Teil 69 ( Nadja )
Das stete Rattern des Zuges drang an mein Ohr. Vergeblich versuchte ich die Eindrücke meines Traums festzuhalten, doch je lauter ich die Geräusche wahrnahm, desto schneller verschwand sein Inhalt. Ich konnte nur noch dem schönen Gefühl nachspüren, das er mir vermittelt hatte. Dann hob ich erschrocken den Kopf und schlug die Augen auf. Ich war eingenickt! Wo war Mila? Ich musste zu Glück nicht lange schauen, sie kniete neben mir auf der hölzernen Bank und hatte ihr Näschen an das Fenster gedrückt und betrachtete die vorbeiziehenden Landschaften.
Der alte Mann uns gegenüber schmunzelte. Ich bemerkte, dass er nur ein Bein hatte und blickte verlegen fort. Müde unterdrückte ich ein Gähnen. Wir waren schon so lange unterwegs, hatten Züge gewechselt, waren öfters auf freier Strecke stehen geblieben und befanden uns jetzt endlich auf der letzten Etappe der Reise. Es war voll geworden, die Menschen standen dicht an dicht in den Gängen und ich war froh, dass ich mit der Kleinen einen Platz auf der Bank gefunden hatte. Vom ungewohnt langen Sitzen tat mir der Rücken weh.
Ich blickte in die Gesichter der Umstehenden und erkannte in ihnen die gleiche Erschöpfung und Teilnahmslosigkeit, die auch ich verspürte. Hager aussehende Gestalten, als Treibgut des Krieges angespült, und vielleicht genauso auf der Suche nach neuen Ufern wie ich. Ich beobachtete eine Frau mittleren Alters, die sich gegen eine etwas jüngere Version ihrer selbst lehnte – wahrscheinlich Schwestern. Beide trugen bunte Kopftücher, die schon mal bessere Zeiten gesehen hatten, und unterhielten sich leise. Die Müdigkeit war ihnen ins Gesicht geschrieben und sie sahen hohlwangig und ausgezerrt aus. Bot ich etwa einen ähnlichen Anblick? Es musste eine Ewigkeit her sein, dass ich das letzte Mal in einen Spiegel geblickt hatte. Kritisch sah ich an mir herunter, aber Beine und Arme waren ohnehin unter diversen Lagen Kleidungsstücken verschwunden.
Mila hatte offenbar genug vom Hinaussehen und zupfte an meiner Weste.
„Mila essen", verkündete sie und sah mit ihren großen, immer noch blauen Augen vertrauensvoll zu mir auf. Woher sie diese wohl hatte? Ob sich die Farbe jetzt noch ändern würde?
Ich wühlte in der Tasche auf meinem Schoß und zog unter den neugierigen Blicken der Mitreisenden umständlich ein Stück in Papier gewickeltes Wurstbrot hervor, von dem ich vorsichtig etwas abbrach und Mila reichte. Mein Unbehagen wuchs angesichts der offenbar begünstigten Lage, ein solches Lebensmittel unser eignen nennen zu können. Mila ließ sich zum Glück nicht davon stören, doch ich stopfte die andere Hälfte wieder tief in die Tasche, um es für später aufzubewahren. Wer mochte wissen, wo und wann ich wieder etwas zu essen besorgen konnte.
Igor hatte mir beim Herannahen des Zuges hastig ein paar Geldscheine in die Hand gedrückt, „Für die ersten Tage" gemurmelt und dann Mila zum Abschied ein paar Mal herumgeschwenkt. Ihr fröhliches Jauchzen war schließlich im schrillen Pfeifen des haltenden Zuges untergegangen. Mit klopfendem Herzen hatte ich Tasche und Rucksack auf die Plattform gehievt, Igor hatte mir Mila gereicht und dann war es Zeit zum Abschied nehmen gewesen. Igor hatte mich ungelenk in eine kräftige Umarmung gezogen. Er hatte den vertrauten Geruch nach Stall und gemähtem Gras verströmt und ich musste schlucken, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden.
„Pass auf euch auf, Kleines", hatte er noch hinzugefügt, worauf ich nur ein tränenersticktes „Mach ich" herausgebracht hatte, und dann hatte die Lok ein gellendes Pfeifen von sich gegeben und der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Und nun war ich inzwischen schon eine Tagesreise von meiner Heimat entfernt.
Ich verlor mich in Gedanken und seufzte leise. Da lachte Mila plötzlich fröhlich auf, denn der alte Mann gegenüber hatte begonnen, Faxen zu machen. Von einem inneren Sicherheitsbedürfnis getrieben, stellte ich die Tasche zwischen meinen Beinen ab und zog Mila auf meinen Schoß. Sie fuhr fort, neugierig ihr Gegenüber zu beobachten und ich wandte meinen Blick nach draußen, wo es inzwischen dunkler wurde.
Nach etwa einer weiteren Stunde tauchten die ersten Häuser auf, die sich bald zu einer Stadt verdichteten. Das musste Minsk sein! Ich starrte angestrengt aus dem Fenster, um in der Dunkelheit möglichst viel erkennen zu können. Aufregung hatte sich meiner bemächtigt und meine Müdigkeit war wie weggewischt. Mila hatte begonnen, vor Erschöpfung zu quengeln, aber ich beachtete sie nicht.
Das hier war der Ort, an dem ich ein neues Leben beginnen wollte. Unser Zug ratterte an Backsteingebäuden entlang, aus deren Fenstern hin und wieder Licht nach draußen fiel. Trotz oder vielleicht gerade wegen der vereinzelt auftauchenden hellen Bereiche strahlten die Häuser eine gewisse Trostlosigkeit aus. Einige Stellen waren mit Holz notdürftig repariert, an anderen Stellen zeugten Löcher verschiedener Größe von einem Krieg, der die Stadt fest in Griff gehalten hatte und dessen Wunden noch nicht geheilt waren.
Wir überquerten Bahnübergänge und fuhren an Straßen entlang, auf denen ein paar Autos verkehrten. Straßenlaternen spendeten trübes Licht und vergeblich suchte ich nach etwas Natur, einem Baum, einer Hecke oder einem Stück Wiese. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber angesichts dieses ersten Eindruckes fiel es mir schwer, meinen Enthusiasmus beizubehalten, und mir fielen Igors Worte von heute Morgen ( war es wirklich erst heute Morgen gewesen?) ein: „So wie du auch, wenn du merkst, das nicht alles so schön ist, wie du es dir vorstellst."
Im Abteil wurde es unruhig. Die aus ihrer Lethargie gerissenen Fahrgäste zogen ihr Gepäck an sich, streiften sich Jacken über und ein anschwellendes Murmeln setzte ein: Leute, die sich kurze Sätze zuwarfen, sich mit ungeduldigen Bemerkungen vorbeidrängelten oder ihre Kinder zu sich riefen. Ich hatte keine Zeit mehr, Gedanken zu wälzen, sondern ließ mich von der allgemeinen Aufregung anstecken. Offenbar waren wir gleich da.
„Mila, hör auf zu quengeln!", fuhr ich sie an und fuhr gereizt fort:„Wir müssen die Jacken anziehen."
Nicht nur die Jacke, sondern auch die beiden Pullover, derer ich Mila im Laufe der Reise entledigt hatte, weil es warm im Zug geworden war. Mila fing an zu weinen und ließ das Anziehen passiv über sich ergehen, was die ganze Aktion noch anstrengender machte als sie ohnehin schon war. Dann wurde der Zug langsamer und wir rollten in einen hell erleuchteten Bahnhof. Die Menschen schoben sich in Richtung der Türen.
Mit der Tasche in der einen und dem Kind an der anderen Hand kletterte ich vorsichtig auf den Bahnsteig. Tief sog ich die Luft an, froh darüber, endlich der verbrauchten Luft des Abteils entkommen zu sein. Dann folgte ich orientierungslos den übrigen in Richtung Ausgang strebenden Bahnreisenden. Mila setzte nur widerwillig einen Schritt vor den anderen, immer wieder bewegte sich ihr Kopf hierhin und dorthin, voller Begierde, alles in Augenschein zu nehmen. Schon bald waren wir am Ende der Menschenmenge.
Ich beugte mich zu Mila hinunter und sagte scharf: „Milotschka, wir müssen uns beeilen, sonst sind die Menschen gleich weg und wir wissen nicht wohin."
„Mila nich laufen", begehrte die Kleine auf.
Mit meinen zum Bersten gespannten Nerven hätte ich Mila am liebsten eine Ohrfeige gegeben, aber ich riss mich zusammen.
„Hör zu", sagte ich und bückte mich zu ihr, „ich kann dich nicht tragen, mit dem ganzen Gepäck hier, also musst du laufen. Nun komm!"
Milas Augen füllten sich mit Tränen, aber ich konnte mich jetzt nicht darum kümmern. Heulend ließ sie sich von mir den Bahnsteig entlang zerren. Schließlich landeten wir in einer großen Bahnhofshalle. Längst war ich völlig durchgeschwitzt und wünschte mir nichts mehr als eine Schüssel Wasser und ein Bett. Gerade wies ein Uniformierter, dessen Farben ihn als Bahnbeamten auswiesen, einer Gruppe von drei Personen den Weg und wandte sich in unsere Richtung.
Ich ergriff daher die Gelegenheit, ihn nach einem Hotel, möglichst dicht am Bahnhof, zu fragen. Sein Blick taxierte mich müde und nachdenklich kratzte er seinen grauen Vollbart. Er wirkte älter, als ich anfangs gedacht hatte, und als er schließlich antwortete, klang seine Stimme tief und rauchig. Der Geräuschpegel in der Halle war so hoch, dass ich ihn kaum verstand und nachfragen musste.
„Hotel >Heimat< ist das dichteste – und auch billig – einfach den Bahnhof verlassen und dann links die Straße entlang. Oder „zur Krone", da gehen Sie aus dem Bahnhof nach rechts, über den Platz hinweg, wenden sich nach links und dann die zweite Straße wieder rechts".
Noch während er sprach, hatte ich mich für die erste, offenbar viel dichtere Alternative entschieden und hörte deshalb kaum mehr richtig zu. Ich bedankte mich und wir gingen den uns gewiesenen Weg. Es dauerte jedoch nicht lange, bis Mila weder durch gutes Zureden noch durch Schimpfen dazu zu bringen war, nur einen Schritt weiter zu gehen. So blieb mir nichts anderes übrig, als sie auf meine linke Hüfte zu hieven und mich mit Kind, Tasche und Rucksack beladen weiter zu schleppen. Es war ein beschwerliches Unterfangen, und ich war froh, als das Hotel endlich in Sichtweite kam, obwohl es sich, um ehrlich zu sein, wirklich nahe am Bahnhof befand.
Einen einladenden Eindruck machte es nicht, mit seinem Schild über der Tür, auf dem das „i" fehlte, einer trübes Licht spendenden Lampe vor dem Eingang und einem zerfetzten Teppich im Eingangsbereich. Doch ich war weiß Gott nicht in der Situation, Ansprüche zu stellen und war Einfachheit von Haus aus gewohnt. Auf mein Klingeln mit einer kleinen Glocke am Tresen erschien ein junger Mann, der geschäftsmäßig die Anfrage nach einem freien Zimmer bejahte, den Preis nannte und gleich begierig die Hand nach dem Geld ausstreckte. Dann reichte er mir einen Schlüssel und entließ mich mit dem Hinweis auf den ersten Stock.
Seufzend stieg ich die knarrenden Stufen einer schmalen Treppe empor und kam nicht umhin zu bemerken, dass die Tapeten bereits bessere Tage gesehen hatten. Ein undefinierbarer Geruch hing im Flur. Doch das wurde zur Nebensächlichkeit, als ich endlich das Zimmer fand, die Tür aufschloss und mit Erleichterung das Bett gewahrte. Es gab weder Tisch noch Stuhl im Zimmer, doch für eine Nacht würde es gehen. Mila schlief fast augenblicklich ein und es dauerte auch nicht lange, bis ich das Licht löschte.
Obwohl todmüde, konnte ich nicht sogleich einschlafen, und sann über die kommenden Tage nach. Als erstes würde ich Lenas Adresse aufsuchen und dann dem Krankenhaus einen Besuch abstatten. Mein Herz klopfte spürbar, als ich darüber nachdachte, wie die Begegnung mit Lena wohl verlaufen würde. Ich war nicht so naiv, mit Wiedersehensfreude zu rechnen – zumal ich mir meinen eigenen Gefühlen ihr gegenüber auch nicht sicher war – aber hoffte doch, sie anzutreffen. Es würde mir den Start in der Stadt bestimmt auch leichter machen.
Nach einem Weilchen spürte ich, wie der Schlaf seine verlockenden Finger nach mir ausstreckte. Doch da war auf einmal ein leichtes Krabbeln auf meiner Haut. Ich erstarrte und fragte mich, ob ich es mir nur einbildete. Das Krabbeln eines Insektes setzte sich jedoch fort. Müde machte ich Licht und erschrak. Wanzen! Überall Wanzen, die gerade vor dem Licht in die Ecken des Bettes flüchteten. Ich drückte die Faust an den Mund und erstickte einen Aufschrei. Es war zu viel für mich. Die Strapazen der Reise bis hierher forderten ihren Tribut und ich brach erschöpft in Tränen aus.
Am liebsten hätte ich Mila an mich gerissen und wäre aus dem Hotelzimmer geflohen. Doch wir hatten nichts, wo wir hingehen konnten. Unglücklich verfluchte ich meine Idee, den Hof zu verlassen und wünschte mir nichts anderes, als wieder zu Hause zu sein. Schließlich ließ ich einfach das Licht brennen und setzte mich leise weinend dicht neben Mila, bis mich irgendwann doch der Schlaf übermannte.
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So hat sich Nadja den Start eigentlich nicht vorgestellt...ob sie an ihren Plänen festhält?
Mich würde mal interessieren, hättet ihr so etwas gemacht?
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