Teil 54 ( Nadja )
Januar 1945
Seit Tagen hatten wir unseren Hof nicht verlassen können, denn es hatte ohne Unterlass geschneit und der Schnee vor den Häusern hatte sich höher und höher getürmt. Wenn man aus dem Fenster blickte, hatte man lediglich eine weiße, unwirtliche Welt gesehen, nur zwischendurch unterbrochen von den dunklen Silhouetten der Gebäude, die im Schneetreiben schemenhaft auszumachen waren. Wir hatten immer wieder Schnee freischaufeln müssen, um uns wenigstens einen Weg zum Stall und zum Heuschober bahnen zu können.
Der Wind war ums Haus gepfiffen und hatte so kräftig an den Dachbalken gerüttelt, dass ich schon befürchtet hatte, dass sie der geballten Kraft des Sturmes und des Schneedrucks, der auf ihnen lastete, nichts entgegenzusetzen hatten. Doch bislang hatte das Dach glücklicherweise standgehalten. Die Temperatur war tief unter den Gefrierpunkt gesunken und wir hatten ständig gefroren, da wir mit dem wenigen Brennholz, das wir besaßen, haushalten mussten und daher so wenig wie möglich verfeuerten. Um den Temperaturen zu trotzen, hatten wir uns alle auch nachts in der Wohnstube aufgehalten, wo noch ein Rest Wärme zumindest zu erahnen gewesen war.
Heute war der Sturm endlich abgeflaut. Zwar hingen die Wolken weiterhin schwer am Himmel und sorgten dafür, dass die Welt in ein dämmeriges Grau getaucht war und man nie vergaß, dass es jederzeit wieder mit dem Schneefall losgehen konnte, doch seit heute Morgen war es trocken geblieben. Oksana, Marina und ich hatten uns daher auf den längst fälligen Weg ins Dorf gemacht, um unser Getreide mahlen zu lassen, denn wir brauchten nun dringend Mehl.
Es war mühselig gewesen, durch den tiefen Schnee zu stapfen, und bald schon waren wir schweißgebadet gewesen und hatten die Kälte nicht mehr gespürt. Jetzt, auf dem Rückweg, war es bedeutend leichter, da wir unseren Spuren von heute Vormittag folgen konnten. Oksana und Marina zogen den beladenen Schlitten, während ich einen großen Rucksack geschultert hatte. Dennoch ging mir oft die Puste aus, so dass ich nur langsam vorwärts kam. Meine Cousinen waren schon vorgegangen und bereits fast nicht mehr zu sehen.
Ich hielt einen Moment inne. Die Tannen bogen sich unter der Last des Schnees und ab und an kam der Schnee ins Rutschen und rieselte in mehreren kleinen Flocken hinab. Wie still es war. Das Gleiten des Schlittens auf dem Schnee und das sanfte Quietschen, das Schuhe im frisch gefallenen Schnee verursachten, waren verklungen. Keine Vögel waren zu hören, aber man konnte ihre Spuren auf dem Schnee ausmachen. Zu meiner rechten lag eine kleine Anhöhe, auf der ein paar Schneebrocken abgebrochen und herunter gekullert waren, bis sie schließlich in der Waagegerechten ihren Schwung verloren hatten und liegen geblieben waren. Der unberührte Schnee, der in kleinen Hügeln Wurzeln und Baumstümpfe bedeckte, sah aus wie Samt.
Einmal nur hatte ich ein Samtkleid getragen, während einer Aufführung in der Schule, in der ich eine Prinzessin gewesen war, doch ich wusste noch heute, wie es sich angefühlt hatte, mit der Hand darüber zu streichen. Am liebsten hätte ich das Kleid mit nach Hause genommen, aber es war eine Leihgabe aus dem Fundus der Schule gewesen. Was wohl mit ihm in den letzten Jahren geschehen sein mochte?
Auf einmal blitzte die Sonne zwischen den Wolken hervor und verwandelte die weiße Welt in ein Wunderland. Der Schnee funkelte, als bestände er aus Tausenden von Sternen. Für einen Moment vergaß ich die schwierigen Zeiten, in denen wir uns befanden und versank in den Anblick dieser Schönheit. Ich fuhr zusammen, als Oksana mich plötzlich ansprach:
„Ist alles in Ordnung?"
„Alles bestens", versicherte ich und spähte nach vorne. „Wo ist Marina?"
„Beim Schlitten geblieben. Sie raucht." Oksana kicherte. „Muss sie immer heimlich machen. Darf Mutter nicht wissen."
„Ach...", rief ich überrascht aus, ich hatte bislang nichts davon mitbekommen. Sie musste es wahrhaftig gut verborgen haben. „Woher hat sie denn die Zigaretten?"
Bildete ich es mir nur ein oder wurde Oksana wirklich ein bisschen rot im Gesicht?
„Ach, sind selbstgedreht..." druckste sie herum und wechselte dann verblüffend schnell das Thema. „Sag, wie fühlt es sich jetzt an, die Schwangerschaft?"
Sie beäugte meine Rundung, die sich auch unter dem Mantel abzeichnete.
„Schön", erwiderte ich und lächelte versonnen. „Besonders, wenn sich das Baby bewegt."
Wie von selbst legten sich meine Hände auf meinen Bauch, aber im Moment verhielt das Kleine sich ruhig. Oksana seufzte leise. Ich wusste, dass sie sich nichts mehr wünschte, als ebenfalls schwanger zu werden, denn sie liebte Kinder über alles.
„Wenn doch Boris endlich bald käme...".
Den Rest des Satzes ließ sie in der Luft hängen und starrte mit betrübtem Gesichtsausdruck auf ihre Stiefel hinunter. Ich gab ihr einen aufmunternden Stoß.
„Es dauerte bestimmt nicht mehr lange. Und dann produziert ihr gleich Zwillinge."
Mein kleiner Scherz zauberte zumindest ein Lächeln auf ihr Gesicht. Dann sah sie auf und wollte wissen:
„Was glaubst du, wird es ein Junge oder ein Mädchen?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Darüber habe ich, ehrlich gesagt, noch gar nicht nachgedacht" – was gelogen war, denn ich hatte mich das auch schon hin und wieder gefragt – „Hauptsache, es ist gesund."
„Ein Junge könnte den Hof übernehmen...", sinnierte Oksana.
„Hm..." machte ich darauf nur und ergänzte dann: „...den kriegen doch sowieso Igor und Mitja."
Zum Glück, fügte ich in Gedanken hinzu.
„Stimmt", gab Oksana zu und begann, weiter zu gehen. „Dann ist ein Mädchen doch besser, mit dem bleibst du ein Leben lang verbunden."
Ich folgte ihr und überlegte, ob Mischa ein Sohn oder eine Tochter lieber wäre. Ich versuchte, mir sein Gesicht heraufzubeschwören, runzelte aber die Stirn, als es mir nicht vollständig gelang. Das konnte doch nicht wahr sein, vier Monate war es her und schon konnte ich mich nicht mehr an jede Einzelheit erinnern! Leicht verzweifelt fragte ich mich, ob das ein schlechtes Omen sei. Oksana riss mich zum Glück aus diesen destruktiven Grübeleien, als sie neugierig fragte:
„Wie war er denn so, erzähl mal!"
Ein wenig verlegen ob der unerwarteten Frage nestelte ich an meinem Handschuh herum. In einer übertriebenen Geste der Neugier riss Oksana unschuldig die Augen weit auf und lächelte mich schließlich auffordernd an.
„Komm schon, nur unter uns", flüsterte sie verschwörerisch und blinzelte mir zu.
War es das, worüber Oksana und Marina sprachen, wenn sie kichernd und mit rotem Kopf hinterm Stall standen? Ich konnte mich nicht weigern, ohne sie vor den Kopf zu stoßen. Also gab ich ein vorsichtiges „Sehr süß..." von mir. „Ja...?"
Oksanas Gesicht war ein einziges lächelndes Fragezeichen. Sie schaffte es, ihre Stimme gleichzeitig ungeduldig und ermutigend klingend zu lassen. Ich schloss kurz die Augen und sah auf einmal wieder jede Einzelheit vor mir, Mischa, die Abende auf dem Heuboden... Wie von selbst formten meine Lippen eine Antwort:
„Er war so aufmerksam...und lustig. Wenn er mich mit seinen grünen Augen ansah, hätte ich darin versinken können..."
Oksana blieb still, aber sah mich mit einem sanften Lächeln weiter an. Ich wusste, worauf sie wartete und spürte, wie mir die Wärme in die Wangen stieg, bestimmt wurde ich rot. Verlegen fuhr ich fort:
„Es war sehr leidenschaftlich... und dann auch sehr zärtlich..."
Ich dachte an die Nächte, die der ersten Nacht gefolgt waren. Peinlich berührt verstummte ich schließlich.
„Du bist so niedlich", rief Oksana und lachte leise:„Unser Nesthäkchen..."
Sie legte mir den Arm über die Schulter und wollte dann überganglos wissen:
„Du kanntest ihn kaum, aber du liebst das Baby trotzdem, oder?"
Wie gern hätte ich ihr widersprochen und ausgerufen, dass ich den Vater meines Kindes durchaus kannte und ihr gern gestanden, wie sehr ich mich Mischa verbunden fühlte. So viel konnte in all den Monaten passiert sein, und ich machte mir viele Gedanken, aber gleichzeitig war ich überzeugt davon, dass ich es spüren würde, wenn ihm etwas zugestoßen wäre.
Doch alles, was ich zustande brachte, war ein stummes, aber heftiges Nicken, denn ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Natürlich liebte ich unser Baby! Ich würde alles tun, damit es ihm gut ginge. Oksana warf einen letzten sehnsuchtsvollen Blick auf meinen gerundeten Bauch und dann hatten wir auch schon Marina erreicht.
„Da seid ihr ja endlich!", begrüßte sie uns in gelangweiltem Ton und warf mit einer schwungvollen Geste die aufgerauchte Zigarette in den Schnee.
Die Sonne war wieder hinter den Wolkenverschwunden und gemeinsam machten wir uns daran, den letzten Teil des Wegeszurück zu legen
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