Teil 79 ( Nadja )

Wie geht es nun weiter?", fragte Igor nach einer Weile. Ich richtete mich auf und schlug nach einer Mücke, die um mich herum kreiste.

„Ich habe eine Stelle angeboten bekommen, bei der Uniklinik, bei der ich gelernt habe", teilte ich mit.

Ich war froh darüber, dort arbeiten zu können, da ich die Abläufe und die meisten der Ärzte bereits kannte. Igor fuhr fort, nach Einzelheiten zu fragen und ich berichtete so gut ich konnte von dem, was auf mich zukommen würde.

„Eigentlich kann ich es immer noch gar nicht fassen", sinnierte ich dann und lächelte mit geschlossenen Augen, als ich mir vorstellte, wie ich im Arztkittel im OP stand.

Igor lächelte amüsiert, als ich die Augen wieder auf schlug und spottete gutmütig:

„Du bist schon ziemlich verrückt, weißt du. Freiwillig Leute aufzuschneiden."

„Du schneidest Tiere auf", warf ich ein.

„Ja, aber um sie zu essen", gab Igor zurück. „Und ich muss sie nicht wieder zusammenflicken."

Wir lachten leise und der Schein der Flammen spiegelte die Behaglichkeit des Momentes wider.

„Es ist genau das, was ich immer tun wollte", bemerkte ich.

„Ja, das ist offensichtlich." Igor grinste „Eigentlich warst du schon für den Hof verloren, als du anfingst, lesen zu lernen."

Ich lächelte versonnen. Wahrscheinlich hatte er Recht.

„Und du?", wollte ich schließlich wissen und erinnerte mich an die kurzen Äußerungen, die er damals auf dem Weg zum Bahnhof gemacht hatte. „Was wolltest du früher werden?"

„Ach, darüber habe ich nie nachgedacht", erwiderte Igor eine Spur zu leichthin.

Ich schaute ihn kritisch an.

„Ne, wirklich!", erwiderte er und hob abwehrend die Hände. „Ich meine, es war doch immer klar, dass ich als einziger Sohn in Vaters Fußstapfen treten würde. Auch wenn ich gehofft hätte, dass wir für uns allein wirtschaften würden und nicht für die Abgabequote..." Er verstummte kurz und ergänzte dann:„Ich hab's mir halt ein bisschen anders vorgestellt. Dass Vater, Viktor, Mitja und ich das Land gemeinsam bewirtschaften."

Eine Bitterness hatte sich in seinen Ton geschlichen. „Und dann zwingen uns die Scheißdeutschen einen Krieg auf, bringen zwei von uns um, machen den Dritten zum Krüppel und ich kann sehen, wie wir mit so wenigen Händen die geforderten Abgaben schaffen."

Ich seufzte im Stillen. Wenn mein Bruder erst mal mit dem Krieg anfing, war er nicht mehr zu bremsen, dann wetterte er in einem fort und beschimpfte die Deutschen auf das Übelste. So steigerte er sich auch jetzt in seine Wut hinein und ich war nur froh, dass Mitja nicht zugegen war, denn dann brachte man die beiden die nächsten Stunden über nicht mehr in ruhigeres Fahrwasser.

In dem Versuch, seinem Zorn Einhalt zu gebieten und die schöne Stimmung wieder herzustellen, wandte ich vorsichtig ein:„Igor, du hast sie doch nur in Gefechten erlebt. Aber jeder Soldat ist doch auch ein Mensch, mit Familie und einer Geschichte vor und nach dem Krieg."

Igor schnaubte und fixierte mich mit blitzenden Augen: „Hast du vergessen, wie sie in den Dörfern wahllos Menschen erschossen haben? Auch Kinder?!" Seine Stimme wurde in gerechter Empörung immer lauter. „Nennst du das menschlich?!"

Ich biss mir auf die Zunge. Ich hatte es nicht vergessen. Waren die Deutschen anfangs noch von vielen freundlich empfangen worden, hatte es sich aufgrund ihres brutalen Vorgehens schnell ins Gegenteil verkehrt. Ich dachte an Mischa. Er war so zärtlich, aufmerksam und lustig gewesen und ich hatte mich in seiner Gegenwart so wohl und angenommen gefühlt. Doch ich wusste nichts von dem, was er in den Jahren getan hatte, bevor wir uns kennenlernten.

Hatte er in Gefechten lediglich seine Pflicht erfüllt? Oder enthusiastisch jeden Eroberungszug voran getrieben? Hatte er als Teil der Besatzungsmacht Zivilisten umgebracht? Es schien schwer vorstellbar... so, wie ich ihn erlebt hatte. Und bewies sein Verhalten mir gegenüber nicht, dass ich Recht hatte, dass auch ein Soldat einer Besatzungsmacht eine menschliche Seite hatte, die es verdient hatte, gewürdigt zu werden?

Nachdenklich starrte ich in die rotglühende Glut. Es knackte, als ein trockener Zweig von den Flammen erfasst wurde und ein paar Funken in die Luft stoben. Igors Strom an Worten war an mir vorbeigeflossen, ohne dass ich ihnen Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

„Ich glaube nicht, dass sie alle nur grausam sind", konstatierte ich leise, aber laut genug, um Igor in seinem Monolog zu unterbrechen.

In seine Stimme mischt sich Empörung:„Du weißt nicht, wovon du redest, Nadjenka, du warst damals einfach noch zu klein."

Ich funkelte ihn wütend an, grollte darüber, dass er mir offenbar die Wahrnehmungsfähigkeit und Denkfähigkeit einer Erwachsenen absprach.

„Das ist doch Quatsch, und das weißt du auch!"

Igor zuckte verärgert mit den Achseln und gab aggressiv zurück:„Dann rede nicht so einen Unsinn zusammen. Ich habe nicht einen anständigen Deutschen im Krieg erlebt. Nur arrogante und mordlüsterne Kerle, die sich als Herrenmenschen aufspielten. Glaube mir, nur ein toter Deutscher ist ein guter Deutscher."

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