15 - Geheilt
Schweißgebadet erwacht Naom aus einem weiteren Albtraum. Vor ihren Augen wirbeln immer noch die feurigen Farben des Traumtunnels, der sie zu verschlingen droht. Nur langsam kämpft sie sich an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Es kostet sie große Anstrengung, sich auf das Blätterdach über ihrer Hängematte zu konzentrieren. Nach und nach dringen die Stimmen der Vögel in ihren vernebelten Verstand vor und sie kann sich von den beängstigenden Bildern befreien.
Jalai beugt sich mit besorgtem Gesicht über ihren Schlafplatz und erkundigt sich nach ihrem Wohlergehen. Sie bemüht sich um ein Lächeln, ist aber überzeugt, dass es schief und gezwungen wirkt. Mühsam rappelt sie sich auf, bereit den alten Mann durch Taten zu überzeugen, dass es ihr gut geht. Was natürlich nur halb stimmt. Die Ängste des Traums lassen sie immer noch frösteln.
Sanft nimmt der Heiler sie am Arm und zieht sie hinaus vor die Hütte. Das Licht der Morgensonne dringt durch eine Baumkrone und malt tanzende Schatten auf den taufeuchten Sand. Kleine Krabben eilen zu ihren Löchern als die beiden Menschen ihr Revier betreten und sich auf einen umgestürzten Palmenstamm setzen.
Normalerweise würde Jalai jetzt mit einer Sprachlektion beginnen. Er hat längst bemerkt, dass er Naom damit am schnellsten von ihren nächtlichen Ängsten befreien kann. Aber heute verlangt er, ihren verletzten Arm zu sehen.
Geübt wickelt er den Verband ab und entfernt die Schiene. Das Holzstück zeigt deutliche Spuren ihrer abenteuerlichen Ausflüge mit Naliq. Besonders das vordere Ende, das in ihrer Handfläche liegt, ist schmutzig und hat Risse. Vermutlich war es nicht gedacht, um damit schwimmen zu gehen.
Jalai betrachtet die Schiene kurz und legt sie beiseite, um sich ihrem Arm zuzuwenden. Vorsichtig tastet er ihren Unterarm ab und murmelt dazu leise Worte. Sie kann ihn nicht verstehen, und fragt sich, ob er eine andere Sprache spricht. Ausschließen kann sie es auf jeden Fall nicht, die Sprachmelodie unterscheidet sich deutlich von seiner sonstigen. Könnten das irgendwelche Zaubersprüche sein? Beinahe ist sie versucht, ihren Arm zurückzuziehen. Aber sie ruft sich zur Ordnung. Bisher hat Jalai immer nur zu ihrem Besten gehandelt. Dennoch verfolgt sie seine weiteren Handlungen skeptisch.
Nach einer Weile beginnt der alte Heiler, sanft ihr Handgelenk zu bewegen. Sie wartet auf schmerzhafte Stiche und presst vorsichtshalber schon die Lippen aufeinander. Überraschenderweise spürt sie aber nur ein unangenehmes Ziehen in der verletzten Hand. Jalai übt daraufhin mehr Druck aus, nickt ihr schließlich mit einem Lächeln zu und gibt ihre Hand frei.
Zögernd versucht Naom, das Handgelenk zu bewegen, die Finger zur Faust zu ballen und wieder zu strecken. Es funktioniert! Natürlich schmerzt ihr Arm ein bisschen, und ihre Finger fühlen sich unangenehm kraftlos an. Aber alles scheint ordentlich zusammengewachsen zu sein. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmt sie: ihr gebrochener Arm ist wieder heil.
In ihrer Begeisterung vergisst Naom beinahe, sich ordentlich bei Jalai zu bedanken. Aber er bremst ihren Enthusiasmus und bedeutet ihr, den Verband wieder anzulegen. Das dämpft einen Moment lang ihre Freude, aber dann sieht sie ein, dass sie den verletzten Knochen wohl besser noch etwas schont und zunächst die Muskulatur wieder aufbaut. Immerhin ist sie die lästige Schiene los, das ist doch ein erheblicher Fortschritt. Wie lange sie wohl inzwischen hier ist? Sie glaubt sich zu erinnern, dass ein gebrochener Arm sechs Wochen braucht, um zu heilen. Falls das stimmt, lebt sie nun schon anderthalb Monate bei Jalai, und noch immer hat sie ihr Gedächtnis nicht wiedergefunden.
Während dem gemeinsamen Morgenmahl aus Früchten ist ihre Stimmung gedrückt. Deshalb beschließt sie, zum Strand zu gehen und nach Naliq Ausschau zu halten. Ohne die Schiene kann sie bestimmt endlich vernünftig ein Paddel halten und ihm ernsthaft beim Fischen helfen. Hoffentlich taucht der Junge heute auf, sie braucht die Ablenkung.
Aber Jalai hat noch eine weitere Überraschung für sie bereit. Als sie sich verabschieden will, bittet er sie, zu bleiben. Das ist eine neue Erfahrung, und sie sieht ihm erwartungsvoll zu, wie er verschiedene Bündel mit getrockneten Pflanzen und kleine, in Blätter eingeschlagene Päckchen in ein Tragnetz packt. Als alles verstaut ist, schultet er die Last und bedeutet ihr, mitzukommen.
Ihre Neugier zwingt sie, Wörter zusammenzuklauben. Nur so kann sie den alten Mann nach ihrem Ziel fragen. Komplette Sätze zu bilden, fällt ihr immer noch schwer, aber zumindest kennt sie inzwischen das Stimmmuster einer Frage. Was sie schließlich zusammenbringt ist bestimmt kein korrekter Satz, aber Jalai sieht sie mit erhobenen Augenbrauen an, offensichtlich verblüfft.
Sie will schon einen neuen Versuch starten, als sich sein Mund zu einem Lächeln verzieht.
„ Kial-ej, eh nio Liqqa."
Das bedeute soviel wie „Komm mit, wir gehen ins Dorf" oder „nach Liqqa" – es fällt ihr nach wie vor schwer, Bedeutungsnuancen eines Wortes zu erkennen. Liqqa könnte sowohl der allgemeine Begriff für ein Dorf sein wie auch der Name dieses spezifischen Ortes. Aber das spielt für den Moment keine Rolle. Endlich erhält sie Gelegenheit, das Dorf zu besuchen! Naliq wird heute ohne sie auskommen müssen, diese Gelegenheit kann sie sich nicht entgehen lassen.
Voller gespannter Erwartung folgt Naom ihrem Lehrer zu dem schmalen Pfad, der parallel zum Meer durch einen Palmenhain führt, in Richtung der Siedlung.
~ ~ ~
Tom ist immer noch erschüttert von den Dingen, welche er gestern bei KHTravel erfuhr. Während der langen Heimfahrt versuchte er, zusätzliche Informationen aus Silvio herauszubekommen. Aber sein Erfolg war mäßig. Das meiste konnte er sich aus Karos Erläuterungen selbst zusammenreimen.
Die Frau war eine brillante Wissenschaftlerin und von ihrem Job und den neuen Errungenschaften der Firma begeistert. Trotzdem überraschte es Tom, wie bereitwillig sie all seine Fragen beantwortete. Von den technischen Details verstand er natürlich nur sehr wenig, und es beruhigte ihn beinahe, dass Silvio davon auch keine Ahnung hatte.
Aber nun, am nächsten Morgen und in der vertrauten Umgebung seines Büros, scheint ihm alles zu fantastisch. Es fällt ihm schwer, daran zu glauben dass KHTravel tatsächlich Mittel und Wege fand, in eine andere Dimension zu reisen. Oder war das in eine andere Realität? Thomas kann sich nicht mehr genau erinnern, ob es überhaupt eine Rolle spielt. Das Ganze hat mit Quantenphysik zu tun, soweit verstand er Karo.
Aber danach konnte er ihren Ausführungen nur noch ansatzweise folgen, wenn überhaupt. Glücklicherweise merkte sie das und unterbrach sich selbst mit einem bezaubernden Lächeln, das ihn beinahe vergessen lies, dass ihm diese Frau intellektuell weit überlegen ist.
Tom lächelte zurück und kam sich vor wie als Junge bei seiner ersten Verabredung. Beinahe verpasste er darüber Karos nächste Worte. Dabei handelte es sich um eine zentrale Aussage.
„Um es kurz zu fassen: Wir haben eine Möglichkeit entdeckt, ein funktionierendes Portal in eine Parallelwelt zu öffnen."
Von da an hörte sich das Ganze nicht mehr wie eine obskure Physikstunde an, sondern wie ein Sciencefictionroman. Wie sich herausstellte, ist es sogar möglich, dieses Portal zu queren und für Reisen zu benutzen. Tom kann nur erahnen, wie viele Jahre konzentrierter Arbeit und Forschung, wie viele Experimente und Rückschläge notwendig waren, soweit zu kommen.
Der mächtige Dodekaeder in der Werkhalle enthält die Maschinerie, die das Weltenportal stabilisiert. Wenn Tom richtig verstanden hat, kann es theoretisch in unendlich viele verschiedene Realitäten oder Universen führen. Praktisch war eine Verbindung bisher nur mit einer sehr beschränkten Anzahl von Welten möglich. Laut Karo müssen sie ganz bestimmte, „erdähnliche" physikalische Eigenschaften vorhanden sein, um ein stabiles Portal zu öffnen und über längere Zeit offenzuhalten.
Seine nächste Frage schien ihm logisch: War es denn auch möglich, ein Portal nicht auf einer Welt zu öffnen, sondern irgendwo im Weltraum? Karos Blick brachte ihn rasch zum Verstummen. Wer wollte schon in einer anderen Dimension im Weltraum landen? Wo blieb da die Wirtschaftlichkeit? Tom musste zugeben, dass er an so etwas noch gar nicht gedacht hatte. Rasch lenkte er das Gespräch zurück auf das konkrete Projekt.
Wie war so etwas technisch überhaupt möglich? Karo meinte, die Entdeckung gehe auf einen glücklichen Zufall zurück, wollte aber keine weiteren Details preisgeben. Tom hörte aus ihren Worten dennoch einiges heraus. Demnach ermöglicht ein neuentdecktes Material, Strahlung so zu bündeln, dass sie die Membran zwischen den Realitäten durchdringen kann.
Er reibt sich die Augen. Das Ganze klingt völlig verrückt. Andererseits würde kaum jemand eine so komplexe und teure Anlage bauen, wenn nicht wirklich etwas dahinterstehen würde. Er fragt sich bloß, weshalb sich eine Firma, deren Forschungsteam eine solch bahnbrechende Entdeckung gelang, ausgerechnet mit einem kleinen Reisebüro zusammentut. Offensichtlich ist es nicht Silvio, der all dies finanziert.
Als er diesen danach fragte, zuckte er die Schultern und meinte, die Technologie sei noch neu und unerprobt, nicht bereit für den richtig großen Markt. Für einen kleinen Anbieter sei das eine einmalige Chance und der Kreis der Mitwisser werde so gering gehalten. Dann kam er ins schwärmen, welche neuen Möglichkeit in der Reiseindustrie damit entstünden.
Tom seufzt. Für ihn klingt das Ganze suspekt und er kann das Gefühle nicht loswerden, dass da etwas anderes dahintersteckt als man ihn glauben machen will. Er kann zudem nicht nachvollziehen, weshalb Lou sich als Versuchskaninchen für dieses verrückte Unternehmen anbot.
Seine Schwester neigte immer zu spontanen Entscheidungen, aber so etwas? Es ist doch offensichtlich, dass KHTravel nicht wirklich darauf aus sein kann, Reisen in eine andere Dimension anzubieten. Dieses Unternehmen muss eine andere, lukrativere Möglichkeit verfolgen, eine solche Entdeckung auszunutzen.
Natürlich ist mit Reisen an garantiert unverdorbene, nicht übervölkerte Strände Geld zu machen. Aber Tom ist Realist genug zu erkennen, dass dies bestenfalls ein Nebenprodukt sein kann. Um was es wohl bei der ganzen Geschichte tatsächlich geht? Ihm fallen verschieden Möglichkeiten ein...
Ein Blick zur Uhr sagt ihm, dass er in einer halben Stunde eine Kundenberatung hat. Rasch sucht er das entsprechende Dossier hervor. Zumindest ist das ein einfacher Fall. Mit den Fingern trommelt er auf die Schreibtischplatte. Er hat das dringende Bedürfnis, mit jemandem über das KHTravel-Projekt zu sprechen. Alfred vielleicht? Nein, Silvio hat ihm das Versprechen abgenommen, keine Aussenseiter einzubeziehen.
Er scrollt durch seine Kontaktliste. Melanie arbeitet für Silvio, ist also keine Außenseiterin. Er könnte fragen, ob sie in der Mittagspause Zeit hat, oder sie abends beim Reisebüro abholen. Dann fällt ihm ein, dass ihm Karo gestern ihre Karte gab. Er angelt das leicht verbogene, weiße Papier aus seiner Gesäßtasche.
Die Schrift ist schlicht, aber elegant. Dr. Karoline Gebert, Forschung und Entwicklung. Nicht gerade aussagekräftig, aber in dieser Berufssparte scheint etwas Geheimniskrämerei zum guten Ton zu gehören. Immerhin steht da auch eine Mobiltelefonnummer. Tom greift nach seinem Headset.
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