Teil 76 ( Nadja )
1952
Mila war mittlerweile sieben Jahre alt. Noch immer herrschte eine politische „Eiszeit" zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland. Selbst wenn ich das Geld gehabt hätte, wäre eine Reise nach Deutschland unmöglich zu bewerkstelligen gewesen. Wehmütig dachte ich manchmal an Mischas und meine Pläne für eine gemeinsame Zukunft zurück und fragte mich bisweilen, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich mich damals mit Mischa gemeinsam auf den Weg gemacht hätte. Aber alles in allem hatte ich mich gut in meinem Leben als alleinerziehende Mutter eingerichtet. Es war nicht leicht, aber man wurschtelte sich so durch, und Maria unterstützte mich zum Glück weiterhin in jeder Hinsicht. Mein Studium war anstrengend, aber es erfüllte mich, und ich freute mich auf die stabilere Zukunft, die der Studienabschluss versprach.
Es war ein Dienstagvormittag, an dem ich nach langer Zeit mal wieder etwas Zeit übrig hatte, und ich dachte darüber nach, was ich von unserem Leben zu Papier bringen könnte. Ich hatte Maria gebeten, je ein Foto von mir und Mila zu machen und wollte die Bilder zusammen mit einer Zeichnung an Mischa schicken. Nachdem ich schließlich mein Bild beendet hatte, ging ich hinaus ins Treppenhaus, um meinen Briefkasten zu leeren. Ich war überrascht, darin einen Brief aus Deutschland vorzufinden, denn es war erst März und daher viel zu früh für den jährlichen Geburtstagsbrief.
Das machte mich neugierig, aber ich beherrschte mich, bis ich oben in der Wohnung war, wo ich den Briefumschlag aufriss. Ich faltete den Brief auseinander und starrte das Bild an, das mir entgegen blickte. Mein Gehirn weigerte sich zu begreifen, was die Augen aufnahmen. Ich schloss kurz die Augen in der Hoffnung, dass sie mir einen Streich gespielt hatten und mir gleich den wahren Inhalt der Zeichnung enthüllen würden. Als ich wieder auf den Brief blickte, war die Zeichnung jedoch unverändert: Eine Kirche, vor der ein Brautpaar stand... und der Bräutigam war Mischa... Es war ein Schock für mich.
Ich ging in die Küche, zog einen Stuhl heran und setzte mich. Natürlich war mir klar gewesen, dass Mischa nicht sein Leben lang allein bleiben und mit dem Zeichnen von Briefen an eine ehemalige Freundin verbringen würde und es nur eine Frage der Zeit wäre, bis er jemand anderen kennen lernen würde... und trotzdem... Schmerzlich wurde mir klar, dass ich tief drinnen in mir nie aufgehört hatte, auf eine gemeinsame Zukunft zu hoffen. Ich hatte mich in den vergangenen Jahren nicht verabredet, obgleich es interessierte Männer gegeben hatte. Stets hatten Mila, das Studium und die Arbeit im Vordergrund gestanden. Jetzt jedoch erkannte ich, dass es Ausreden gewesen waren, in Wirklichkeit hatte ich stets auf die Fortsetzung unseres gemeinsamen Sommers gewartet.
Dabei hatte ich mir die ganzen Jahre etwas vorgemacht. Was damals zwischen Mischa und mir passiert war, war nur eine Romanze gewesen. Nie hätte daraus bei unseren verschiedenen Herkunftsländern und mangels einer gemeinsamen Sprache eine tragfähige Beziehung werden können. Wie dumm und kindisch von mir. Die durch die politische Eiszeit verursachte Unmöglichkeit, zueinander zu kommen, hatte eine Träumerei aufrecht erhalten, die sich ansonsten bei genauer Betrachtung schon längst in Luft aufgelöst hätte.
Ich stützte das Kinn in die Hände und starrte auf den Tisch. Es war ein hölzerner, abgenutzter Tisch und ich konnte die Schrammen sehen, die im Laufe der Jahre entstanden waren. Besonders diese eine war ziemlich breit, fast konnte man sie schon einen Riss nennen. Vielleicht brach der Tisch bald entzwei und ich würde einen neuen besorgen müssen. Ich versuchte genauer hinzuschauen, aber der Riss oder die Schramme verschwamm vor meinen Augen...
Ohne noch etwas wahrzunehmen blieb ich ein Weilchen so sitzen und spürte, wie ein paar Tränen meine Wangen herunter rannen. Schließlich wischte ich mir mit einer wütenden Bewegung mit dem Handrücken über die Augen. „Benimm dich nicht wie ein kleines Kind", schalt ich mich. „Das ist Jahre her und Vergangenheit und jetzt ein für alle Mal abgeschlossen!" Ruckartig stand ich vom Tisch auf, langte mit der Hand auf die andere Seite hinüber und zog die vorhin vorgenommene Zeichnung zu mir hin. Ohne noch einmal darauf zu schauen, griff ich auch mit der zweiten Hand zu und zerriss das Bild in viele kleine Fetzen, die ich gleichgültig auf den Boden segeln ließ.
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Das war wohl zu erwarten, dass beide ihr eigenes Leben weiter leben. Hat ihre Liebe noch eine Chance?
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