Teil 86 ( Nadja )
1960
Die letzten Testergebnisse waren negativ gewesen. Milas Körper hatte das fremde Knochenmark gut angenommen und jetzt, Monate später, war kaum noch etwas von dem kranken Kind zu erkennen. Professor Sujew warnte mich jedoch, dass die Erholung nicht von Dauer sein könnte, denn das ganze Verfahren war einfach noch zu neu, um eine Prognose für die Zukunft zu wagen. Das focht Mila jedoch nicht an, sie war nun 15 und mit der ihr eigenen Art stürzte sie sich wieder auf ihre Arbeit bei den Komsomolzen, sie fühlte sich gut, und ließ sich daher nicht bremsen. Als Folge der geglückten Operation kamen verstärkt Fragen nach Milas Vater auf, doch ich blieb bei der Geschichte von einem weit entfernt lebenden Vater.
Keiner ahnte, dass das „weit entfernt lebend" im Westen war und nicht im Osten, aber insgeheim befürchtete ich, dass sich die Herkunft ihres Vaters nicht auf Dauer verbergen ließ. In den letzten Monaten hatte Milas Genesung alles überlagert und natürlich war es mir damals völlig gleichgültig gewesen, was die Enthüllung von Milas Vater für Folgen haben konnte. Doch jetzt, wo das Leben wieder seinen gewohnten Gang nachging, fiel es mir schwer, nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn alles bekannt würde. Ich hatte mir ein neues Leben aufgebaut, war eine allseits beachtete Chirurgin geworden und liebte meinen Beruf, obwohl mir wenig Zeit für andere Dinge blieb. Ich hatte mir trotz aller Schwierigkeiten meinen Traum erfüllt und hatte nun gehörige Angst, alles zu verlieren. Dabei hatte ich Glück, dass Professor Borodin, der Leiter des Krankenhauses und damit mein oberster Chef, sich entschieden hatte, den „Makel" in meinem Lebenslauf geflissentlich zu übersehen.
Ich dachte daran, wie er mich kurz nach Milas Operation in sein Büro gerufen hatte und gesagt hatte:„Genossin Birjakowa, ich habe von Dr. Sujew die Herkunft des Knochenmarkspenders erfahren. Mir geht es um Gesundheit und nicht um Politik. Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich alle Angestellten, die davon wissen, zu Stillschweigen verpflichtet habe. Ich möchte Sie als Ärztin nicht verlieren. Aber sorgen Sie dafür, dass es sonst keiner erfährt."
Was ich ihm versprochen hatte. Lediglich Mila wusste Bescheid, war aber von mir zu Stillschweigen verdonnert worden. Ich sank im Sessel zurück, ließ das Buch, das ich gerade las, in den Schoß sinken und schloss müde die Augen. Immer öfter glitten meine Gedanken nun zu Mischa. Ich hatte ihm vor einigen Wochen einen Brief geschrieben, voll des Dankes, dass er Knochenmark gespendet hatte, aber meine Dankbarkeit und Erleichterung waren so tief, dass ich sie kaum in Worte fassen konnte, insbesondere noch in einer fremden Sprache. Ich hatte vor einigen Jahren begonnen, Englisch zu lernen, brauchte es für den fachlichen Austausch mit Kollegen in Großbritannien, doch der Wortschatz für den Privatgebrauch fiel mir schwer und so hatte ich trotz der Hilfe eines Wörterbuches lange gebraucht, den Brief so zu verfassen, dass ich zufrieden war.
Wie glücklich war ich gewesen, als ich von den Ärzten erfahren hatte, dass Mischa der Knochenmarkspende zugestimmt hatte! Ich war mir dessen absolut nicht sicher gewesen. 15 Jahre waren eine lange Zeit... Ich hatte jahrelang kaum an Mischa gedacht und ihn erst um Hilfe angeschrieben, als alle, wirklich alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, denn ich hatte es schrecklich gefunden, jemanden, zu dem ich jahrelang keinen Kontakt mehr gehabt hatte, um Hilfe bitten zu müssen. Was wusste ich schon von ihm als die wenigen gemeinsam verbrachten Monate, die nur noch eine entfernte Erinnerung waren? Ich hatte mehr Zuversicht in den Brief gelegt als ich wirklich gehabt hatte. Und er hatte gehandelt... Er war wohl doch noch so, wie ich ihn in Erinnerung hatte.
Unwillkürlich begann ich zu lächeln. Wie er wohl jetzt aussehen mochte? Ich hatte mir untersagt, ihn um ein Foto zu bitten, um bloß nicht noch mehr Unruhe in sein Leben zu bringen als ich das womöglich schon getan hatte. Es war lediglich Milas Gesundheit, die zählte. Mit einem Ruck erhob ich mich aus dem Sessel, ging zum Spiegel hinüber und schaute hinein: ich hatte mich verändert, meine Haare, meine Gesichtszüge... Nur meine Augen zeigten den gleichen Ausdruck wie damals, als ich mich entschied, meine Zukunftspläne in die Tat umzusetzen, und meine Lippen sahen noch genauso aus wie zu der Zeit, als ich den Hof verlassen hatte.
Ich lächelte meinem Spiegelbild zu. Ich war nie eitel gewesen und war es auch jetzt nicht, aber es freute mich dennoch, dass ich nicht so abgearbeitet aussah wie viele Bäuerinnen, die vom ständigen Aufenthalt draußen eine wettergegerbte Haut hatten. Kritisch beäugte ich meine Gesichtsfarbe – ein wenig blass war ich wohl schon, zu wenig draußen, zu oft in den Krankenhaussälen. Ich fragte mich, wie Maxim mich wohl sah. Im gleichen Moment stahl sich der Gedanke in mein Hirn, ob ich Mischa wohl noch gefallen würde. Verärgert wandte ich mich ab. Was für ein abstruser Gedanke. Ich hatte in Maxim einen geduldigen und verständnisvollen Verehrer und wollte nicht Gedanken an einen Mann verschwenden, den ich nie wieder sehen würde.
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