Teil 87 ( Nadja )
Wir saßen alle zusammen an einer gedeckten Kaffeetafel, es war Mutters 60. Geburtstag und dem Anlass angemessen war die ganze Familie zu ihr gekommen, um zu feiern: Igor und seine Frau und Kinder sowie Tante Shenja und Marina und ihre Familie, die alle auf dem Hof lebten, aber auch Oksana mit Mann und Kindern und Lena. Mila hatte sich gefreut, ein paar Tage mit ihren Cousins und Cousinen auf dem Land verbringen zu können, aber ich hatte dem Treffen mit gemischten Gefühlen entgegen gesehen. Zwar hatte sich meine Beziehung zu meiner Familie seit Milas Erkrankung wieder ein wenig intensiviert. Mutter hatte uns zwei Mal besucht, um uns behilflich zu sein – wofür ich wirklich dankbar war – und sie und Igors Frau Maria hatten freundliche und ermutigende Briefe geschrieben. Dennoch schlug mir aufgrund meiner damaligen Entscheidung, den Hof zu verlassen, nicht besonders viel Zuneigung entgegen. Lediglich Oksana befragte mich interessiert nach meiner Arbeit. Dieses Desinteresse war nichts Neues, wider besseren Wissens war ich trotzdem enttäuscht, aber beschloss, mich davon nicht ärgern zu lassen, sondern einfach das Wochenende zu genießen.
Ich lauschte Igors und Boris' Unterhaltung über ein neues motorisiertes Gerät für die Landwirtschaft und über eine zu lange Trockenperiode und war unbeschreiblich froh, dass ich mir um derlei Dinge keine Gedanken zu machen brauchte. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und genoss die Laute der um mich herum wabernden Gesprächsfetzten, sog den Duft nach Feldern und Wald ein, der durch ein offenes Fenster herein wehte. Die Erinnerung an die Kindheit auf dem Land überfiel mich unerwartet und für einen Moment verspürte ich Sehnsucht nach dem Gefühl des Sandes auf dem Feld unter meinen bloßen Füßen und dem des klaren Wassers auf meiner Haut, wenn ich im Waldsee schwimmen gewesen war. Vielleicht konnte ich später die Stätten meiner Kindheit aufsuchen...
Mit meinen Gedanken in der Vergangenheit drang wie aus weiter Ferne Milas aufgeregte Stimme an mein Ohr:
„Natürlich weiß ich, wer mein Vater ist!"
Ich richtete mich im Stuhl auf und lauschte unauffällig und bekam daher mit, wie einer von Milas Cousins stichelte:
"Du hast ihn doch noch nie gesehen. Es könnte jeder sein. Sogar der Pockennarbige in der Mühle."
Milas Gesicht rötete sich leicht, als sie in dem Versuch, eine würdevolle Antwort zu finden, entgegnete:„Zufällig weiß ich, dass er es nicht ist."
„Ich wette, es ist jemand aus der Gegend", mutmaßte Milas Cousine Ljuba. „Das mit der weiten Entfernung hat deine Mutter bestimmt nur gesagt, damit sie hier keinen heiraten muss und in die Stadt gehen kann."
Ich hielt unwillkürlich den Atem an und überlegte, wie ich die Diskussion unterbrechen konnte.
„Das... das stimmt nicht", hörte ich Mila sagen und bemerkte, dass sich Verärgerung in ihre Stimme gemischt hatte.
„Und es ist bestimmt doch ein hässlicher alter Mann", johlte Sascha grinsend, „deswegen ist er auch im Verborgenen geblieben, als er dir Knochenmark gespendet hat."
Inzwischen waren auch die anderen Erwachsenen auf die Diskussion zwischen den jungen Leuten aufmerksam geworden und hatten ihre Unterhaltung eingestellt. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit betonter Fröhlichkeit in die Runde zu fragen:„Wer möchte noch etwas Kuchen?"
Keiner reagierte. Ehe ich sonst noch etwas tun konnte, war Mila aufgestanden, sah ihre Cousins mit blitzenden Augen und hervor gerecktem Kinn an und erwiderte:
„Mein Vater ist nicht alt! Er ist 35. Und wie er aussieht, ist mir völlig egal, weil er mir das Leben gerettet hat!"
Ich war kurz davor, meiner Tochter stolz zu applaudieren – sie hatte ja so Recht – als Sascha mit der selbstsicheren Gewissheit seiner 14 Jahre kommentierte:
„Aber wenn er dich wirklich mögen würde, dann wäre er zu dir gekommen."
Milas Augen begannen ein verräterisches Glänzen zu zeigen.
„Nun hört man mal auf mit der Streiterei", versuchte Mutter zu vermitteln, während Mila gleichzeitig mit lauter Stimme entgegnete:
„Aber er wird noch kommen. Ich habe ihm einen Brief nach Deutschland geschrieben und warte nur noch..."
Es wurde plötzlich so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Mila verstummte und schlug die Hände vor den Mund, als sie in die fassungslosen Gesichter ihrer Verwandten sah und ihr klar wurde, was sie gerade preisgegeben hatte. Geschockt vergrub ich mein Gesicht in den Händen.
Ich dachte an dem Moment zurück, als ich Mila einige Tage nach der geglückten Operation erzählt hatte, dass das passende Knochenmark von ihrem Vater gekommen war. Sie hatte da, müde und dünn, in ihrem Krankenhausbett gelegen, aber ihre Augen hatten zu leuchten angefangen.
„Ist er jetzt hier?", hatte sie erwartungsvoll gefragt und ich hatte mich mit einem Seufzer an ihr Bett gesetzt, ihre Hand genommen und gesagt:
„Hör mal, Mila, was ich dir jetzt sage, muss unter uns bleiben. Versprochen?"
Sie hatte verwundert genickt und ich war fortgefahren:
„Dein Vater, der... also er... er lebt in Deutschland."
Mila hatte mich mit großen Augen fragend angesehen. Als ich nichts weiter von mir gab, hatte sie verwundert zu fragen begonnen.
„Ist er nach Deutschland gezogen? Oder heißt das... heißt das, er ist ein Deutscher?" Ihre Stimme brach und ich hatte schweigend genickt.
Daraufhin hatte Mila empört gerufen:„Das glaube ich nicht! Das sagst du nur, um mich zu ärgern!"
„Milotschka..."
Wütend hatte sie ihre Hand fortgezogen, den Blick abgewendet und aus dem Fenster gesehen. Dann hatte sie angefangen zu weinen. Ihre Schultern hatten gebebt, aber als ich versuche, den Arm um sie zu legen, schüttelte sie ihn wortlos ab.
„Ich will das nicht", schluchzte sie, „Ich will nicht, dass einer von denen mein Vater ist."
Ich hatte mich hilflos gefühlt und mich gefragt, ob es richtig gewesen war, Mila die Wahrheit zu erzählen. Nach einer Weile hatte sie sich mit tränenfeuchten Wangen zu mir zurückgedreht und geflüstert:
„Ich habe immer geglaubt, er wäre ein gut aussehender schwarzhaariger Tatar aus Sibirien."
Ich hatte vorsichtig gelächelt und gesagt:„Du hast deine blonden Haare von ihm".
Für einen Moment hatten wir beide geschwiegen.
„Aber wieso?", hatte Mila schließlich anklagend gefragt. „Die Deutschen waren doch bei uns einmarschiert und hatten unser Land besetzt! Oder..."
Sie hatte mich mit einem ängstlichen Blick bedacht und ich erkannte, was in ihrem Kopf vor sich ging.
„Nein, nein", hatte ich sie rasch beruhigt, „so war es nicht."
Und dann hatte ich ihr die ganze Geschichte unserer großen Liebe erzählt.
Mila hatte schweigend zugehört, ohne mich zu unterbrechen, mit gesenktem Kopf hatte sie auf die Bettdecke gestarrt. Als ich geendet hatte, hatte sie zu mir aufgesehen und leise gesagt:
„Das war eine schöne Geschichte, Mama. Aber ich muss jetzt erst mal darüber nachdenken. Ich weiß noch nicht, was das für mich bedeutet."
Und das hatte sie getan. Einige Tage später hatte sie mir schließlich mitgeteilt, dass es ihr egal sei, ob ihr Vater dick oder dünn, alt oder jung, orthodox oder jüdisch, Sowjetbürger, Deutscher oder Eskimo sei – die Hauptsache sei, dass er ein mitfühlender Mensch sei. Und dass sie ihn gern einmal kennen lernen würde.
Nun hatte sie ihm also geschrieben. Wo sie bloß die Adresse gefunden hatte? Ich wusste nicht, ob ich das jetzt gut oder schlecht finden sollte. Schlimm war allerdings, dass es alle gehört hatten. Ich merkte, dass mir überhaupt nicht klar gewesen war, wie sehr Mila in all den Jahren einen Vater vermisst hatte. Was mochte sie ihm geschrieben haben?
Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, als ich wieder aufblickte, und doch war es nur ein Moment gewesen. Ich schaute zu Mila, die mich ängstlich ansah, blickte dann in die Runde, aus der man mich mit einer Mischung aus Verachtung, Zorn und Neugier anstarrte.
„Was soll das heißen?", fragte Igor mühsam beherrscht.
Seine Augenbrauen hatten sich unheilvoll über der Nasenwurzel zusammen gezogen. Maria legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. Mir fehlten im Augenblick die Worte und ich konnte ihn nur schweigend ansehen.
„Wird's bald!", explodierte Igor und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Instinktiv zuckte ich zusammen, Milas Aufschrei „Mama!" und das neugierige Tuscheln der Nichten und Neffen drang wie im Nebel an mein Ohr. Oksana erfasste die Situation und scheuchte die jungen Leute aus dem Raum. Ich sah, wie sich Igor's Gesicht vor Zorn rötete, fühlte mich jedoch weiter außerstande, etwas zu sagen.
„Während andere ihr Leben gaben, um die Faschisten aus unserem Land zu jagen, hast du dich ihnen an den Hals geschmissen", schimpfte Igor laut, den Ton voller Verachtung. „Du bist nichts weiter als ein Deutschenflittchen! Und eine Kollaborateurin noch dazu!"
Die Ungerechtigkeit seines Vorwurfs versetzte mir einen Stich und löste endlich meine Erstarrung. Wer war er, dass er so mit mir umspringen konnte! Immerhin lebte ich seit über 10 Jahren selbständig in Minsk und war keinem Rechenschaft über mein Leben schuldig, am wenigsten einem Bruder, der mich überhaupt nicht wirklich kannte.
Wütend stand ich auf, stemmte die Hände auf den Tisch und zischte ihm ein „Du hast ja keine Ahnung, wovon du sprichst!" entgegen.
„Das brauche ich auch nicht, mir reicht das Ergebnis", gab er bissig zurück. Zornig blickte er in die Runde. „Wieso hat von euch keiner etwas bemerkt? Oder wusstet ihr davon?"
„Natürlich nicht!", empörte sich Marina. „Dann hätten wir doch gehandelt"
„Und hättet was getan?", fragte ich scharf und sah sie zornig an. „Mich nach Sibirien geschickt?"
Betretenes Schweigen folgte dieser Äußerung. Was war ich froh, dass ich mich damals niemandem anvertraut hatte. Zum Glück waren die Zeiten jetzt anders.
„Wer mit dem Feind kollaboriert, gehört eben bestraft", gab Igor von sich.
„Du redest immer von Kollaboration", erwiderte ich hitzig und rechtfertigte mich:„Ich habe doch keine Militärgeheimnisse preisgegeben oder Leute verraten. Als ich Michael kennen lernte, war die Front schon längst weiter im Westen. Und außerdem habe ich ihn geliebt."
Igor blieb unerschütterlich:„Wer sich mit dem Feind gemein macht, ist ein Verräter."
Er war unmöglich. Am liebsten hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben. Wie konnte man Jahre nach dem Krieg noch so intolerant sein!
Meine Mutter mischte sich nun energisch ein:„Nun hört auf mit der Streiterei." Zu Igor gewandt fügte sie hinzu: „Du solltest nicht vergessen, dass dieser Mann immerhin Milotschka das Leben gerettet hat."
Ich setzte mich wieder und schwieg. Igor aber antwortete nur: „Mir reicht's! Ich hör mir das nicht weiter an."
Er stand auf und verlies mit großen Schritten den Raum.
„Er beruhigt sich schon wieder", sagte Maria beschwichtigend, wich aber meinem Blick aus.
Behutsam schenkte sie Kaffee nach. Mutters Blick ruhte schweigend auf mir, aber sie sagte nichts weiter. Auch Lena schwieg und beschäftigte sich ostentativ damit, eine Serviette zu falten. Marina und ihr Mann sahen sich vielsagend an, während mir Oksana tröstend die Hand drückte.
„Hauptsache, Mila geht es wieder gut", flüsterte sie und bot mir an: „Wenn du nachher darüber reden willst – ich höre gern zu."
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