Teil 66 ( Nadja )
August 1947
„Das kannst du nicht machen!", rief meine Mutter fassungslos, da ich ihr soeben eröffnet hatte, dass ich den Hof verlassen würde, sobald das Getreide geschnitten war. Ich hatte vor diesem Gespräch gebangt, aber es hatte keinen Sinn, es immer weiter hinaus zu schieben, nachdem mein Entschluss gefallen war: Ich würde zusammen mit Mila in die Stadt ziehen und mir dort im Krankenhaus Arbeit suchen. Das hatte ich schließlich schon vor fast drei Jahren geplant gehabt und ich war nur Milas wegen noch ein Weilchen länger auf dem Hof geblieben.
Natürlich war auch mir das eine Hilfe gewesen, da es genügend Familienmitglieder gab, die sich mit Mila zwischendurch beschäftigten. Insbesondere Oksana strahlte, wenn sie sich um Mila kümmerte – sie war jetzt mit ihrem ersten Kind schwanger und freute sich sehr auf ihr Baby. Es gab Momente, in denen ich gezögert hatte, Mila aus dieser familiären Umgebung heraus zu reißen, denn sie war hier so glücklich. Konnte ich ihr wirklich das Leben im Ungewissen antun, wo wir niemanden kannten und ich nicht wusste, wie die Zukunft aussehen würde? Stand nicht das Glück meiner Tochter über meinem eigenen?
Doch dann hatte ich mir ausgemalt, wie mein Leben verlaufen würde, wenn ich hier bliebe. Jahr aus, Jahr ein die gleichen Tätigkeiten ausführte, nur unterbrochen vom Wechsel der Jahreszeiten. Ich wusste, dass mich das unglücklich machen würde. Und eine unglückliche Mutter konnte auch nicht gut für ein Kind sein. Ich wollte etwas Neues lernen und dazu musste ich fort von hier.
„Du kennst doch dort niemanden in der Stadt. Außerdem ist dort noch alles vom Krieg zerstört. Und wo soll denn Mila bleiben, wenn du im Krankenhaus arbeitest?!", versuchte meine Mutter mich von meinen Plänen abzubringen. Das Strickzeug, an dem sie gerade gearbeitet hatte, lag vergessen in ihrem Schoß.
„Es wird sich schon alles finden", antwortete ich mit einer Leichtigkeit, die ich gar nicht besaß.
In der Tat hatte ich darüber auch schon nachgedacht. Ich hatte keine Ahnung vom Stadtleben und wusste nicht, wie es in Minsk jetzt wirklich aussah. Ich hatte keine Möglichkeit, irgendetwas im Voraus zu planen und mein Magen verkrampfte sich ein wenig, wenn ich daran dachte. Doch das würde ich Mutter gegenüber auf keinen Fall zugeben. Es war die einzige Möglichkeit, die ich hatte und ich würde sie nutzen!
„Warte wenigstens, bis Mila älter ist", warf meine Mutter ein.
Ich konnte sehen, wie sehr es sie aufregte, doch ich schüttelte nur stumm den Kopf, ich hatte schon zu viel Zeit verloren. Mutter stand auf, legte mir die Hände auf die Schultern und sah mich eindringlich an.
„Dann lass Mila zumindest so lange hier, bis du eine Bleibe gefunden hast", drängte sie.
Der Gedanke hatte etwas Verlockendes. Ohne Kind wäre es sicherlich einfacher, mich in Allem einzurichten und ich zögerte. Meine Mutter spürte meine Unentschiedenheit und setze nach:
„Du weißt, hier ist sie gut aufgehoben. Und wenn du dich eingerichtet hast, kannst du sie zu dir holen."
Ich dachte fieberhaft nach. Wäre das nicht eine gute Lösung? Doch wer wusste, wie lange es dauern würde, bis ich alles geordnet hatte. Womöglich würde mich Mila in dieser Zeit vergessen. Und dann wäre es erst recht grausam, sie mit mir zu nehmen. Nein, das war keine Alternative, wir würden gemeinsam fahren oder gar nicht. Wo ein Wille war, war auch ein Weg.
Ich dachte zurück an meinen Sommer mit Mischa, an dem ich alle Schwierigkeiten gemeistert hatte. An ihn zu denken versetzte mir einen Stich. Ich hatte nie wieder von ihm gehört und biss mir auf die Lippen bei dem Gedanken, dass er vielleicht nie zu Hause angekommen war. Es war sogar sehr wahrscheinlich, dass er es nicht geschafft hatte, wenn ich an die ganzen Gefahren dachte, die es damals gegeben hatte: die fremden weißrussischen Dörfer, die Überquerung der Frontlinie, das Durchschlagen als Deserteur in seiner Heimat. Vielleicht hatte er mich jedoch auch einfach nur vergessen, eine aufregende Sommerromanze, die mit seiner Weiterreise ihr Ende fand...
Auch ich hatte Mischa nie geschrieben. Ein paar Monate nach Milas Geburt, als der Krieg bereits einige Zeit vorbei war, hatte ich einen Brief schicken wollen, doch ich hatte die Absicht abgebrochen, weil ich seine Reaktion fürchtete und es außerdem als furchtbar platt empfunden hatte, einfach per Zeichnung davon zu berichten, dass wir eine Tochter bekommen hatten. Und schließlich waren immer mehr Monate ins Land gegangen und je mehr Zeit verging, desto merkwürdiger fühlte es sich an, nach so langer Zeit noch einen Brief zu versenden. Und schließlich war der Zeitpunkt einfach verpasst.
Doch Mischa war mir nie gleichgültig geworden und jeden Tag sah ich ihn in Milas Lachen, erinnerte ihr blondes Haar an ihn. Wie enttäuscht er wäre, wenn ich meinen Wunsch, Ärztin zu werden, nicht in die Tat umsetzen würde. In Erinnerung an ihn würde ich meinen Plan durchziehen – und zwar mit Mila gemeinsam, denn wenigstens wir Zwei würden uns nicht trennen!
Als ich Mutter meine endgültige Antwort mitteilte, verzogen sich ihre Lippen zu einem dünnen Strich.
„Du musst wissen, was du tust", beschied sie missbilligend. „Ich weiß nicht, woher du diese Flausen hast. Dein Vater war mit Leib und Seele Bauer und hätte deine verrückte Idee ebenfalls nicht gutgeheißen."
Sie schnaubte missbilligend und fuhr fort:„Ich kann dich nicht aufhalten. Aber dass du ein kleines Kind da mit hinein ziehen musst..."
Mit diesen Worten verließ sie die Küche. Ich blieb gekränkt zurück und hatte mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Dann wurde ich wütend. Warum hatte sie nie das kleinste bisschen Verständnis? Warum begriff sie einfach nicht, dass ich mir ein anderes Leben ausmalte? Wie unfair war es, dann auch noch meinen Vater zu erwähnen. Er war seit Jahren tot und konnte mir keine Vorhaltungen mehr machen. Trotzig redete ich mir ein, dass er meine Pläne außerdem mehr unterstützt hätte. Aufgebracht polterte ich die Treppe hinauf in mein Zimmer und legte mich zu Mila ins Bett. Doch ich konnte lange nicht einschlafen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top