13 - Speerfischen
Das Boot zurück in die Bucht zu bringen, erweist sich am Ende als erstaunlich einfach. Das Hauptproblem ist, die Klippe wieder hinunterzusteigen. Trotz der verkürzten Schiene hat Naom immer noch Mühe, ihre rechte Hand zu benutzen. Sie ist deshalb froh, endlich den Strand zu erreichen und in das bereitliegende Boot zu klettern.
Naliq paddelt sofort los, allerdings nicht gleich zurück zum Kap. Zunächst fährt er weiter der Felswand entlang, auf der Suche nach etwas, das er Kalaq nennt. Naom nimmt an, dass er damit eine Fischart meint, allerdings ist sie nicht sicher, ihn richtig verstanden zu haben.
Im Gegensatz zu Jalai spricht der Junge meist viel zu schnell für sie und neigt dazu, die Hälfte seiner Wörter zu verschlucken. Nur wenn er sich wirklich Mühe gibt, kann sie ihn halbwegs verstehen.
Es dauert nicht lange, bis Naom zahlreiche unter dem Boot dahinflitzende Schatten erkennt. Dies muss ein großer Fischschwarm sein. Ob es allerdings Naliqs Kalaq sind, ist ihr nicht klar. Sie ist erleichtert dass diese Exemplare deutlich kleiner als das Monster, das sie während der letzten Ausfahrt beobachtete.
Auch Naliq hat die schnellen Schwimmer entdeckt. Er deutet ihr, ruhig zu bleiben und richtet sich langsam auf die Knie auf, den Speer in der Hand. Vorsichtig geworden, schnappt sich Naom das Paddel. Wenn sie ein weiteres Mal im Wasser landen, will sie diesmal zumindest sicherstellen, dass es nicht verlorengeht. Naliqs breites Grinsen bestätigt, dass er mit diesem Arrangement auch zufrieden ist.
Es ist nicht einfach, mit dem geschienten Arm das eher unhandliche Padded zu benutzen, aber zumindest gelingt es ihr, das Boot zu stabilisieren, während Naliq sich darin versucht, einen Fisch zu harpunieren. Er wirft diesmal im Knien, was das Boot zum Glück weniger zum Schaukeln bringt.
Gebannt verfolgen die beiden, wie der Speer ins Wasser eintaucht und gleich wieder an die Oberfläche schwimmt, ohne einen Fisch. Nun, ein Erfolg gleich beim ersten Versuch wäre wohl überraschend gewesen. Immerhin schwimmt der Speer an der Oberfläche, so dass es nur zwei Ruderschläge braucht, um ihn wieder einzusammeln. Naom versteht plötzlich, warum die Eskimos ihre Harpunen mit einer langen Leine versehen. Zumindest würde das dabei helfen, das Jagdgerät wieder einzusammeln.
Leider ist dieser Gedanke zu komplex, um in Naliq zu erklären. Vor allem, weil er hinter ihr im Boot sitzt und sie hm nicht richtig ansehen kann, ohne das Gefährt zum Schaukeln zu bringen. Sie möchte den jungen Jäger auch nicht gleich entmutigen. Deshalb unterstützt sie geduldig seine weiteren Versuche, einen Fisch aufzuspießen. Der Junge stellt rasch fest, dass es sinnlos ist, den Speer weit zu werfen.
Naom erinnert sich, dass es wegen der unterschiedlichen Lichtbrechung im Wasser schwierig ist, die genaue Position eines untergetauchten Ziels abzuschätzen. Aber auch das kann sie mit ihrem eingeschränkten Wortschatz nicht erklären. Es ist wirklich frustrierend, all dieses Wissen zu besitzen und es weder teilen noch sich daran erinnern zu können, woher sie es nimmt.
Aber Naom hat sich längst damit abgefunden, dass es nichts bringt, darüber zu grübeln. Deshalb beschränkt sie sich darauf, das Boot während den nächsten Harpunierversuchen möglichst ruhig zu halten.
Schließlich, und zu Naoms Überraschung, trifft Naliq tatsächlich. Unglücklicherweise lässt er den Speer los, als der Fisch an seiner Spitze zerrt. Einen Moment lang ragt der Schaft wie eine zitternde Stange aus dem Wasser, bevor er umkippt und davontreibt.
Naom, die inzwischen herausgefunden hat, wie sie das Paddel halten kann, um es trotz ihre Verletzung einigermaßen wirksam einzusetzen, kann die Enttäuschung des Jungen förmlich spüren. Er lehnt sich aus dem Boot, um seine Jagdwaffe wieder einzusammeln. Von dem Fisch ist keine Spur zu erkennen. Naom paddelt langsam im Kreis. Irgendwo muss das verwundete Tier doch treiben.
Als sie den Fisch schließlich entdeckt, sind beinahe nur noch Knochen übrig. Zahlreiche kleinere Fische haben Naliqs Opfer bis auf die Gräten zerlegt. Einen Moment lang würgt sie bei dem Anblick, und es kostet sie Mühe, den sauren Geschmack im Mund hinunterzuschlucken. Aber sie kann es sich nicht erlauben jetzt schwach zu werden, nicht vor Naliq. Längst hat sie begriffen, dass in dieser Welt Regeln gelten, die keine Rücksicht auf ihre empfindlichen Gefühle nehmen.
Naliq sticht mit dem Speer nach den Futterdieben, die rasch in alle Richtungen davonflitzen. Naom versteht die Enttäuschung des Jungen. Am liebsten würde sie ihn ermuntern, einen weiteren Versuch zu unternehmen. Aber inzwischen ist sie durstig und sehnt sich danach, die Beine zu strecken.
Zum Glück hat auch der Junge für heute genug vom Speerfischen. Mit einem enttäuschtem Blick auf die Überbleibsel seiner Beute nimmt er das Paddel, das sie ihm reicht. Mit kräftigen Schlägen treibt er das kleine Boot voran und steuert es geschickt zurück um das kleine Kap, in ihre kleine, geschützte Bucht.
~ ~ ~
Tom lehnt sich zurück in den Beifahrersitz und versucht, sich von Silvios etwas ruppigen Fahrkünsten nicht stressen zu lassen. Der Mann scheint mit seinem eleganten Wagen umzuspringen wie mit einem Traktor. Nun, Thomas ist nicht hier, um den Fahrstil des Vorgesetzten seiner Schwester zu kritisieren.
Noch immer versteht er nicht, was das Ganze eigentlich soll. Als Silvio ihn anrief und ihm erklärte, er wisse, was mit seiner Schwester los sei, war er einen kurzen Moment lang erleichtert. Erst nach und nach begriff er, dass Silvio die ganze Zeit gewusst hatte, wo Louisa steckte. Ärger stieg in Tom hoch als er erkannte, dass der Mann erst jetzt, nach Wochen, dazu bereit war, mit der Sprache herauszurücken.
Nun, er sagt sich immer wieder, das sei besser als weiter mit der Wahrheit hinterm Berg zu halten. Aber trotzdem ist er noch sauer auf Silvio. Deshalb versucht er gar nicht erst, ein Gespräch anzufangen, selbst wenn ihm die angespannte Stille im Auto unangenehm ist. Silvio wirkt ziemlich verkrampft und Tom hat keine Lust, ihn vom dichten Feierabendverkehr abzulenken.
Die Fahrt dauert schon länger als eine Stunde und Tom ist froh, als sie endlich die Autobahn verlassen und auf weniger befahrene Nebenstraßen ausweichen. Er kennt die Gegend hier nicht besonders gut und versucht, sich den Weg einzuprägen. Wer weiß, wann er allein hierher zurückfinden muss.
Schließlich erreichen sie nach mehreren Abzweigungen ein Industriequartier, das so spät am Abend verlassen wirkt. Die Arbeiter sind wohl längst nach Haus gefahren, die Parkplätze vor den großen Werkhallen leer.
Nach zwei weiteren Abbiegungen hält Silvio vor einem eher unscheinbaren, grauen Gebäude. Die Rollläden an den Fenstern im Obergeschoss sind heruntergelassen und über dem Eingang prangt kein Firmenname. Silvio hält auf dem leeren Besucherparkplatz, seufzt und wirft Thomas einen langen Blick zu.
„Hier sind wir. Das ist das Forschungszentrum unserer Partner. Wir haben einen Termin mit Pascal Dubois, unserer Kontaktperson. Er leitet das Projekt, an dem Lou und ich interessiert sind. Nun, interessiert waren, bis sie von einer Testreise nicht zurückkam. Pascal kann uns hoffentlich überzeugend darlegen, was genau passiert ist und was wir tun können, um Lou wiederzufinden."
Tom schluckt leer. Seine Kehle fühlt sich trocken an. Auf einmal ist er sicher, dass es ihm lieber wäre, Louisa hätte mit einem Liebhaber das Weite gesucht. Dies hier sieht aus wie eine große Sache, wie etwas, in das er nur ungern verwickelt wird.
~ ~ ~
Kaum in der Bucht angekommen, will sich Naliq mit hängendem Kopf davonmachen. Der Junge tut Naom leid, sein Misserfolg beim Fischen belastet ihn offensichtlich. Sie bedeutet ihm deshalb kurzentschlossen, mit ihr zur Hütte zu kommen. Am liebsten hätte sie ihm einen Riegel Schokolade zugesteckt, aber so etwas gibt es hier nicht. Nun, vielleicht freut er sich über eine Portion des Eintopfs von gestern.
Jalai ist nicht da, und es braucht einige Überzeugungskraft, den Jungen in die Hütte zu bitten. Schließlich füllt sie eine Schale aus der Hälfte einer Kokosnuss mit Resten der letzten Mahlzeit und reicht sie Naliq, der immer noch draußen in der Sonne steht. Der Junge zögert und schaut sie mit großen Augen an, bevor sein laut knurrender Magen sich ungefragt zu Wort meldet. Naom drückt ihm lachend die Schale in die Hand und sieht zu, wie er nach einem kurzen inneren Zwiegespräch gierig das Essen herunterschlingt.
Sie fragt sich, wann er wohl das letzte Mal gegessen hat. Fischen ist für ihn bestimmt nicht nur ein Zeitvertrieb. Jetzt tut es ihr noch mehr leid, dass er seine Beute verlor. Sie möchte ihm gerne helfen, aber das ist nicht einfach, solange sie selbst hier zu Gast und von Jalai abhängig ist. Nun, immerhin kann sie Naliq zeigen, wie er seinen Speer verbessern kann.
So holt eine der dünnen, aus Pflanzenfasern geflochtenen Schnüre, die Jalai zum Aufhängen der Pflanzen braucht, die er trocknen will. Der Junge begreift rasch, was sie meint, als sie es an der Spitze seines Speers festknüpft und ihm dann pantomimisch erklärt, wie er damit einen aufgespießten Fisch heranziehen könnte. Die übertriebene Vorstellung zaubert sogar ein Lächeln auf sein Gesicht.
Danach betrachtet Naom sich die Spitze seiner Waffe genauer. Ihre Beobachtung vom Morgen war richtig, dies ist ein langer, von der Sonne gebleichter Knochensplitter, den Naliq mit einem dünnen Lederstreifen an den hölzern Schaft gebunden hat. Ein Widerhaken wäre gut, dann könnte seine Beute sich nicht so leicht losreißen.
Mit der Speerspitze zeichnet sie in den Sand, was sie meint. Der Junge betrachtet ihre Zeichnung nachdenklich und sieht sich die Knochenspitze genau an. Beinahe glaubt sie seine Gedanken zu hören, während er mit der Fingerspitze darüber fährt. Da hebt er den Kopf und sieht über ihre Schulter zur andern Seite der Hütte. Sie folgt seinem Blick.
Jalai kommt aus dem Dorf zurück, in Begleitung von drei weiteren Männern. Einer davon ist Salej, der Jäger. Die andern kann sie auf den ersten Blick nicht erkennen.
Rasch löst Naliq die provisorisch an seinem Speer festgeknotete Schnur, nickt ihr kurz zu, dreht sich um und rennt leichtfüßig davon. Naom sieht ihm mit gerunzelter Stirn nach, bis er im Wald verschwunden ist. Weshalb der Junge wohl so verschreckt auf alle außer ihr reagiert? Ein weiteres Mal verwünscht sie ihre Unfähigkeit, richtig zu kommunizieren. Wenn sie bloß diese Sprache besser beherrschen würde!
Ungeschickt wickelt sie die Schnur zusammen, um sie Jalai zurückzureichen. Der alte Mann bedankt sich höflich und bittet sie, bei der Feuerstelle Platz zu nehmen. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in ihrem Magen aus.
Der Heiler benimmt sich sonst ihr gegenüber nicht so förmlich. Vermutlich sind die drei Besucher der Grund für sein ungewohntes Verhalten. Ob dies wichtige Personen sind? Außer Salej hat sie sicher einen der anderen Männer schon gesehen. Er ist vermutlich ein gutes Stück älter als Jalai und trägt das Haar in einem ähnlichen Zopf wie Salej. Seine Augen verschwinden fast in dem Netzwerk von Fältchen, die sein Gesicht überziehen. Der dritte der Männer ist jung, wohl noch nicht einmal zwanzig. Seine Kleidung und Haartracht unterscheidet sich aber kaum von den anderen beiden. Aber der arrogante Blick, mit dem er sie mustert, stellt selbst Salej's permanentes Stirnrunzeln in den Schatten.
Sie setzt sich auf den von Jalai angebotenen Platz, bemüht, möglichst selbstbewusst zu wirken. Das ist nicht einfach, umgeben von so viel unverhohlenem, männlichem Missfallen. In diesem Moment bereut sie es, nicht wie Naliq davonlaufen und im Wald Schutz suchen zu können.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top