Teil 68 ( Nadja )
Am nächsten Morgen verließen wir im Morgengrauen den Hof auf dem Weg zum Bahnhof. Nun ließ ich mein Zuhause hinter mir, verdrängte die Wehmut, die in mir aufsteigen wollte, und versuchte mich mit Gedanken an die Zukunft abzulenken. Der Abschied war zu meiner Erleichterung kurz ausgefallen, das machte es mir leichter. Mila begriff nicht, dass wir für lange Zeit fort sein würden, und hatte sich fröhlich winkend von allen verabschiedet. Ich würde es ihr später sagen. Im Moment saß sie auf dem schweren alten Wallach, den Igor eines Tages herbei geschafft hatte, um in der Landwirtschaft von Nutzen zu sein, und beobachtete aufmerksam die Natur um sie herum. Mich fröstelte, und ich wusste nicht, ob es an der Morgenkälte oder etwas anderem lag. Igor führte den Wallach am Zügel und ich ging schweigend nebenher.
Nach einiger Zeit grummelte er:„Ich verstehe nicht, warum du das tust."
Ich zuckte darauf mit den Achseln, was er aber nicht sah, weil er den Blick nach vorne gerichtet hatte.
„Ich habe doch versucht, es euch zu erklären", murmelte ich und fuhr fort:„Ich kann keine Bäuerin sein. Es macht mich nicht glücklich."
Dass mir alles zu eng und zu beschränkt vorkam, sagte ich nicht. Ich wollte noch so Vieles von der Welt lernen, aber das konnte ich an diesem abgeschiedenen Flecken der Erde nicht.
„Glaubst du denn, für mich ist es das größte Glück, von morgens bis abends auf dem Feld zu stehen?", fragte Igor unwirsch.
Überrascht blieb ich einen Moment stehen. War es das nicht für ihn? Ohne Unterbrechung setzte er jedoch seinen Gang fort und ergänzte:
„Aber es geht nicht um persönliches Glück. Es ist meine Pflicht, den Hof weiter zu führen, wie es unser aller Pflicht ist, dort zu werken, wo wir geboren sind."
Ich schwieg dazu, denn gerade darüber war ich anderer Meinung. Sollte man seine persönliche Zufriedenheit den Erwartungen der anderen und dem Pflichtgefühl unterordnen? Dann wäre man ja dem Schicksal hilflos ausgeliefert. Warum hatten wir denn Gedanken und Träume? Nur sie brachten der Menschheit den Fortschritt, ansonsten würden wir noch wie im Mittelalter leben. Doch ich wollte jetzt keine Diskussion vom Zaun brechen, ich war ja froh, dass Igor uns bis zum Bahnhof brachte und ich die Kleine nicht zu tragen brauchte.
„Na ja, was soll's", meinte Igor schließlich, „wahrscheinlich spüren nur wir Männer die Verbundenheit mit der eigenen Scholle."
„Kann sein", stimmte ich daher milde zu und dachte an Vater, der auf unserem Hof groß geworden war und an Mutter, die als Braut zu ihm gekommen war.
Das erste Tageslicht schimmerte inzwischen durch die Bäume und ein leichter, noch mit der Kühle der vorangegangenen Nacht getränkter Wind, streifte die Zweige der Nadelbäume und ließ sie sanft hin und her wippen. Unzählige Gedanken gingen mir durch den Kopf, während wir weiter so dahin schritten.
„Mama ist glücklich, dass sie sich gemeldet hat", bemerkte ich zusammenhanglos und wir beide wussten, wen ich meinte. Dann fügte ich hinzu:„Fühlt sich komisch an, zu wissen, dass sie all die Jahre irgendwo gelebt hat, während wir gar nichts von ihr wussten."
Ich schüttelte unwillig den Kopf und fragte mich, warum um alles in der Welt sie in all den Jahren nicht geschrieben hatte.
„Ich hätte auch nicht gedacht, dass wir von ihr wieder hören würden", stimmte mir Igor zu. Ein Zweig knackte unter seinem Tritt, als er fragte:„Freust du dich?"
„Ja, sicher", beeilte ich mich zu sagen, doch dann hielt ich inne. „...dass sie nie geschrieben hat, werde ich ihr nie verzeihen", ergänzte ich leise.
Igor murmelte zustimmend. Unsere Schritte hinterließen jetzt ein schmatzendes Geräusch, da der Boden weich und matschig wurde.
„Ich habe Mutter und Vater noch nie so in Sorge gesehen wie damals, als sie verschwand", gab Igor nachdenklich von sich.
„Wie konnte sie das nur tun", empörte ich mich jetzt und Ärger und Bitterkeit ließen meine Stimme leicht schrill klingen.
„Keine Ahnung", erwiderte Igor gedehnt, aber am abrupten Zerren am Halter konnte ich erkennen, dass er weit weniger gelassen war, als er sich gab.
Der Wallach schnaubte unwillig.
Igor warf mir einen kurzen Blick zu, als er fortfuhr:„Nun, dass kannst du sie ja fragen. Und sag ihr auch...", er zögerte, „sag ihr, wie grauenvoll die Stimmung war, nachdem sie fort war. Ich war fast froh, in den Krieg zu ziehen, um dieser freudlosen Atmosphäre zu entkommen."
Das letzte war mit Inbrunst hervorgestoßen worden.
Seine Bemerkung kam für mich unerwartet und ich ließ meinen Blick für einen Moment forschend auf ihn ruhen. Wie gut kannte ich meinen Bruder eigentlich?
„Wie war es, Soldat zu sein?", fragte ich einen Moment später leise.
In den vergangenen zwei Jahren hatte er sich darüber redlich ausgeschwiegen. Auch jetzt war es nicht anders.
„Es ist gut, wenn man weiß, dass man für eine gerechte Sache kämpft", gab Igor wortkarg zurück.
Daraufhin verfielen wir beide in Schweigen. Ich schaute mich zu Mila um, die sich in ihrem Körbchen müde angelehnt hatte. Im Takt der Huftritte schaukelte ihr Köpfchen hin und her, sie hatte die Augen geschlossen und schien eingenickt zu sein. Die ersten Locken kringelten sich auf ihren Schultern. Blond – ganz anders als meine Haare, die von Kindheit an braun waren. Mir lag eine Frage auf der Zunge, doch es fiel mir schwer, sie zu stellen und ich haderte mehrere Minuten mit mir. Schließlich nahm ich meinen Mut zusammen und fragte zögernd:
„Sag mal, Igor, hast du irgendwann einmal einen guten Deutschen kennengelernt?"
Igors Antwort bestand in einem belustigten Schnauben, dann sagte er:„Machst du Witze? Wir haben jeden, der uns zu nahe kam, abgeknallt, ohne vorher Höflichkeiten auszutauschen. Es hieß >wir oder sie<".
Seine Antwort, wenngleich nicht unerwartet, deprimierte mich und ich starrte eine Weile ins Dickicht, bevor ich nachsetzte:„Aber sicher muss es unter ihnen auch nette Menschen gegeben haben, die bloß ihre Befehle befolgt haben."
Daraufhin blieb Igor plötzlich stehen und drehte sich zu mir um. „Wie kommst du jetzt bloß darauf?", fragte er kopfschüttelnd. Ohne mir Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, fuhr er mit Überzeugung in der Stimme fort:„Sie haben unser Land überfallen und sind damit allesamt Verbrecher." Immer aggressiver werdend fügte er hinzu: „Ich werde dir sagen, was ich gemacht hätte, wenn ich einen von ihnen vor mir erwischt hätte. Kurzen Prozess. Zack!" Er machte eine Geste, als würde er jemandem die Kehle durchschneiden und ich zuckte zusammen.
In Momenten wie diesen kam mir der Sommer 1944 wie ein Traum vor. Vielleicht hatte ich mir alles Schöne nur eingebildet, nachträglich jeden Moment verklärt? Doch dann sah ich Mila an und sie war so eindeutig Realität wie sonst nichts.
Igor hatte bereits wieder den Weg fortgesetzt und mir blieb nichts anderes übrig als hinterher zu stolpern. Ich wunderte mich darüber, dass keiner eine Verbindung zog zwischen einem blonden Mädchen, das mir kaum ähnelte, und meinem auffälligen Verhalten damals. Man sah nicht, was man nicht sehen wollte – zum Glück – und meine Erklärung war wohl zu einleuchtend, obwohl ich mich kaum in Nähe der Partisanen hatte blicken lassen. Ich blickte in den Himmel, aber sah nur graue, schwere Wolken, die einen baldigen Regenschauer verhießen. In dem fahlen Licht war es schwer auszumachen, wie spät es inzwischen war. Hoffentlich würden wir noch im Trockenen den Bahnhof erreichen. Dann glitten meine Gedanken wieder zu Lena.
Nach einer Weile fragte ich Igor:
„Warum, glaubst du, hat Lena gerade jetzt geschrieben?" „Hmph...", schnaubte er, „...wahrscheinlich hat sie Heimweh, auch wenn sie es nicht zugibt. Ihre Situation ist mit Sicherheit prekärer als sie schreibt. Und ich verspreche dir, dass sie bald wieder auf unserem Hof auftauchen wird". Er wandte den Blick zu mir, ohne die Schritte zu verlangsamen:„So wie du auch, wenn du merkst, das nicht alles so schön ist, wie du es dir vorstellst."
Ich funkelte ihn verärgert an und entgegnete:„Nur zu Besuch!"
Ein Grinsen legte sich auf Igors Gesicht, als er sagte: „Wir werden sehen."
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