11 - Der Jäger

Alfred wartet bereits, als Tom das Lokal betritt. Er freut sich, den Rentner zu treffen. Besonders nach dem unbefriedigenden Versuch vom Wochenende, im Ausgang mit Kollegen die Sorge um Lou und den Verlust von Sandy im Alkohol zu ertrinken. Außer Kopfschmerzen am Sonntagmorgen brachte das Experiment keine Ergebnisse. Dass er anschließend bei einem ausgedehnten Spaziergang am See ausgerechnet Sandy begegnen musste, half auch nicht. Sie sah gut aus, wie sie ihm in einem neuen Jogging-outfit entgegengerannt kam. Sogar ein freundliches Lächeln hatte sie für ihn übrig. Nicht so ihr Begleiter, ein großer, muskulöser Sportlertyp, der Tom im Vorbeilaufen arrogant musterte. Zumindest interpretierte er den Blick aus zusammengekniffenen Augen so. Ob das wohl dieser tolle Mark war?

Er begrüßt Alfred und setzt sich zu ihm. Der Rentner betrachtet ihn nachdenklich.

„Du siehst noch nicht besser aus als beim letzten Mal. Immer noch Liebeskummer oder in Sorge um die Schwester?"

„Immer noch am Gedankenlesen? Beides, ehrlich gesagt. Aber wir wollen nicht schon wieder den ganzen Abend über mich sprechen. Wie geht es dir?"

„Blendend, für mein Alter. Und wenn du nun hoffst, ich würde dir von meinen langweiligen Gebrechen erzählen, hast du dich geschnitten. Dein Leben erscheint mir gerade um einiges spannender. Also, wie ist der neuste Stand der Dinge?"

Tom lächelt. Insgeheim ist er froh, dass er Alfred alles erzählen kann, was ihn beschäftigt. Das hilft ihm, die Gedanken zu ordnen. Und das hat er nach dem Gespräch mit Silvio dringend nötig.

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Nach dem misslungenen Bootsausflug lässt sich Naliq einige Tage nicht blicken. Naom macht sich Sorgen, insbesondere da Jalai auch nichts über den Verbleib des Jungen zu wissen scheint. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.

Ihr Arm hat die Anstrengung erstaunlich gut überstanden und Jalai scheint mit dem Heilungsprozess zufrieden zu sein. Nach ihrer Rückkehr kürzte er sogar die Schiene ein Stück, so dass sie nun die Finger der rechten Hand einigermaßen gebrauchen kann.
Allerdings ist sie froh, dass der alte Heiler nicht weiß, was genau an diesem Tag geschah.

Nachdem sie beide wieder im Boot saßen und feststellten, dass Naliqs Speer und das Paddel verschwunden waren, blieb ihnen keine Wahl. Wenn sie nicht schwimmen wollten, mussten sie das Boot mit bloßen Händen ausschöpfen und zurück zum Ufer paddeln.
Das erwies sich als anstrengend, und es stand außer Frage, den Weg zurück um das Kap herum zu nehmen. Deshalb steuerten sie die Steilküste an, genauer gesagt eine winzige, felsige Bucht am Fuß der Steilwand. Naliq versicherte ihr glaubhaft, von dort gebe es einen Weg durch die Felsen.

Dies bestätigte sich. Sie zogen das Boot soweit es ging auf den schmalen Kiessaum und kletterten los. Barfuß und mit nur einer Hand brachte die Herausforderung sie nahe an ihre Grenzen. Aber schließlich hatten sie es geschafft. Oben führte ein schmaler Trampelpfad der Klippe entlang. Sie folgten ihm zurück Richtung Bucht, Naliq leichtfüßig voran, sie langsam und vorsichtig hinterher. Obwohl sie seit Wochen keine Schuhe getragen hatte, waren ihre Fußsohlen deutlich empfindlicher als diejenigen des Jungen.

Immerhin war Naliq rücksichtsvoll genug, immer wieder auf sie zu warten. Der Junge fragte mehrmals nach ihrer Hand und schien wegen des Abenteuers ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie schaffte es mit ihren mangelhaften Sprachkenntnissen nicht, ihn davon abzubringen. Erst als sie unterwegs am Fuß einer Palme einige reife Kokosnüsse fanden, ließ er sich ablenken. Geschickt öffnete er mit seinem Messer eine Nuss und reichte sie ihr. Die kühle Flüssigkeit war köstlich. Gestärkt machten sie sich wieder auf den Weg, je eine weitere Nuss mit sich tragend.

Stellenweise war der Pfad fast nicht zu erkennen und führte über scharfe Felsen oder durch dichtes Dornengestrüpp. An einer etwas offeneren Stelle blieb Naliq plötzlich wie angewurzelt stehen. Bevor sie fragen konnte, was los sei, bedeutete er ihr, zurückzugehen. Dann hörte sie die Schritte auch, und es war zu spät, sich zu verstecken oder einen Fluchtplan zu schmieden.

Mit entblößtem Messer stellte sich Naliq vor sie hin, bereit sie zu verteidigen. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, und sie sah sich unwillkürlich nach einer Waffe oder einem Fluchtweg um. Nachdenklich wog sie die Kokosnuss in ihrer Hand. Schlimmstenfalls gäbe sie ein gutes Wurfgeschoss. Der Junge schien sich vor dem, was da auf sie zukam, zu fürchten. Da tauchte zwischen den Büschen wenige Meter voraus auch schon ein Fremder auf. Bei ihrem Anblick blieb er überrascht stehen.

Der Mann mochte ungefähr ihre Größe haben und besaß das gleiche schwarze Haar wie Naliq. Allerdings war seines in einen komplizierten Zopf geflochten, der ihm über die linke Schulter fiel. Sein Alter war schwer zu schätzen. Das Gesicht mit der breiten Nase und den hochliegenden Wangenknochen zeigte keine Gefühlsregung, aber die Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und auf der Stirn zeigte sich eine senkrechte Falte.

Mit scharfer Stimme stellte der Fremde eine Frage, die sie nicht verstehen konnte und die wohl ohnehin an Naliq gerichtet war. Zumindest richtete sich der Junge zu seiner vollen Größe auf, bevor er antwortete.

„Eshe ika Naliq. Om ejta eshe Naom. Ka enno-ej nialto."

Der Fremde musterte sie nach dieser Vorstellung wortlos und blieb unbewegt stehen, die rechte Hand um den Schaft eines langen Bogens geschlossen, die linke auf dem Griff eines ähnlichen Messers, wie Naliq es trug. Über der Schulter trug er einen Köcher mit vielen langen Pfeilen. Seine Kleidung ähnelte derjenigen des Jungen und ließ einen sehnigen Oberkörper frei, der verschiedene Narben zeigte. Nun, immerhin bedrohte er sie nicht direkt sondern starrte sie nur an.

Plötzlich gewahr, dass sie das gleiche tat, senkte Naom den Blick. Sie hatte keine Ahnung, was in dieser Gesellschaft als unhöflich galt. Aber der Fremde schien sich nicht an ihrer Neugier zu stören. Zumindest legte er den Kopf in dieser seltsamen Geste schräg und bedeutet ihnen mit einem Winken, weiterzugehen.

Die seltsame Begegnung beschäftigte sie, bis sie Jalais Bucht erreichten. Dort drehte sich ihr junger Führer abrupt zu ihr um und verabschiedete sich mit einer gemurmelten Entschuldigung. Erstaunt sah sie ihm nach, während er im Dickicht verschwand.

Jalai, der vor der Hütte saß, erkannte sofort, dass etwas passiert sein musste. Aber nachdem er sich versichert hatte, dass ihr Arm in Ordnung war, ging er über den Vorfall hinweg. Ihre Sprachbeherrschung reichte nicht, um ihn nach dem Namen des Jägers zu fragen, der ihnen begegnete.

Nun wartet sie seit Tagen auf einen erneuten Besuch Naliqs. Sie fürchtet, dass der Junge entweder Angst vor dem Meer hat oder so unvernünftig ist, allein zum Boot zurückzukehren und es um das Kap zu paddeln, obwohl er nicht schwimmen kann.
Inzwischen getraut sie sich nicht, die Umgebung der Hütte zu verlassen. Einzig hinunter zum Strand geht sie regelmäßig, getrieben von der Hoffnung, Naliq oder sein Boot dort zu finden.
Aber als sie endlich einen Besucher antrifft, ist es nicht der Junge, sondern der fremde Jäger.

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Wie oft am Dienstag blieb es im Reisebüro den ganzen Tag ruhig und Melanie fand Zeit, zahlreiche Dinge zu erledigen, die in den vergangenen Wochen liegenblieben. Dies obschon Doris heute nicht da ist und Silvio sich bereits um drei Uhr nachmittags verabschiedete. Inzwischen ist ihr Schreibtisch wieder ordentlich aufgeräumt, die Mails sind beantwortet und die Reiseprogramme für alle Gruppenreisen der nächsten Wochen ausgedruckt und versandbereit.

Sie blickt sich im Büro um. Was gibt es sonst noch zu tun? Nun, sie kann die beiden dekorativen Palmen gießen, die bereits Zeichen der Vernachlässigung zeigen. Lou kümmerte sich stets liebevoll um die tropischen Zimmerpflanzen. Sie meinte, diese würden den Kunden ein Gefühl von Ferienstimmung vermitteln.

Lou... was ihr wohl zugestoßen ist? Wie Thomas glaubt Melanie nicht daran, dass ihre Kollegin einfach abgehauen ist. Weshalb sollte sie? Sie liebt ihren Job und besonders das Projekt „Neue Welt" hat es ihr angetan. Melanie ist nicht in die Details eingeweiht, aber Louisa war leicht zu durchschauen. Ihr lag wirklich viel an dem Projekt, selbst wenn sie sich über den Namen lustig machte. Sie behauptete, die Entdeckung Amerikas sei ein Klacks gegen die Möglichkeiten, die „Neue Welt" bieten würde.

Melanie hatte für ihre Begeisterung nur ein Kopfschütteln übrig. Was könnte so revolutionär sein, dass es dieser Prahlerei Rechnung trug? Eine Reise zum Mars vielleicht. Oder... ihr Atem stockt. Was ist, wenn Lou tatsächlich von etwas verrücktem wie einer Zeitreise sprach? Nein, das ist nicht denkbar. Zeitreisen sind unmöglich. Das weiß jedes Kind.

Mit einem Seufzen stellt Melanie die Gießkanne ab. Natürlich, nun hat sie der Pflanze zu viel Wasser zugemutet und der tönerne Untersatz quillt über. Rasch eilt sie ins Klo, um einen Putzlappen zu holen. Auf den Knien trocknet sie die sich rasch ausbreitende Pfütze auf. Dabei schilt sie sich eine Närrin. Sie ist wirklich zu alt, um sich in Tagträumen zu verlieren. Andererseits, was ist, wenn doch?

Sobald die Überschwemmung eingedämmt ist, tritt sie an Lous Arbeitsplatz. Ob sie es versuchen soll? Nun, vermutlich ist der Rechner ohnehin passwortgeschützt. Entschlossen setzt sie sich auf den Stuhl der verschwundenen Kollegin und schaltet den Computer ein. Während sie darauf wartet, dass er hochfährt, öffnet sie mit klopfendem Herz die oberste Schublade des Schreibtischs. Melanie weiß aus Erfahrung, dass Lou darin ihre Vorräte aufbewahrt. Tatsächlich liegen da drei vollständige und eine angebrochene Tafel schwarzer Schokolade. Zudem findet sie eine Packung Hustenbonbons und eine Stange Kaugummi. Gedankenverloren steckt sie sich einen davon in den Mund. Pfefferminz, Lous Lieblingsmarke. Wo sie bloß steckt?

Auf dem Bildschirm erscheint die Login-Maske. Rasch tippt Melanie den Benutzernamen ein. Dann starrt sie auf das leere Passwortfeld. Sie hat keine Ahnung, was sie einsetzen soll. Mit nur drei Versuchen wird es ihr niemals gelingen, an Louisas Daten heranzukommen. Kurzentschlossen schaltet sie den Rechner wieder aus und widmet sich dem Schreibtisch.

Er enthält nichts besonderes, einen Stapel Visitenkarten, eine Hängeregistratur mit verschiedenen Dokumenten, nichts was ihr Informationen zu dem Projekt liefert, das so sensationell sein soll. Schließlich findet sie das schwarze Heft, in dem Lou Besprechungsnotizen festhält. Es hat schon Eselsohren und einige Flecken auf dem Einband, so lange ist es in Gebrauch. Ein deutliches Zeichen dafür, dass Louisa inzwischen den größten Teil ihrer Arbeit elektronisch abwickelt.

Melanie blättert durch die Seiten, die vorwiegend langweilige Daten enthalten, Notizen zu Flugplänen, Adressen von Hotels und Telefonnummern von Kunden. Zwischendurch findet sie Kritzeleien von erstaunlich guter Qualität. Landschaften, Pflanzen, Tiere, aber auch Gesichter. Überrascht erkennt Mel sich selbst, gezeichnet während einer Sitzung vor wenigen Monaten. Eine anderes Bild zeigt Silvio, und auch Doris ist da, mir ihrem Pferdeschwanz und der modischen, viel zu großen Brille.

Es ist beinahe beschämend, dass ihr noch nie auffiel, wie gut Lou zeichnen kann. Melanie blättert weiter, gespannt auf weitere Kunstwerke. Das nächste ist von völlig anderer Art. Ein wilder Wirbel von Strichen füllt eine ganze Seite, zieht ihren Blick an und in die Tiefe. Was das wohl darstellen soll? Mels Aufmerksamkeit bleibt an einer hingekritzelten Notiz am Bildrand hängen.

Portal zu neuen Welten – wenn das Unmögliche möglich wird. Traust du dich, den Schlüssel zu benutzen?

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