Teil 74 ( Nadja )
November 1949
Ich war völlig zerschlagen, da ich den ganzen Tag Vorlesungen gelauscht und anschließend Dienst im Krankenhaus gehabt hatte. An manchen Tagen fragte ich mich, wie ich diese ganzen Belastungen schaffen sollte. Heute war so ein Tag. Müde öffnete ich die Tür und schlich in die Wohnung, darauf bedacht, Mila nicht zu wecken. Ich schaute als erstes in Schlafzimmer, wo sie seelenruhig schlief, ihren Stoffhasen dabei fest umklammernd. Die Decke war fast auf den Boden gerutscht, so dass ich sie hochnahm und Mila vorsichtig wieder damit zudeckte. Ich strich ihr noch kurz über die Wange und ging dann in die Küche, wo ich mich erschöpft auf einen Stuhl fallen ließ. Ich goss mir einen Schluck kalten Tee ein und gewahrte dann den Briefumschlag, der auf dem Tisch lag.
Neugierig nahm ich ihn auf und entdeckte die Absenderadresse aus Deutschland. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Mischa hatte geantwortet! Er lebte! Aufgeregt riss ich den Umschlag auf, alle Müdigkeit war wie weggeblasen. Ich zog einen zusammengefalteten Zettel heraus, auf dem Mischa gezeichnet hatte: Ein Haus, in dem er mit seiner Mutter wohnte, in einer Straße mit vielen Bäumen. Eine Eisenbahn, die in eine große Stadt fuhr. Sich selbst, wie er mit Rucksack die Treppen zu einem altehrwürdigen Gebäude hochstieg, neben dem er „UNIVERSITÄT" geschrieben hatte. Offenbar schien er zu studieren, so wie er es sich gewünscht hatte. Ich lächelte.
Ein zweites Blatt lag im Umschlag und beim Auffalten fiel ein kleines Foto zu Boden. Ich bückte mich, hob es auf und drehte es um. Es war ein Bild von Mischa auf einem sonnenbeschienenen Feld, offenbar von einer Handkamera aufgenommen. Ich betrachtete es aufmerksam. Seine Haare waren kürzer, als ich es von damals kannte. Aber sein fröhliches Lachen war unverkennbar.
Erleichterung und Freude durchfluteten mich und ich schaute das Foto lange an. Anscheinend war ich ihm nicht gleichgültig geworden. Mit den Fingerspitzen strich ich zart über die glatte Oberfläche des Bildes. Jetzt hatten wir uns also wiedergefunden, fast fünf Jahre später als gedacht. Was bedeutete das nun? Stände er jetzt vor mir, dann würde ich nicht zögern, mich in seine Arme zu werfen, und mir wurde klar, dass sich meine Gefühle für ihn überhaupt nicht verändert hatten. Glücklich strahlte ich das Foto an. Hatte uns das Schicksal nun eine zweite Chance gewährt? Doch dann erfuhren meine Gefühle einen jähen Dämpfer. Die UdSSR und die westlichen Staaten inklusive Deutschland hatten sich gerade erst kürzlich beinahe im Krieg miteinander befunden. Unter diesen Umständen war weder ein Wiedersehen möglich noch das einst geplante gemeinsame Leben in Deutschland. Und dann war da ja auch noch das Studium, das mir meinen beruflichen Traum ermöglichen sollte...
Mit einem Mal wusste ich nicht, ob ich traurig oder eher erleichtert über die politische Lage war, die lediglich einen Schriftwechsel ermöglichte. Mit einem herzhaften Gähnen brach sich meine Müdigkeit Bahn und ich beschloss einfach erst mal abzuwarten, wie es weitergehen würde. Anschließend nahm ich noch das zweite Blatt in die Hand. Hier hatte Mischa mit Farbstiften ein süßes Eichhörnchen gemalt, das mit einer Nuss in seinen Pfoten auf einem Zweig saß, über einem See, auf dem eine niedliche Entenfamilie vorbei schwamm. Am Rand des Bildes hatte er geschrieben: FÜR MILA. Was für eine nette Idee! Ich würde es ihr am Wochenende zeigen und ihr dabei von ihrem Papa erzählen...
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Die politische Lage zwischen unseren Ländern wurde nicht besser. Jedes Jahr im April erreichte uns ein Brief aus Deutschland, denn anlässlich Milas Geburtstag malte Mischa immer ein buntes Bild mit Geburtstagskerzen und verschiedenen Illustrationen, mal eine Meeresküste mit einem rot-weiß gestreiftem Lichtturm und einer Krabbe, die einem zuzwinkerte, mal einen Schabernack treibenden Clown im Zirkus. Mila liebte diese Bilder und stolz zeigte sie sie in der Schule herum. Ich hatte es nicht über's Herz gebracht, von ihr Stillschweigen über den Maler der Bilder zu verlangen, was dazu führte, dass die Lehrerin oder andere Eltern mich gelegentlich nach Milas Vater fragten. Standardmäßig antwortete ich darauf, dass Milas Vater weit entfernt lebte und außer diesen Bildern keinen Kontakt pflegte, was nicht weit von der Wahrheit entfernt war.
Nicht nur Mila freute sich über die Briefe, auch ich nahm nur zu gern Teil an Mischas gezeichnetem Leben und antwortete mit meinen eigenen mehr schlechten als rechten Skizzen, da mein Zeichentalent in den vergangenen Jahren leider nicht mit meiner beruflichen Entwicklung Schritt gehalten hatte. Das war allerdings auf dem Heuboden ja nicht anders gewesen und so untersagte ich mir jegliche Zweifel, zeichnete darauf los und dachte vage an eine friedliche Zukunft, die für Mischa und mich Möglichkeiten des Wiedersehens eröffnen würde. Keiner meiner Bekannten wusste von Mischas deutscher Herkunft, selbst Mila nicht. Sie glaubte, dass ihr Vater weit weg lebte und dass weder er noch wir genug Geld hatten, eine Reise zueinander in die Wege zu leiten. Mir war klar, dass irgendwann einmal eine Zeit kommen würde, in der sie sich nicht mit so einfachen Antworten zufrieden stellen würde. Aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken.
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