12 - Entschluss
Als Naom hinter sich Schritte auf den Kieseln knirschen hört, glaubt sie zunächst, Naliq komme sie am Strand besuchen. Sie bleibt deshalb ruhig sitzen, gespannt darauf, wie es dem Jungen geht. Erst als der Schatten des Herannahenden auf ihre nackten, im warmen Sand vergrabenen Füße fällt, wird ihr klar, dass dies nicht der schmächtige Junge ist. Eilig und ungeschickt steht sie auf, um sich dem Ankömmling zuzuwenden.
Es besteht kein Zweifel, dies ist der selbe Jäger, der ihr und Naliq nach dem Unfall vor einigen Tagen auf den Klippen begegnete. Zu gut erinnert sie sich an die zusammengekniffenen Augen, die senkrechte Stirnfalte und den langen, schwarzen Zopf. Wieder trägt der Mann seinen Bogen in der Hand und aus dem Köcher über seiner Schulter ragen die gefiederten Enden von Pfeilen.
Am liebsten würde sie vor dem stechenden Blick dieser dunklen Augen davonlaufen, aber sie glaubt nicht, dass dies eine gute Idee wäre. Andererseits kann sie sich nicht vorstellen, was der Fremde von ihr will. Außer sie anzustarren, natürlich, denn genau das tut er auch diesmal wieder ausgiebig und kommentarlos.
Hat dieser unangenehme Tarzan von einem Kerl noch nie eine Frau gesehen? Weder Naliq noch Jalai reagierten jemals so auf sie, selbst wenn ihre Haarfarbe nicht der hiesigen Norm zu entsprechen scheint.
Zunächst ist sie versucht, den Blick zu senken, wie sie es damals im Wald tat. Aber irgendetwas in ihr sträubt sich dagegen. Deshalb richtet sie sich gerade auf und legt ihren verletzten Arm vor die Brust, wie Jalai es manchmal tut, wenn er einen wichtigen Gast aus dem Dorf begrüßt. Gleichzeitig versucht sie, sich an die passenden Worte zu erinnern. Was kann schon schief gehen?
„Eshe ika Naom. Ja-eshe ej alejko?"
Die Reaktion des Jägers ist überraschend. Seine Augen weiten sich, und ohne den verbissenen Ausdruck wirkt sein entspanntes Gesicht beinahe sympathisch. Ob er sie wohl verstanden hat? Naom übte genau diesen Satz mit Jalai, bis der Heiler mit ihrer Aussprache zufrieden war. Wenn sie ihren geduldigen Lehrer richtig begriffen hat, bedeutet er soviel wie ‚ich heiße Naom. Wie heißt du?' Wobei das abschließende alejko ein Ausdruck der Höflichkeit ist und wohl soviel wie bitte bedeutet.
Mit Bedauern stellt sie fest, dass der Moment der Überraschung bei ihrem Gegenüber bereits vorbei ist und sich die Augen des Jäger wieder verengen, die dunklen Brauen zusammenziehen. Leider kennt sie keine weiteren passenden Konversationsbeiträge auswendig.
Der Mann legt den Kopf etwas schräg und schaut sie unverwandt an. Nach einer Weile, sie überlegt sich gerade, ob sie sich abwenden und davongehen soll, deutet er ein Nicken an und seine Züge entspannen sich etwas.
„Eshe ika Salei. Kahlaj-ej."
Dann dreht er sich auf dem Fußballen um und läuft leichtflüssig davon, in Richtung des Dorfes. Überrascht blickt Naom ihm nach. Das war zwar keine flüssige Unterhaltung, dennoch ist sie gewillt, es als einen ersten gelungenen Versuch der Kommunikation zu werten. Abgesehen von ihren langen Sprachlektionen mit Jalai und der eher erratischen und stark von Handzeichen abhängigen Verständigung mit Naliq, natürlich.
Zumindest hat der Fremde ihr seinen Namen verraten und sich höflich verabschiedet. Kahlaj heißt soviel wie auf Wiedersehen oder wir sehen uns. Sie blickt Salej nach, bis er hinter den Felsen verschwindet. Ob sie ihm folgen soll? Nein, wohl besser nicht. Aber sie könnte ein Stück in Richtung des Dorfes gehen, nur um sich den Ort einmal aus der Entfernung anzusehen. Die Neugier darauf plagt sie schon viel zu lange.
Bevor sie sich dazu entschließen kann, diese Idee in die Praxis umzusetzen, lässt das Geräusch weiterer Schritte sie herumfahren.
Diesmal ist es tatsächlich Naliq, der angerannt kommt. Außer Atem aber mit einem breiten Grinsen stoppt er direkt vor ihr und streckt ihr stolz ein Paddel entgegen. Es ist offensichtlich neu, und einen Speer trägt er ebenfalls wieder mit sich. Allerdings ist dieser mit einer weniger ausgeklügelten Spitze bewehrt als der alte. Es sieht aus, als hätte der Junge einfach einen langen, spitzen Knochensplitter an einen geeigneten Stab gebunden.
Plötzlich werden Naom zwei Dinge klar. Erstens, dieser Junge stellt all seine Ausrüstung selbst her. Vermutlich lebt er sogar allein, irgendwo im Wald. Das würde auch das Bedürfnis nach ihrer Gesellschaft erklären.
Und zweitens, sie kann sich nicht erinnern, Gegenstände aus Metall gesehen zu haben, seit sie an diesem seltsamen Ort erwachte. Alle Werkzeuge sind aus Knochen oder Stein und anderen, natürlichen Materialien gefertigt.
Über diesen verwirrenden Gedanken verpasst sie völlig, was Naliq zu ihr sagt. Nach dem fragenden Blick, den er ihr zuwirft, wartet er auf eine Antwort.
Bedauernd macht sie mit der linken Hand die drehende Geste, die bedeutet, dass sie nicht verstanden hat. Sie ist ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden. Immerhin scheint der Junge dies auf ihre ungenügenden Sprachkenntnisse und nicht auf ihre mangelnde Aufmerksamkeit zurückzuführen.
Langsam wiederholt er Wort für Wort, und diesmal passt Naom auf, dass sie ihm folgen kann. Naliq will wissen, ob sie mit ihm das Boot abholen möchte.
Sie schenkt ihm ein strahlendes Lächeln. Natürlich will sie. Ihr ist jede Gelegenheit recht, für eine Weile aus Jalais Hütte oder der kleinen Bucht zu entkommen und etwas Neues zu erleben. Außerdem zieht sie es vor, dass Naliq nicht allein aufs Meer hinausfährt, solange er nicht schwimmen kann. Ihr Lächeln wird noch eine Spur breiter, als ihr eine Idee kommt. Sie wird dem Jungen das Schwimmen beibringen. Vielleicht nicht heute, aber in den nächsten Tagen.
Ihr junges Opfer hat keine Ahnung, was ihm bevorsteht, als Naliq voller Eifer beginnt, den schmalen Pfad zu den Klippen hinaufzuklettern.
~ ~ ~
Silvio unterbricht das Telefonat und lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück. Mit offenen Augen starrt er blicklos an die Wand gegenüber. Das Werbeplakat mit einem weißen Sandstrand unter Palmen kann ihn nicht von den Sorgen ablenken, die ihn seit Tagen beschäftigen. Auch der Anruf bei seinem Partner Pascal half nicht, seine Befürchtungen zu lindern. Irgendetwas mit der Betaversion des Portals läuft nicht, wie es soll. Und Louisa bleibt verschwunden.
Zunächst war er etwas sauer auf seine Mitarbeiterin, weil sie mit der abschließenden Testserie weitermachen wollte, während er an einer Messe teilnehmen musste. Er hätte zu gern selbst die Praxistests des Portals verfolgt. Eigentlich hätte Lou in dieser Zeit die Italienreise leiten sollen. Pascal war nicht glücklich über die Verzögerung, stimmte aber notgedrungen einer einwöchigen Verschiebung zu.
Dann überzeugte Louisa ihren Bruder, sie in Italien zu vertreten. Silvio war nicht begeistert, willigte aber ein. Wenn sie „Neue Welt" auf die Weihnachtssaison hin ins Programm aufnehmen wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Tests voranzutreiben. Bei einem solchen Unternehmen darf nichts schief laufen, sobald es öffentlich ist.
Nun, offensichtlich läuft noch einiges schief, sonst wäre Lou inzwischen wieder aufgetaucht. Pascal meint zwar, sie könnte jeden Moment wieder erscheinen, aber inzwischen zweifelt Silvio daran. Eigentlich waren nur kurze Testbesuche von wenigen Minuten geplant. Diese verliefen nach Auskunft der Techniker erfolgreich. Deshalb starteten sie einen weiteren Versuch. Diesmal hatte Louisa die Option, freiwillig länger zu bleiben, bis zu drei Tagen, wobei abgemacht war, dass sie sich spätestens drei Stunden nach dem Transfer zurückmelden würde.
Falls sie dies nicht tat, sollte die Portalsteuerung sie automatisch zurückholen. Behaupteten die Ingenieure. Das Problem war, dass Lou sich nicht meldete und dass der Rückholmechanismus nicht ansprang.
Silvio reibt sich den kurzen Bart und schaltet seinen Rechner aus. Es ist sinnlos, sich Illusionen hinzugeben, das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen und weist schwerwiegende technische Mängel auf. Dass es strikter Geheimhaltung unterliegt, macht die Situation nicht besser. Die Inhaber von KeyHoleTravel inc. sind sehr darauf bedacht, ihr Geheimnis nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Nun, Silvio kann das nachvollziehen. Das Ganze ist zu sensationell, um sich von Werkspionen die technischen Spezifikationen stehlen zu lassen.
Aber im Moment wäre es ihm lieber, er hätte nichts mit der Sache zu tun. Leider geht das nicht, er ist so oder so involviert und riskiert, einiges zu verlieren. Ein großer Teil seines Vermögens steckt in dem Projekt. Und nun buchstäblich auch seine Freundin.
Seufzend steht er auf, um sich einen Kaffee zu holen. Zum Glück ist Melanie bereits nach Hause gefahren. Er will die junge Frau nicht auch noch in diese Sache hineinziehen. Sie hat genug Sorgen am Hals mit ihrem kleinen Kind. Andererseits braucht er Hilfe, wenn er der Sache auf den Grund gehen will. Jemanden, der ihm den Rücken freihält, damit er nicht spurlos verschwindet wie Louisa.
In Gedanken geht Silvio mögliche Partner durch. Aber all seine Kollegen aus der Reiseindustrie kommen nicht in Frage. Zu gefährlich, Pascal würde sie niemals akzeptieren. Er bestand von Anfang an darauf, dass Silvio einzig seine vertraute Mitarbeiterin Louisa in das Projekt einweihte. Am liebsten wäre es seinen Geschäftspartnern natürlich gewesen, ganz ohne Mitwisser auszukommen, bis alle Patente registriert und das Unternehmen rechtlich geschützt wäre. Dies ließ sich aber aus praktischen Gründen nicht durchziehen. Silvio hatte zu viel zu tun, um stets für Fragen und Tests zur Verfügung zu stehen. Außerdem verstand Lou vermutlich besser als er, was den Kundenwünschen entsprach.
Deshalb war sie bald nicht nur zur idealen Stellvertreterin avanciert, sondern auch eine wertvolle Unterstützung für die Ausarbeitung der marktfähigen Details. Das sah auch Pascal ein, und tatsächlich wendeten sich seine Ingenieure inzwischen mit den meisten Fragen direkt an Lou.
Silvio konnte das recht sein. Durch seine substantielle finanzielle Beteiligung war ein solider Gewinnanteil für ihn ohnehin gewährleistet. Lou würde ihren Anteil bekommen, aber Rechte an der Erfindung besaß sie keine. Alles schien geregelt – bis zum Tag, als Louisa verschwand.
Silvio trinkt den Kaffe aus und stellt die Tasse hart auf den Tisch. Sein Entschluss steht fest. Es bleibt ihm einfach nichts anderes übrig. Das Gespräch im Park diente dazu, den Mann einzuschätzen, und er ist sicher, dass er die richtige Person gefunden hat. Er wird Lous Bruder Thomas ins Vertrauen ziehen.
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