Teil 72 ( Nadja )

Juli 1949

Mila war inzwischen 4 Jahre alt. Ich war überglücklich, denn soeben hatte ich die Zusage erhalten, ein Medizinstudium aufnehmen zu können. Begeistert nahm ich Mila in die Arme und schwenkte sie herum, so dass sie fröhlich kreischte. Dann klopfte ich bei meiner Nachbarin nebenan, einer älteren Frau namens Maria, die genau wie ich eine kleine Kammer bewohnte, und die früher als Fotografin gearbeitet hatte. Wir kannten uns seit dem Moment, an dem ich hier eingezogen war und sie mir damals angeboten hatte, auf Mila aufzupassen, wenn ich im Krankenhaus arbeitete. Sie war warmherzig und liebevoll und genau die richtige Großmutter für Mila, die sie heiß und innig liebte.

Maria öffnete ihre Tür und ich fiel ihr mit einem Strahlen um den Hals. Von der Begeisterung angesteckt, umarmte Mila jauchzend Marias Beine.

„Ich nehme an, du hast einen Brief bekommen", mutmaßte Maria lächelnd und winkte uns hinein.

Ich setzte mich auf das alte verblichene Sofa, auf dem ich schon so viele nette Abende verbracht hatte, und ließ mich gelöst in die Polster fallen.

„Sie nehmen mich! Ist das nicht unglaublich?!", brach es aus mir heraus und ich drückte freudestrahlend den Brief an meine Brust. „Im September geht es los".

Ich spürte ein wahnsinniges Glücksgefühl in mir und konnte den September kaum erwarten.

„Der Leiter unserer Abteilung im Krankenhaus hat eine sehr gute Empfehlung geschrieben, und Mila kann in die Kindergruppe des Krankenhauses aufgenommen werden", fuhr ich begeistert fort.

„Das freut mich für dich", antwortete Maria und lächelte mich voller Wärme an, während Mila verständnislos von einer zur anderen blickte.

Ich stellte die Teetasse, die Maria mir gereicht hatte, beiseite und zog Mila auf meinen Schoß. „Mama wird eine echte Ärztin", flüsterte ich ihr ins Ohr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ich bin auch Ärztin", konstatierte Mila entschieden und rutschte von meinem Schoß, um den Korb mit ihren „Arztsachen" zu holen und ihre Puppe mit dem Stethoskop zu bearbeiten.

Nachdem ich sie dabei ein Weilchen beobachtet hatte, verflog mein Enthusiasmus langsam und ich bemerkte ernüchtert:„Ich werde neben dem Studium weiter im Krankenhaus arbeiten müssen. Dann habe ich noch weniger Zeit für Mila."

Ich sah ihr nach, wie sie das Stethoskop auf den Boden fallen ließ und Verbandsmaterial aus ihrem Korb zerrte, das sie anschließend eifrig und konzentriert mit der Zunge im Mundwinkel um den Bauch der Puppe wickelte.

„Du tust, was du tun musst", erwiderte Maria resolut und nahm einen Schluck aus ihrer Teetasse. „Mila wird es zwischen den Kindern gefallen, und dann bin ich ja auch noch da. Später wird sie stolz auf ihre erfolgreiche Mutter sein."

Sie nicke mir aufmunternd zu. Ihre bedingungslose Unterstützung gab mir Zuversicht. Irgendwie würde es schon gehen. Ich schloss kurz die Augen und sah mich im Geiste schon als Chirurgin im Krankenhaus arbeiten... und mit diesen Gedanken kam die Erinnerung an meine erste „Operation" vor langer, langer Zeit draußen im Wald...

Ich hatte nie mehr von Mischa gehört. Zwischen dem „Westen", zu dem Deutschland nun gehörte, und dem „Osten", der Sowjetunion, zu der Weißrussland gehörte, bestand nun eine politische Eiszeit. Ich besaß noch die Adresse, obwohl ich nie geschrieben hatte. Ich hatte es nicht über mich gebracht, sie fort zu werfen. Wie gern hätte ich meine Erfahrungen nach dem Verlassen des Hofes mit ihm geteilt, mich mit ihm gemeinsam über Milas Entwicklungsschritte gefreut. Doch wie hätte ich ihm dies in Briefen berichten können? Wie hätte ich malen können, welch unglaublichen Stolz ich spürte, als ich Mila zum ersten Mal einen Schritt alleine machen sah? Oder ihm mitteilen können, wie es war, als sie das erste Wort aussprach? Das war ein Ding der Unmöglichkeit.

Daher hatte ich ihn irgendwann aus meinem Herzen verdrängt. Aber an so einem Tag wie heute kam die Erinnerung an ihn und an unsere schöne kurze Zeit zusammen mit Macht zurück. Dass ich so beharrlich an meinem Ziel festhielt, Ärztin zu werden und schließlich die ersten Schritte dazu in die Tat umgesetzt hatte, hatte ich ihm zu verdanken. Es hatte meinem Selbstvertrauen damals einen großen Schub gegeben, dass ich es geschafft hatte, ihm den Splitter aus dem Arm zu schneiden, so dass er dadurch überlebt hatte. Das Doppelleben, das ich damals geführt hatte, hatte mir außerdem einen Geschmack auf eine andere Lebensgestaltung gegeben.

Wie aus weiter Ferne hörte ich mich zu Maria sagen: „Wenn Milas Vater nicht gewesen wäre, wäre ich vielleicht nie so weit gekommen..."

„Heißt...?" Maria sah mich fragend an.

Mit einem Ruck landete ich wieder in der Gegenwart und erschrak. Was hatte ich da nur ausgeplaudert?! Unwillkürlich fuhr meine Hand zum Mund, wie um das Gesagte im Nachhinein einfangen zu können. Maria legte zärtlich ihre Hand auf meinen Arm und sagte sanft:

„Na, na....so schlimm kann es doch nicht sein."

Ich sah auf ihre Hand, auf der die Adern bläulich schimmernd die dünne Haut durchzogen. Ihre mütterliche, liebe Art verhieß Sicherheit und Schutz und rührte etwas in mir....ich schluckte krampfhaft und meine Augen wurden feucht von den Tränen, die mir auf einmal in die Augen schossen. Und dann brach etwas hervor, was all die Jahre verborgen geblieben war und ich begann zu erzählen....erst stockend und schließlich fließend, nur ab und zu pausierend, um Luft zu holen. Es tat so gut, endlich von dem Geheimnis zu berichten, dass ich all die Jahre mit mir herum getragen hatte. Längst liefen mir still die Tränen die Wangen hinunter und irgendwann im Laufe meiner Erzählung fand ich mich in Marias Armen wieder, während sie mir liebevoll über den Kopf strich und einfach nur zuhörte.

„... und das war das Letzte, was ich von ihm sah", schloss ich schließlich und fühlte mich in die Vergangenheit zurückversetzt, sah ihn im Wald verschwinden, ohne dass er sich noch einmal umgedreht hatte, und hatte noch sein „Ich liebe dich" im Ohr.

Dankbar nahm ich das Taschentuch an, das mir Maria reichte und bemerkte dann, dass Mila mit weinendem Gesicht an meinem Bein hing. Ich hatte ihre Anwesenheit total vergessen. Wahrscheinlich hatte sie sich von meiner Stimmung anstecken lassen. Wie gut, dass sie noch zu klein war, um zu verstehen, was ich gerade erzählt hatte. Ich zog sie hoch auf meinen Schoß und vergrub meinen Kopf in ihrem Haarschopf. Als ich wieder aufsah, begegnete ich Marias Blick, der voller Verständnis auf mir ruhte.

„Du hast das Richtige gemacht", befand sie und tätschelte mein Knie. „Man soll immer seinem Herzen folgen."

„Dann verurteilst du mich nicht?", fragte ich vorsichtig.

Ich ahnte ihre Antwort, aber es drängte mich, sie ausgesprochen zu hören.

„Selbstverständlich nicht", gab Maria mit weicher Stimme zurück. „Liebe ist ein Geschenk, egal, wo sie hinfällt."

Daraufhin schwiegen wir lange. Ich war erleichtert, endlich jemandem die ganze Geschichte anvertraut zu haben. Und Maria war eine verschwiegene Person, bei ihr war das Geheimnis gut aufgehoben. Mila hatte sich wieder beruhigt, kuschelte sich zufrieden in meinen Arm und spielte mit meinen Haaren.

„Hast du ihm denn nie geschrieben?", wollte Maria etwas später wissen, als wir zusammen das Geschirr abspülten. Ich schüttelte wortlos den Kopf.

„Dann weiß er gar nichts von Mila?"

Erneut verneinte ich. „Irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt..." fügte ich leise hinzu und stellte vorsichtig die abgetrockneten Tassen in den Schrank.

Maria machte ein nachdenkliches Gesicht und ich schaute sie fragend an:„Woran denkst du?"

Maria goss das Spülwasser fort und murmelte fast unhörbar:„Ich habe da so eine Idee..."

Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass ich sie nicht drängen durfte, obwohl ich gar zu gern wissen wollte, was ihr durch den Kopf ging. Und wirklich, nur einige Minuten später ging sie zu der Truhe, in der sie ihre Fotografieausrüstung aufbewahrte und zog einen Fotoapparat heraus. Mila war neugierig näher gekommen und beäugte ihr Tun.

„Was ist das, Tante Maria?", wollte sie wissen und griff nach der Kamera.

Maria zog das Gerät schnell zur Seite und sagte lachend: „Nichts für kleine Patschehändchen. Geh dir mal die Haare kämmen, Milenka!"

Ich starrte Maria überrascht an:„Du willst uns doch nicht etwa fotografieren?!"

„Doch, Nadjenka, genau das habe ich vor", lächelte sie.

Misstrauisch blickte ich in ihr strahlendes Gesicht und ahnte, was sie zu tun beabsichtigte. Trotzdem fragte ich nach:„Wozu jetzt auf einmal?"

„Zum Verschicken", antwortete sie fröhlich.

Zögerlich schüttelte ich den Kopf. „Ich weiß nicht..."

Ich wollte nicht fünf Jahre später einen Brief versenden. Wahrscheinlich wollte er gar nichts mehr von mir wissen. Außerdem hatte er mich sicher längst vergessen.

„Aber ich weiß es!" Maria wurde resolut. „Es wird allmählich Zeit, dass dein Mischa von dir hört!"

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Manchmal bringt nur das Eingehen eines Risikos einen im Leben weiter... :)

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