14 - Der Dodekaeder
Jalai stellt die Besucher der Reihe nach vor, nicht nur mit dem Namen, sondern mit der Funktion welche die Männer im Dorf innehaben. Naom versteht längst nicht alles, obwohl ihr Lehrer langsam spricht und versucht, Wörter zu verwenden, die sie kennt. Immerhin erfährt sie, dass Hjal der Dorfälteste ist. Sie nickt dem alten Mann zu und verwendet die Begrüssungsgeste, die Jalai ihr beigebracht hat: die offene Hand, vor die Brust gelegt. Hjal nimmt die Höflichkeitsbezeigung mit einem Lächeln zur Kenntnis.
Natürlich ist es möglich, dass der Grund dafür ihre ungeschickte Bewegung mit der geschienten Hand ist. Aber ein kurzer Blick zu Jalai bestätigt ihr, dass sie sich richtig verhält. Allerdings fällt es ihr schwer, sich von Salejs gewohnt finsterem Blick nicht einschüchtern zu lassen. Der jüngste Mann steht dem Jäger in nichts nach, deshalb nimmt sie beunruhigt zur Kenntnis, dass auch er eine Person von Bedeutung ist. Sein Name ist Manaq, und er muss so etwas wie ein Häuptling sein, wenn sie Jalai richtig versteht. Welche Funktion Salej in dieser Gruppe hat, entgeht ihr leider völlig.
Sobald die Vorstellungsrunde vorbei ist, beginnen die Männer eine Diskussion, die zunehmend hitziger und damit unverständlicher wird. Zunächst geht es dabei um sie, soviel steht fest. Jalai hält sich aus dem Gespräch heraus, lauscht aber gebannt den Argumenten.
Ihr bleibt nichts übrig, als die Männer zu beobachten. Während Hjal die anderen beiden mit ruhig vorgebrachten Äußerungen immer wieder zum Verstummen bringt, tragen Manaq und Salej ausgedehnte verbale Gefechte aus. Naom hat den Verdacht, dass es längst nicht mehr nur um sie und ihre Anwesenheit geht. Im Gegenteil, die beiden Streithähne scheinen sie vergessen zu haben.
Sie unterdrückt ein Gähnen. Gibt es eigentlich hier keine Frauen? Bisher hat sie nur Männer kennengelernt, was ihr erst jetzt richtig bewusst wird. Dabei gehört bestimmt auch hier die Hälfte der Bevölkerung zum weiblichen Geschlecht. Es wird höchste Zeit, dass sie über diese Gesellschaft mehr erfährt.
Mit neuer Konzentration versucht sie, dem Wortgefecht zu folgen. Aber ihr Erfolg ist mäßig. Einmal glaubt sie, gewisse Pflanzennamen zu erkennen, die Jalai ihr beibrachte. Aber weshalb sollten sich diese Männer über Pflanzen streiten?
Schließlich unterbricht Hjal die Diskussion, in dem er aufsteht. Für sein Alter ist er erstaunlich beweglich. Jalai tut es ihm gleich und ein kurzer Seitenblick bringt Naom dazu, seinem Vorbild zu folgen. Die beiden jüngeren Männer verstummen augenblicklich. Salej erhebt sich langsam und würdevoll. Er nickt den beiden Älteren zu, bevor er seinen Bogen aufnimmt. Bevor er sich abwendet, finden seine Augen einen kurzen Moment lang die ihren. Aber sie kann den Ausdruck darin nicht lesen. Ein kurzes Blinzeln kann sie ebenfalls nicht interpretieren. Vermutlich hat es nichts zu bedeuten.
Voller unbeantworteter Fragen sieht sie dem Jäger nach, der nun die Hütte verlässt und dahinter im Wald verschwindet. Manaq sitzt immer noch an der Feuerstelle, ein kleines Lächeln auf den Lippen. Erst als Hjal sich höflich von Jalai und Naom verabschiedet, steht der junge Mann ebenfalls auf. Er nickt ihr zum Abschied zu, eine höfliche Geste, die nach der hitzigen Aussprache völlig überraschend kommt. Trotzdem ist Naom froh, dass die beiden Männer die Hütte verlassen und zum Dorf zurückkehren.
Endlich allein, versucht sie aus Jalai herauszubringen, was der ganze Auftritt bedeuten sollte. Aber der alte Heiler zuckt nur die Schultern und gibt ihr zu verstehen, dass er die Frage nicht beantworten will oder kann.
~ ~ ~
Thomas wird das Gefühl nicht los, dass Silvio erleichtert ist, seinem Geschäftspartner nicht allein gegenübertreten zu müssen. Während sie am Empfang darauf warten, dass ihre Personalausweise geprüft werden, trommelt sein Begleiter mit den Fingern auf den Tresen, ein Zeichen seiner Ungeduld oder Nervosität. Thomas versucht, sich seine Irritation nicht anmerken zu lassen. Er ist erleichtert, als sie endlich eingelassen werden.
Sie folgen einem langen, steril wirkenden, beige gestrichenen Korridor. Erst kurz vor dem Ende bleibt Silvio stehen und klopft an eine neutrale, braune Tür. Er öffnet sie für Thomas, sobald von drinnen ein lautes „herein" zu hören ist.
Der Arbeitsraum dahinter sieht auf den ersten Blick chaotisch aus. Die Tische sind mit Papieren übersät, zwischen denen elektronische Bauteile hervorgucken. Ihr Eigentümer sitzt hinter einem Schreibtisch mit zwei Bildschirmen und einer Sammlung von Hightechgeräten, deren Funktion Thomas verborgen bleibt. Der Unterschied zu seinem wohlgeordneten Büro in der Bank ist frappierend.
Silvio begrüßt ihren Gastgeber und winkt Thomas heran.
„Hallo Pascal, danke dass du Zeit für uns hast. Darf ich dir Thomas Walter vorstellen? Er ist Louisas Bruder."
Die Augenbrauen des dunkelhaarigen Mannes wandern in die Höhe. Er kommt um den Tisch herum, um Thomas die Hand zu reichen.
„Willkommen. Ihre Schwester ist eine bemerkenswerte Frau, mit einem ausgezeichneten technischen Verstand. Schade, dass sie nicht einen entsprechenden Beruf gewählt hat."
„Danke. Freut mich sie kennenzulernen. Silvio meint, sie könnten mir etwas über Louisas Verbleib erzählen? Wir vermissen sie seit Wochen."
Pascal verzieht das Gesicht, als ob ihn plötzlich ein Zahn schmerzen würde. Aber er bringt seine Züge rasch wieder unter Kontrolle. Entschlossen tritt er zu seinem Schreibtisch, um einen Schlüsselbund aufzunehmen, der neben dem Keyboard liegt.
„Nun, das ist eine lange Geschichte. Ich denke, wir gehen am besten hinüber aufs Testgelände.
Dort kann ich ihnen zeigen, was der heutige Stand der Dinge ist. Ich versichere ihnen, dass wir alles daran setzen, ihrer Schwester eine rasche Rückkehr zu ermöglichen."
Silvios verschlossenes Gesicht beantwortet nicht die Fragen, die Thomas beschäftigen. Er folgt deshalb schweigend dessen Geschäftspartner durch das Gebäude zu einem Hinterausgang. Sie durchqueren einen leeren Hof und betreten dann eine große Halle aus grün gestrichenem Wellblech. Sie sieht neu aus. und Pascal benötigt einen elektronischen Schlüssel, um die automatische Schiebetür zu öffnen.
Die drei Männer betreten einen geräumigen, weiß verputzten Vorraum mit einer Sitzgruppe und einer Kaffeemaschine, die auf einem Kühlschrank steht. Pascal bittet seine Besucher, Platz zu nehmen, während er an ein Wandpanel tritt und eine Gegensprechanlage betätigt.
„Karoline? Kannst du bitte in den Pausenraum kommen? Wir haben Besuch."
Thomas würde sich am liebsten einen Kaffee zubereiten, aber er kommt nicht dazu, um Erlaubnis zu fragen. Eine rothaarige Frau in den Dreißigern betritt den Raum. Sie trägt einen weißen Laborkittel und hat ein freundliches Lächeln.
„Hallo Silvio, nett dich zu sehen. Guten Tag, sind sie sein Partner?"
„Nein, ich bin Louisas Bruder. Können Sie mir etwas über ihren Verbleib sagen?"
Das Lächeln der Frau namens Karoline schmilzt wie Schnee in der Sonne. Sie vergräbt ihre Hände in den Taschen des Kittels. Pascal räuspert sich.
„Herr Walter macht sich berechtigte Sorgen um Louisa. Ich dachte, am besten zeigen wir ihm das Portal. Ich bin sicher er versteht, dass wir alles tun, um seine Schwester zurückzuholen."
Karoline nickt zaghaft und reicht Thomas die Hand.
„Okay. Ich bin Karo. Freut mich sie kennenzulernen. Tut mir leid wegen Lou, aber ich bin zuversichtlich, dass sie wohlauf ist."
„Mein Name ist Thomas, oder Tom. Also, ich bin gespannt auf ihre Geschichte."
Der Anflug eines Lächelns hellt Karos Gesicht auf. Tom fühlt sich schon etwas besser. Ihre Art erweckt Vertrauen, obwohl er sie nicht kennt. Überrascht stellt er fest, dass seine Hoffnung, Lou lebend zu finden, wieder erwacht. Gefolgt von Silvio und Pascal betritt er die Werkhalle.
Der riesige Raum wird dominiert von einer Konstruktion aus Stahlrohren. Sie bilden einen geometrischen Körper aus fünfeckigen Flächen. Tom kramt in seinem Gedächtnis nach dem korrekten Namen. Richtig, das nennt sich ein Dodekaeder. Beinahe wehmütig erinnert sich an den Geometrieunterricht in der höheren Schule. Das waren sorglose Zeiten. Dann reißt er sich zusammen. Es geht nicht an, dass er Karos Erklärungen verpasst. Schließlich ist sie die erste, die nicht den Anschein macht, dass ihr Louisas Schicksal egal ist.
Aus ihren Erläuterungen schließt Tom rasch, dass Karo maßgeblich an der Entwicklung des Dodekaeders — des Portals, wie sie es nennt — beteiligt war. Sie führt ihn einige Stufen hinauf und auf einem Gittersteg ins Innere der Konstruktion. Eine Seite eines Fünfecks misst rund fünf Meter und im Zentrum der wohl drei Stockwerke hohen Anlage führt eine Treppe nach oben. Während sie die Stufen hochsteigen, versucht Tom zu erkennen, wozu die zahllosen Kabel, Rohre, Apparate und Spiegel dienen, die den äußeren Rahmen füllen. Aber er gibt es bald auf und lauscht lieber Karo, deren Stimme nun einen begeisterten Beiklang hat.
„Diese Konstruktion ist das Ergebnis jahrelanger Forschung. Mithilfe einer neuen Art von Partikelstrahlung ist es uns gelungen, ein Portal zu öffnen, welches multidimensionales Reisen erlaubt."
~ ~ ~
Nach dem seltsamen Besuch und Jalais ungewohnter Schweigsamkeit zieht Naom es vor, wieder hinunter zum Strand zu gehen. Vielleicht hat sie ja Glück und Naliq kommt noch einmal vorbei. Tatsächlich dauert es nicht lange, bis der Junge angetrottet kommt. Ob er sie wohl die ganze Zeit beobachtet hat?
Er setzt sich wortlos neben sie in den Sand und greift nach einem glatten Stein, um ihn übers Wasser springen zu lassen. Lächelnd sucht sie ebenfalls nach einem geeigneten Kiesel. Wenn sie dieses Spiel noch lange spielen, gehen ihnen irgendwann die Steine aus! Natürlich ist dieser Gedanke unsinnig, vermutlich werden die geworfenen Steine bald wieder an den Strand gespült.
Nach einem besonders erfolgreichen Wurf wendet sich Naliq ihr zu. Ausnahmsweise versteht sie ihn, oder kann zumindest den Sinn seiner Worte erahnen. Der Junge fragt, was die Besucher wollten. Nun, das möchte sie selbst auch gerne wissen. Leider ist ihr die Antwort unbekannt. Naliq lässt enttäuscht den Kopf hängen. Das bringt sie auf eine Idee.
Die Sonne steht zwar schon tief, aber es dauert bestimmt noch eine Stunde, bevor sie hinter dem Horizont versinkt. Nicht dass sie eine Möglichkeit hat, die Zeit zu messen, aber das ist der ideale Moment, um mit dem Schwimmunterricht für den Jungen zu beginnen.
Naliq hat keine Ahnung, was ihm bevorsteht. Es braucht ihren ganzen Wortschatz und eine gehörige Portion nonverbaler Überredungskunst, den Jungen dazu zu bewegen, ihr ins Wasser zu folgen. Endlich bringt sie ihn dazu, bis zu den Hüften ins Meer hinauszuwaten.
Als sie untertaucht und von ihm wegschwimmt, beobachtet er sie interessiert. Sie schwimmt nicht weit, nur einige kräftige Züge und kehrt dann um. Diesmal hat Naliq verstanden. In seinem Gesicht spiegeln sich Zweifel und Hoffnung. Naom lässt ihm nicht lange Zeit, zu überlegen.
Entschlossen nimmt sie seine Hand. Was heißt doch gleich „komm"? Ah, genau.
„Kial-ej! Komm, ich lasse dich nicht ertrinken. Ich halte dich fest, versprochen. Kial-ej, alejko!"
Was schließlich den Jungen dazu bringt, ihr zu vertrauen, bleibt ihr verborgen. Aber irgendwann gibt Naliq den Widerstand auf und lässt sich auf das Abenteuer ein.
Als die Sonne den westlichen Himmel in orange Glut verwandelt, ist er in der Lage mehrer Züge selbständig zu schwimmen. Obwohl er inzwischen erschöpft wirkt, muss Naom den Jungen beinahe zwingen, aus dem Wasser zu kommen. Während sie in der Dämmerung zusammen zu Jalais Hütte zurückgehen, blickt er mehrmals zurück zum Meer, als könnte er immer noch nicht glauben, diese neue Kunst gemeistert zu haben.
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