Tom holt tief Luft und sieht Alfred in die Augen.
„Andere Dimension ist das richtige Stichwort. Komm, wir suchen uns einen ruhigen Platz. Ich habe dir eine Menge zu erzählen."
~ ~ ~
Naom setzt den Vorsatz, Naliqs Lager zu besuchen, gleich am nächsten Tag in die Tat um. Haqaj tauchte an diesem Morgen nicht auf, was an dem Fest liegen mag, das drüben im Dorf bis in die frühen Morgenstunden andauerte. Einerseits wäre sie gerne dabei gewesen, schon nur aus Neugier. Aber das Wissen, dass ihr junger Freund Naliq in Liqqa nicht willkommen ist, ist Grund genug, dem Dorf auch weiterhin fernzubleiben.
Bevor sie aufbrechen, teilen sie sich die Reste vom Vorabend. Naliq ist gut aufgelegt, vielleicht weil sie zu ihrem Wort steht, vielleicht auch nur, weil er ihre Gesellschaft genießt. Er packt seinen Speer und geht voran auf dem Weg, der zu den Klippen führt. Naom kann sich gut an diesen Pfad erinnern. Hier begegnete sie zum ersten Mal Salej, nachdem sie mit dem Boot gekentert waren. Das Erlebnis liegt schon eine gefühlte Ewigkeit zurück.
Statt sie zu dem Strand zu bringen, an dem sie damals landeten, biegt Naliq vorher auf einen schmalen, im Buschwerk kaum erkennbaren Pfad ab, der zum Meer hinunter führt. Stellenweise müssen sie klettern und Naom ist froh, dass sie wieder mit beiden Händen zugreifen kann. Aber die schwierige Stelle ist nur kurz. Bald erreichen sie eine kleine Bucht, die von Felsen gegen das Meer hin fast abgeriegelt ist.
Naom kann sich erinnern, diese Stelle vom Wasser aus gesehen zu haben. Der kiesige Strand ist nur schmal und steil, die Wellen rollen die Steine mit einem knirschenden Geräusch auf und ab. Sie kennt dieses Geräusch nur zu genau, das sie manchmal in ihren schlechten Träumen verfolgt.
Naliq bemerkt den kalten Schauer nicht, der sie frösteln lässt. Er führt sie dem Strand entlang zum nördlichen Ende der Bucht. Hier hat das Wasser eine Höhlung aus einer Gesteinsschicht ausgewaschen, die weicher als das darüberliegende Felsband ist. Anhand der eingelagerten Steinbrocken vermutet Naom, dass es sich um ein Band vulkanischer Asche handelt.
Vor dem Eingang der Höhle bleibt der Junge stehen und sieht sie an.
„Das ist die Höhle der Geister. Da drin habe ich dich gefunden."
Naom hebt die Augenbrauen.
„Die Höhle der Geister? Hattest du keine Angst da hineinzugehen?"
„Doch. Aber ich war schon früher da drin, und die Geister waren nicht zu Hause. Als ich dich schreien hörte, glaubte ich zuerst, sie seien zurückgekommen. Aber dann dachte ich, es sei besser, nachzusehen."
Naom kann nur ahnen, wie viel Überwindung es den schmächtigen Jungen kostete, diese Geisterhöhle zu betreten. Entschlossen duckt sie sich und geht voran. Die Höhle ist nicht groß, nicht einmal mannshoch und vielleicht dreißig Schritte tief, am Eingang recht breit und gegen hinten immer enger werdend. Der Boden besteht aus feuchtem Sand. Naliq deutet auf die hinterste Ecke.
„Da lagst du. Ich hätte dich nicht gefunden, wenn du nicht geschrien hättest."
Naom geht an der bezeichneten Stelle in die Hocke. Deutlich sind noch die Spuren zu erkennen, die entstanden, als Jalai und Naliq sie ins Freie zogen. Sie lässt die Hand durch den grobkörnigen Sand gleiten. Ja, ganz entfernt kann sie sich daran erinnern, in einer Höhle aufzuwachen, an das Gefühl, blind zu sein und innerlich zu verbrennen. Plötzlich drohen die Albträume, sie am Tag und hellwach zu überfallen.
Sie kämpft gegen den Sturm der Traumbilder an und krallt ihre Finger in den Sand. Dabei ertastet sie einen kühlen, kantigen Gegenstand. Ihre Neugier ist geweckt und die Träume weichen zurück. Naom hebt das Objekt auf und befreit es von dem feuchten Sand. Mit einem Stirnrunzeln betrachtet sie den klaren, sechskantigen Kristall, der in ihrer Handfläche liegt.
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