Teil 8

Tag 3, Michaels Sicht

Ich lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und spürte, wie mich die Hitze des Tages umhüllte. Etwas kitzelte mich an meinem Zeh und ließ mich die Augen aufschlagen. Vorsichtig zog ich das Bein an und den Fuß in mein Blickfeld. Ein Marienkäfer krabbelte seelenruhig die Fußsohle entlang. Ich ließ ihn einen Moment gewähren und streckte dann den Zeigefinger aus, so dass er dort entlang krabbeln konnte. Langsam führte ich die Hand vor mein Gesicht. Der Käfer verharrte und neugierig zählte ich die Punkte auf seinen Flügeln. Es waren sieben. Dann bewegten sich seine Flügel auf und ab und er startete seinen Flug zu einem neuen Ziel. Ich folgte ihm mit den Augen, bis mich die Sonne blendete und ich ihn nicht mehr sehen konnte.

Vogelgezwitscher erfüllte die Luft und ich blieb regungslos liegen und schaute in das Blätterdach über mir. Ein leichter Wind bewegte die unzähligen Blätter, so dass es schien, als wisperten sie einander zu. Ihre Farben changierten, mal schienen sie graugrün, dann wieder leuchteten sie in einem satten Farbton und zwischendurch gaben sie den Blick auf einen hellblauen Himmel frei. Ich dachte darüber nach, welche Farben ich mischen würde, um ihre Vielfalt in einem Bild einzufangen.

Zu Hause hatte ich eine umfangreiche Farbpalette zur Verfügung gehabt, doch es war lange her, dass ich vor meiner Staffelei gestanden und gemalt hatte. Viel zu lange. Ich brauchte Zeit, Stunden, die nicht durchgetaktet waren, in denen ich einer Eingebung folgend auf die Leinwand brachte, was mir gerade durch den Kopf ging. Mal war es eine Landschaft, mal waren es Menschen, deren Aussehen und Tun ich mir eingeprägt hatte, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wiedergeben zu können. Ich hatte schon immer gern gezeichnet und gemalt, aber erst als Jugendlicher hatte ich erkannt, wie erfüllend es sein konnte, mit Farben und Formen zu experimentieren.

Es füllte mich so aus, wie es keine andere Tätigkeit vorher geschafft hatte. Alle Gedanken gingen unter in der totalen Konzentration, mit einem Pinselstrich den genauen Verlauf eines Hügels darzustellen oder die Kontur eines Gesichts... Eine neue Welt hatte sich aufgetan und es war mir schwer gefallen, von der Staffelei zu lassen, wenn ich zum Essen gerufen oder zum Dienst abgeholt wurde. Einmal hatten sich meine kleinen Schwestern erdreistet, meine Pinsel und Farben zu benutzen, doch ich hatte so mit ihnen gezürnt, dass sie es kein weiteres Mal gewagt hatten.

Am liebsten hätte ich hier und jetzt die Waldlichtung auf Papier gebannt, doch ich musste mich damit begnügen, meine Eindrücke zu sammeln, um sie ein anderes Mal malen zu können. Nach einer Weile wandten sich meine Gedanken dem jungen Mädchen von heute Morgen zu. Ob es erneut kommen würde? Wer mochte es sein? Ich entschloss mich, es anzusprechen, wenn es wieder auftauchte, um den Grübeleien ein Ende zu bereiten.

Allerdings missfiel es mir, dass mein geschwächter Zustand so deutlich zu Tage trat. Das musste beim nächsten Mal unbedingt anders sein, solch eine Blöße durfte sich ein deutscher Soldat nicht geben! Entschlossen versuchte ich, in eine sitzende Position zu gelangen. Nach mehreren ergebnislosen Versuchen war ich schließlich am Ende zu meiner Erleichterung erfolgreich und konnte mich, auf meine unverletzte Hand gestützt, für einige Momente aufrecht halten. Ich machte eine Bestandsaufnahme meines Körpers: Bis auf die Verletzung am Arm, einigen blauen Flecken und einer Beule am Kopf war ich offenbar unversehrt. Wahrlich, mein Zustand hätte durchaus schlechter sein können.

Ich ließ mich wieder auf den Rücken sinken und musste daran denken, dass ich noch vor gar nicht allzu langer Zeit im Lazarett gelegen hatte, um eine Ruhrerkrankung auszuheilen. Ungern, aber resigniert war ich nach der Genesung zu meiner Einheit zurückgekehrt. Im Kriegsalltag verboten sich Gedanken nach dem Warum, aber in den ruhigen Wochen im Lazarett hatte man viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Seit langer Zeit schien es kaum noch militärische Erfolge geben zu haben und in der Ukraine und in Rumänien war die Wehrmacht auf dem Rückzug. Ich hatte mich im Stillen nach dem Sinn einer Fortführung des Krieges gefragt, aber mich mit der Hoffnung zu trösten versucht, dass der Führer schon wisse, was er tue.

Inzwischen waren die Alliierten allerdings außerdem in der Normandie gelandet und es war unschwer zu erkennen, dass der Feind von beiden Seiten auf das Deutsche Reich zu rückte. Ich seufzte. Wie lange sollte das sinnlose Sterben noch weiter gehen? Wann würde es mich treffen? Bisher hatte ich Glück gehabt.... Jemand hielt offenbar eine schützende Hand über mich. Doch bei der letzten Angriffswelle hatte es Dutzende von Kameraden erwischt. Und ich hatte sie in diesen Einsatz geführt... Ich kniff die Augen so fest zusammen, dass es schmerzte, um die Bilder zu verdrängen. Verdammt, ich wollte das nicht mehr! Am liebsten hätte ich den Titel des Unteroffiziers zurückgegeben, den ich doch einst so stolz entgegen genommen hatte.

Verzweifelt ballte sich meine gesunde Hand zur Faust. Ein Schreckensbild nach dem anderen überfiel mich und ich riss schließlich die Augen auf, um ihnen zu entfliehen. Mein Blick irrte hin und her in dem Bemühen, etwas zu finden, auf das ich meine Aufmerksamkeit richten konnte. Ich spürte, wie mein Herz klopfte, als ob ich gerade einen 100-Meter-Lauf zurückgelegt hätte, und mein Atem ging in keuchenden Stößen.

Schließlich blieb mein Blick an dem tiefdunklen Himmel hängen, der sich von der Seeseite näherte. Die dunkle Färbung kündete von Regen und langsam, aber deutlich wahrnehmbar bezog sich alsbald der ganze Himmel. Schließlich verschwand die Sonne hinter den Wolken. Goldene Strahlen tauchten noch einmal hinter der Wolkenwand auf, als würde sich die Sonne nur kurz hinter einem Vorhang verbergen. Dann verschwanden auch sie und Wind frischte auf. Das Schilf am See und die Blätter der Bäume begannen zu rascheln, die Vögel waren verstummt.

Der erste Regentropfen traf mich an der Schulter, so plötzlich, dass ich kurz zusammenzuckte. Nur kurz nachdem er hinab ins Gras gelaufen war, fiel der nächste Tropfen direkt auf meine Brust und ich spürte ihn langsam der Schwerkraft folgend nach unten gleiten. Und dann wurden es immer mehr, sie benetzten Arme, Beine, Körper und Gesicht, vom Sommerwetter gewärmt und daher weniger kalt als mehr erfrischend. Schließlich rauschte der Regen in unzähligen Tropfen wie eine Dusche vom Himmel und es dauerte nicht lange, bis ich pitschnass war und mir das Haar an Stirn und Wange klebte. Meinen linken Arm hatte ich dicht an die Seite geschoben, aber der Rest meines Körpers wandte sich dem Regenguss zu wie ein ausgetrockneter Bachlauf und ich öffnete weit den Mund, um so viele Tropfen wie möglich die Kehle herunterlaufen zu lassen.

So rasch wie er begonnen hatte, endete der Regen auch wieder. Der warme Boden gab den vertrauten Duft eines Sommerregens ab. Der Niederschlag hatte die Hitze aus dem Tag genommen, aber eine angenehme Wärme zurück gelassen. Daher dauerte es nicht lange, bis meine Haut im wieder auftauchenden Sonnenlicht trocknete, dessen gleißende Helligkeit mich erst schläfrig machte und mich anschließend in einen entspannten Schlaf fallen ließ.

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