Teil 55 ( Michael )

Februar 1945

Frau Brandt blieb mir unsympathisch. Zwar ließ sich nicht leugnen, dass mir der abgelegene Bauernhof und die Maskerade als Fremdarbeiter Schutz vor Entdeckung boten. Auch die Essensversorgung war mehr als auskömmlich und die Kochkünste der alten Dame konnten durchaus als schmackhaft bezeichnet werden. Wir nahmen die Mahlzeiten gemeinsam in der Küche ein, aber die Atmosphäre war alles andere als heimelig. Frau Brandt hörte sich offenbar selbst gern reden und beglückte mich jedes Mal in einem Monolog mit ihren Ansichten über das Weltgeschehen, das internationale Finanzjudentum, das die amerikanische Regierung infiltriert hatte, und die menschenverachtenden Angriffe der Alliierten auf deutsche Städte. Sie gab mir keine Gelegenheit zu Kommentaren, doch das war mir recht.

Gleich zu Anfang hatte sie bereits in ihrer bissigen Art deutlich gemacht, was sie von Leuten hielt, die ihre Ansicht nicht teilten. Ich legte keinen Wert darauf, in Diskussionen einzusteigen, die weniger Meinungsaustausch als autoritäres Dominanzgehabe waren. Dazu ließ sie hin und wieder verachtende Kommentare über „Drückeberger" einfließen, die ich äußerlich an mir abprallen ließ, aber die mich im Stillen dennoch beschäftigten: Hatte sie Recht, ließ ich nicht mein Vaterland im Stich?

So beschränkte sich die Kommunikation, wenn sie mit ihren Tiraden fertig war, auf die anfallenden oder erledigten Arbeiten, die ich zunehmend zu ihrer Zufriedenheit ausführen konnte. Nicht nur einmal haderte ich mit mir, ob ich gehen oder bleiben sollte. Zumal ich keine Garantie hatte, mich auf ihr Versprechen verlassen zu können. Andererseits ließen die Nachrichten, die per Volksempfänger, der fast ständig eingeschaltet war, keinen Zweifel daran, wie eng das Netz der Überwachung gezogen und wie gnadenlos Volksverräter verhaftet und verurteilt wurden. Es war mehr als unwahrscheinlich, unbeschadet die Schweizer Grenze zu erreichen.

Und hier musste ich mich nicht verstecken, sondern war an der frischen Luft und konnte stolz auf die durch eigene Kraft erreichten Instandsetzungen und die immer leichter von der Hand gehenden Stallarbeiten zurückblicken. Ich blieb. Und wartete auf den Tag, der mir die Rückkehr nach Hause erlauben würde und der gleichzeitig das Ende des Deutschen Reiches in der bisherigen Form bedeuten würde, doch diesen Gedanken verdrängte ich konsequent. Denn ich war hin und hergerissen zwischen dem, was ich eigentlich wünschte und dem, was ich brauchte, um endlich nach Hause gelangen zu können und Nadja nachholen zu können.

Nadja. Wie oft glitten meine Gedanken zu ihr, mich fragend, was sie wohl gerade machte. Wie mochte es ihr in den letzten Monaten ergangen sein? Dachte sie noch an mich? Es war bereits so lange her... Tief sog ich den durchdringenden Stallgeruch ein und fühlte mich ihr so nahe, als wäre sie nicht Tausende von Kilometern entfernt. Ich hatte mich in die neue Arbeit gestürzt mit dem Bewusstsein, in ihre Haut schlüpfen zu können, zu erfahren, wie es war, auf einem Hof zu arbeiten.

Zu meiner eigenen Überraschung hatte ich nach einer Weile Gefallen daran gefunden, körperliche Arbeit zu verrichten. Es war ein befriedigendes Gefühl, bis an die Grenzen der Belastbarkeit zu gehen und dann das Ergebnis dessen, was ich geschafft hatte, stolz zu begutachten, und während der anstrengenden Arbeiten die Muskeln zu spüren, die sich nach und nach aufgebaut hatten. Die Statur eines Hungerhakens, mit der ich hier angekommen war, war längst verschwunden.

Gedankenverloren strich ich mit der Hand über die glatte Stirn der Liese, die zu meiner Lieblingskuh geworden war. Wie immer stand sie ganz still und sah mich dabei mit ihren großen treuen Augen an. Ein Strahl Tageslicht fiel plötzlich in den Stall, begleitet von einem kräftigen Windhauch, der für einen Moment frostige Luft von draußen hereinbrachte. Kleine Stroh- und Staubpartikel tanzten im hellen Licht, das sich deutlich von den Holzbalken abhob, dann wurde es wieder dämmerig. Ein Räuspern riss mich aus meinen Gedanken und aus dem Schatten neben der Tür löste sich Frau Brandt und trat auf mich zu. Ihr Erscheinen war unerwartet, für gewöhnlich schaute sie nur morgens nach dem Rechten. Misstrauisch und verärgert über die Störung der friedlichen Stimmung musterte ich sie.

„Hier sind Sie also..." fing sie an und verstummte.

Ich schwieg und sah sie abwartend an. Was wollte sie? In der spannungsgeladenen Stille, die sich ausbreitete, hörte ich die Kühe träge das Heu rupfen. Ob sie im Sommer nach draußen kamen? Liese hatte den Kopf abgewandt und döste vor sich hin. Ein Muskel zuckte in ihrem Hals, als ihr eine Fliege zu nahe kam, und ihr Schwanz schlug hin und her.

„Wo wollten Sie eigentlich hin?", fragte Frau Brandt schließlich, mit einer Stimme, die weniger die sonstige Schärfe als mehr unerwartete Neugier enthielt.

Ich sah zu ihr hin, wie sie auf ihren Stock gestützt da stand, in einer Haltung und Kleidung, die so gar nicht zu einem Bauernhof passten.

„Was glauben Sie?!", gab ich herausfordernd zurück.

Frau Brandt seufzte, drehte sich um und gebot mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. „Kommen Sie!", bekräftigte sie und achselzuckend folgte ich ihr aus dem Stall ins Haus und hinein in die Stube.

Diese betrat ich seit meiner Ankunft zum ersten Mal, neugierig sah ich mich um. Das erste, was mir auffiel, waren die verschiedenen Gemälde, die an der Wand hingen, so unerwartet in einem Bauernhaus.

„Sind das Originale?", konnte ich mich nicht verkneifen zu fragen.

„Was glauben Sie?!", entgegnete sie im selben Tonfall wie ich vorhin, ihre Mundwinkel zuckten leicht.

Beeindruckt blieb ich vor einem Bild von Cezanne stehen und bewunderte die Farbsetzung des Malers.

„Setzen Sie sich doch", unterbrach Frau Brandt meine Überlegungen, offenbar diente ihre Auswahl weniger dem Kunstverständnis als der Präsentation bedeutender Werke. Ich wandte mich um und ließ mich vorsichtig auf ein teuer aussehendes Ledersofa sinken.

Ein Gefühl der Unwirklichkeit beschlich mich, an einem einfachen Bauernhof solch schickes Mobiliar und wertvolle Bilder vorzufinden. Frau Brandt goss mir aus einer auf dem Tisch stehenden geöffneten Flasche Wein ein und zündete sich dann eine Zigarette an. Ungeachtet der gebotenen Zurückhaltung konnte ich mir einen bissigen Kommentar nicht verkneifen:

„Ich dachte, die deutsche Frau raucht nicht."

Frau Brandt bedachte mich mit einem langen Blick, den ich nicht zu deuten vermochte. Dann bot sie mir eine Zigarette an, die ich ohne zu Zögern annahm, obwohl ich mir aus ihrer momentanen Freundlichkeit keinen Reim machen konnte.

„Besondere Situationen setzen Regeln außer Kraft", bemerkte Frau Brandt nach so langer Zeit, dass ich bereits gar nicht mehr mit eine Antwort rechnete.

In einer fließenden graziösen Bewegung legte sie den Kopf in den Nacken und blies den Rauch in die Luft. Eigentlich war ich nicht an ihrer Geschichte interessiert, aber ich merkte, dass sie offenbar einen Zuhörer brauchte. Außerdem waren Wein und Zigaretten nicht zu verachten.

„Was für Situationen?", erkundigte ich mich daher höflich. „Mein Bruder ist mit seiner Familie aus Ostpreußen geflüchtet. Er und einer meiner Enkel sind dabei ums Leben gekommen", teilte sie leidenschaftslos mit und blickte auf den Kamin, in dem die Flammen knisterten und angenehme Wärme verbreiteten.

Mehr als ein überraschtes „Oh" brachte ich nicht heraus, aber mehr war auch nicht nötig. Es schien, als hätte der Wein, dem sie anscheinend vorher schon zugesprochen hatte, ihre Zunge gelöst. Mit ruhiger Stimme bar jeder Emotion berichtete sie daraufhin von Ihrer Kindheit in Ostpreußen, ihren Verwandten dort und dem nun erfolgten Verlust des Gutshofes, während sie beständig in die flackernden Flammen starrte. Ihre Geschichte weckte die Erinnerung an meine Großeltern, die in Pommern lebten, dort, wo jetzt der Iwan steckte und seinen gnadenlosen Zug Richtung Berlin fortsetzte. Hatten sie noch flüchten können?

„Leute wie Sie tragen dazu bei, dass die Zivilbevölkerung schutzlos dem Feind preisgegeben ist" unterbrach Frau Brandt meine Gedanken, aber ohne die sonst bei ihr übliche Verachtung in der Stimme.

Mit müdem Blick sah sie mich jetzt direkt an. Ihr Vorwurf gesellte sich zu den schuldbewussten Gedanken, die mir selbst schon ab und zu durch den Kopf gegangen waren. Ich wandte den Kopf ab und sah zum Fenster hinüber, durch dessen Gardinen die Februarsonne ein paar Strahlen schickte. Hier im Erzgebirge konnte man sich in Frieden wähnen, kein Artilleriebeschuss, keine Bomben. Ich schluckte schwer. Hatte ich das verdient? Während woanders Kinder starben, weil es nicht gelungen war, den Iwan aufzuhalten? Doch bei der Erinnerung an die Fronterlebnisse zog sich alles in mir zusammen. Nicht um alles in der Welt mochte ich wieder dort sein.

„Ist mein Leben denn weniger wert als das einer Frau oder eines alten Mannes?", fragte ich tonlos.

Der Satz hing ein Weilchen in der Luft, wie ein vom Wind getragenes Blatt, bevor es zu Boden fiel.

„Das ist die Aufgabe der Soldaten, nicht wahr?", drang Frau Brandts kühle Stimme an mein Ohr.

Die Ungerechtigkeit der ganzen Situation verschlug mir für einen Moment die Sprache. Ich war 20 Jahre alt. Ich hatte das ganze Leben noch vor mir und wollte nicht als Kanonenfutter enden.

Wütend brach es dann aus mir heraus: „Ich habe den Krieg nicht gewollt!" und warf Frau Brandt einen aufgebrachten Blick zu.

Sie machte nur nachlässig eine wegwerfende Handbewegung. „Wer hat das schon? Aber so ist es nun mal. Und jeder hat auf dem ihm zugewiesenen Platz seine Aufgabe zu erfüllen."

Das Schweigen, das ihren Worten folgte, breitete sich im Raum aus. Ich wartete auf ihre üblichen abfälligen Bemerkungen, aber sie kamen nicht. Stattdessen sah sie gedankenverloren auf das Weinglas in ihrer Hand und bemerkte leise:

„Jetzt ist es sowieso egal." Dann füllte sie beide Gläser nach.

Nachdenklich sah ich auf die Frau mir gegenüber, die ein wenig auf dem Sofa zusammengesunken war. Sie sah plötzlich so unglaublich alt aus, als hätten sich über Nacht mehr Falten in ihr Gesicht gegraben. Ich konnte mich dennoch nicht dazu aufraffen, Mitleid mit ihr zu haben. Es waren Leute wie sie, denen es immer gut gehen würde, ganz gleich, wie die Zeiten waren, weil sie nur auf ihren Vorteil bedacht waren und entsprechend handelten. In meinem jugendlichen Urteilsvermögen verachtete ich sie dafür. Als spürte sie meinen Blick, streckte sie sich, zog an ihrer Zigarette und wollte schließlich im Plauderton wissen:

„Wo kommen Sie eigentlich her?"

„Aus Norddeutschland, aus der Nähe von Bremen", erwiderte ich, überrascht von ihrer plötzlichen Neugier.

„Und was wollen Sie nach dem Krieg machen?"

Woher auf einmal diese Freundlichkeit? Lag es an der Nachricht über ihren Bruder? Dem Wein? Ich hatte jedoch nicht das Verlagen, überaus mitteilsam zu sein und gab daher nur einsilbig zurück:

„Weiß noch nicht."

Lebten Mutter und die Mädchen noch? Gab es unser Zuhause überhaupt noch? „Schließlich weiß ich ja noch nicht, was ich vorfinde, nicht wahr?", ergänzte ich dann nach einem Moment.

„Pessimismus steht Ihnen nicht", gab Frau Brandt spöttisch zurück. „Sie werden sich schon durschlagen. So, wie sie sich bis hierher durchgeschlagen haben."

Ohne mit der Wimper zu zucken starrte sie mich an. Sie wollte ganz offensichtlich mehr über meine Flucht hören, doch ich schwieg. In der nachfolgenden Stille konnte man ein Holzscheit zu Boden fallen hören. Die Flammen im Kamin knisterten. Ich ließ meinen Blick langsam von Bild zu Bild wandern, Cezanne, Monet, Liebermann, Renoir – alles Impressionisten.

„Was werden Sie machen?", wollte ich wissen und wandte mich wieder Frau Brandt zu.

Eine kaum sichtbare Hebung der Nasenflügel, bevor sie zu ihrer Antwort ansetzte:„Wir werden sehen." Mit einem Kopfnicken wies sie auf die Bilder an den Wänden und ergänzte schlicht: „Die sind meine Versicherung".

Dann stand sie mit einem Ruck auf, verschloss die geleerte Weinflasche ordentlich mit einem Korken und stellte sie auf die Anrichte. Ich erkannte das als Signal, dass das Zusammensein beendet war, zog noch einmal kräftig an der Zigarette und legte dann den verbleibenden Stummel in den Aschenbecher. Ich war im Begriff, die Stube nach einem letzten Blick auf die Gemälde zu verlassen, als mich Frau Brandt noch einmal aufhielt.

„Vergessen Sie nicht...", sagt sie eindringlich, begleitet von dem üblichen arroganten Blick, den ich von ihr gewohnt war, „... wer Ihnen geholfen hat."

Und mit diesen Worten schloss sie die Wohnzimmertür hinter mir.

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Es freut mich, dass ihr meiner Story folgt :) Falls sie euch gefällt, vielleicht könntet ihr euch vorstellen, mir ein Like zu geben.

Ich habe versucht, die ambivalenten Gedanken, die einem jungen Deserteur durch den Kopf gehen, zu vermitteln sowie die Reaktion einer NS-Sympatisantin angesichts der sich verändernden Kriegslage.

Erscheinen euch die Charaktere ( Michael, Nadja, Frau Brandt ) stimmig? Oder habt ihr das Gefühl, dass etwas nicht passt?

Freue mich über euer Feedback :)


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