Teil 67 ( Nadja )

Einen Tag vor meiner Abreise geschah etwas Unerwartetes. Ich war gerade dabei, die wenigen Habseligkeiten, die ich mitzunehmen gedachte, zusammenzupacken: ein paar Kleidungsstücke für Mila und für mich, zwei Fotos, ein bisschen Haarschmuck und die einzige Kette, die ich besaß. Ich sah auf das Dutzend Bücher auf meinem Regal, doch ließ sie bedauernd dort stehen, sie waren zu schwer, um sie mitzunehmen. Dann zog ich die Schublade meiner Kommode auf und nahm zögernd das Tagebuch heraus, das Mischa mit Zeichnungen gefüllt hatte. Unentschlossen blätterte ich es durch. So viele Erinnerungen steckten in diesen Zeichnungen... Wenn ich es nicht mitnahm, konnte ich es gleich zerreißen und in alle Winde zerstreuen.

Da hörte ich Mutter in der Küche einen erstickten Schrei ausstoßen. Alarmiert lief ich die Treppe hinunter und sah Mutter am Tisch sitzen, einen Brief in den Händen haltend, während ihr Tränen die Wange hinunter liefen. Noch bevor ich etwas sagen konnte, stürmte Oksana mit Mila an der Hand herein, und hinter ihr vernahm ich Igors Stimme:

„Mutter, was ist los?!"

Mit tränenfeuchten Augen sah Mutter zu uns auf, doch ein glückliches Lächeln lag auf ihren Lippen und sie hauchte nur ein Wort: „Lena".

Ich blieb wie angewurzelt am Fuß der Treppe stehen und konnte nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte. In wenigen Schritten war Igor an Mutters Seite und nahm ihr sanft den Brief ab. Dann las er laut vor:

„Liebe Mutter, lieber Vater, es fällt mir schwer zu schreiben, nachdem ich jahrelang nichts von mir habe hören lassen. Ich will auch jetzt keine großen Worte machen, sondern euch einfach mitteilen, dass ich den Krieg unbeschadet überstanden habe und dass es mir gut geht. Es tut mir leid, dass ich euch damals einfach ohne Erklärung verlassen habe, aber es musste sein. Ich war einige Jahre in Russland und habe dort viel gelernt. Jetzt lebe ich in Minsk. Ich hoffe, ihr seid ebenfalls alle wohlauf. Rechnet bitte nicht damit, dass ich zurückkomme, ich habe mir ein neues, anderes Leben aufgebaut. Ich wollte euch nur ein Lebenszeichen geben. Eure Lena."

Nachdem Igor geendet hatte, blieb es einen Moment stumm im Raum. Dann begann Mutter gleichzeitig zu lachen und zu weinen und flüsterte zwischendurch immer wieder: „Sie lebt!"

Von dem merkwürdigen Verhalten ihrer Großmutter verwirrt, lief Mila zu mir hinüber und hielt sich an meinen Beinen fest. Igor nahm Mutter beruhigend in den Arm und sah zu mir hinüber. In seinem Blick las ich den unausgesprochenen Gedanken „Was ist mit euch Mädchen bloß los? Warum willst auch du dir ein neues Leben aufbauen?"

In der Tat waren die Ähnlichkeiten auf den ersten Blick frappierend, doch anders als Lena würde ich niemals ohne ein Wort fortgehen. Widerstreitende Gefühle kämpften in mir, denn einerseits war ich natürlich froh, dass Lena am Leben war, andererseits war ich unglaublich wütend darüber, dass sie sich damals ohne Nachricht davon gemacht hatte. Ich hatte befürchtet gehabt, dass ihr etwas passiert wäre! Wie hatte sie mir das nur antun können, einfach abzuhauen und sich nie wieder zu melden! Wo wir doch einmal ein Herz und eine Seele gewesen waren.

Ich sah zu Mutter und Igor hinüber, die eine Einheit bildeten, während ich außen vor stand. Doch ich schaffte es nicht, zu ihnen hinüber zu gehen. So wurde offensichtlich, was sich in den letzten Jahren bereits im Hintergrund herauskristallisierte hatte: wir gingen auf verschiedenen Wegen. Geistesabwesend streichelte ich Mila über das Haar.

„Das ist ja eine gute Nachricht", strahlte Oksana."Ich werde gleich einmal Boris und den anderen Bescheid sagen".

Und mit diesen Worten verschwand sie nach draußen. Wie merkwürdig, dass es Lena genauso von hier fortgezogen hatte, wie es mich nun fortzog, dachte ich und dann fiel mir auf, dass sie überhaupt nichts davon geschrieben hatte, was sie jetzt eigentlich machte. In dem Moment wurde mir bewusst, dass sie erwähnt hatte, sie würde jetzt in Minsk leben...Ich sog für einen Moment überrascht die Luft ein, als mir dämmerte, dass Lena genau da lebte, wo ich hinfahren wollte. War das Zufall oder Schicksal, dass der Brief genau einen Tag vor meiner Abreise angekommen war?

Vorsichtig löste ich Milas Hände von meinen Beinen, ging zum Tisch hinüber und nahm zögernd den Briefumschlag auf. Lena hatte eine Adresse angegeben. Im selben Moment schien das auch Mutter zu registrieren. Sie wischte sich mit der Schürze die Augen, stand auf, legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte gefasst:

„Geh und such sie auf. Ich werde dir einen Brief für sie mitgeben."

Ohne Zeit zu verlieren, riss sie ein Stück vom Brotpapier, in das wir immer unsere Mittagsbrote packten, ab, glättete es, setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben. Wortlos sahen Igor und ich zu. Mutter hielt immer wieder inne, um nachzudenken, und ich überlegte, wie es sein würde, Lena nach all den Jahren wiederzusehen. Ob sie sich freuen würde? Vielleicht wollte sie gar nichts mehr von uns wissen? Doch warum hatte sie dann eine Adresse hinterlassen? Ich war mir selbst gar nicht sicher, ob ich sie eigentlich wiedersehen wollte.

Doch diese Entscheidung war mir aus der Hand genommen worden. Natürlich würde ich Mutters Brief übergeben. Außerdem wollte ich ja schon wissen, warum Lena damals gegangen war. Ich war entschlossen, so lange auszuharren, bis ich eine Antwort bekam. Es musste doch einen guten Grund geben, einen Grund, der ihr plötzliches Verschwinden erklärte. Es musste ihn einfach geben. Meine Hand umklammerte unwillkürlich die Tischkante, ob aus Wut, Angst oder einfach nur Aufregung – ich wusste es nicht. Als ich mir dessen gewahr wurde, zog ich sie mit einem Ruck fort. Viel zu spät erinnerte ich mich an Mila und drehte mich nach ihr um. Doch sie war offenbar bereits gelangweilt auf den Hof gelaufen.

Der Stuhl schabte quietschend über den Boden, als Mutter vom Tisch abrückte und Igor sich über die frisch geschriebene Nachricht beugte. Mit ratlosem Gesichtsausdruck stand er einen Augenblick still da und dachte nach. Ich hörte, wie es im Gebälk knarrte. Nach einigen Minuten kritzelte er schnell etwas auf das Papier, faltete es zusammen und überreichte es mir. Dann ging er mit großen Schritten zur Tür. Mutters und mein Blick trafen sich. Ich las große Traurigkeit darin und wandte mich hastig ab. Doch es war zu spät, ich wusste, dass ich diesen Blick nie vergessen würde. Mein Magen krampfte sich unangenehm zusammen. Doch meine Entscheidung war gefallen.

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Ein neues Leben für Nadja - wie mag es weitergehen?

Und was hat es mit Lena auf sich?

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