Teil 52 ( Nadja )
Wie immer hungrig standen wir alle vom Tisch auf. Ich hatte gedacht, dass mit Ende der Kämpfe in unserem Gebiet alles schließlich besser werden würde, aber ich hatte mich getäuscht. Nachdem uns die Partisanen nach zwei Tagen schließlich wieder verlassen hatten, war uns nichts mehr als eine einzige Kuh geblieben, die uns mit Milch versorgte. Sie hatten unsere Sau und die Hühner geschlachtet und einige der Wintervorräte eingepackt und trotz meines Bettelns und Flehens hatten sie auch Marianka mit sich genommen! Obgleich sie auf unserer Seite kämpften, verscherzten sie sich durch ihr Handeln jegliche leicht positiven Empfindungen, die ich einmal für sie gehabt hatte. Jahrelang hatten wir uns dank der uns verbliebenen Tiere einigermaßen durchbringen zu können, und nun, wo der Krieg für uns selbst ja eigentlich schon vorbei war, traf uns zusätzliches Leid mit voller Härte.
Tante Shenja kam zur Tür herein und brachte ein paar Holzscheite mit, die sie in den Ofen warf, denn inzwischen war es schon empfindlich kalt geworden. Das war das einzig Gute, das wir den Partisanen zu verdanken hatten: Sie hatten für uns Holz geschlagen, was wir zuvor mehr schlecht als recht zustande gebracht hatten. Oksana und ich sahen uns an und dachten wohl beide das Gleiche:„Was sollten wir tun, wenn dieser Holzvorrat aufgebraucht war?" Wir hatten nichts mehr, das wir wie früher gegen Holzscheite hätten eintauschen können, und würden somit größtenteils mit Reisig aus dem Wald vorlieb müssen, was jedoch nur halb so gut heizte wie geschlagenes Holz.
Mit einem nagenden Hungergefühl setze ich mich in den Sessel, um es Oksana gleich zu tun und Kleidungsstücke auszubessern. Ich machte mir Sorgen, welche Folgen die mangelhafte Ernährung für mein Baby haben würde. Flüchtig warf ich jeder einzelnen Familienangehörigen einen Blick zu. Bisher hatte ich noch niemandem von meiner Schwangerschaft berichtet, aber ich würde es wohl nicht viel länger heraus zögern können. Eine Zeitlang herrschte Stille, in der jede von uns ihren Gedanken nachhing. Oksana dachte bestimmt an ihren Mann, der genau wie Igor bei den Truppen kämpfte, die kurz davor waren, ins Deutsche Reich einzumarschieren. Unweigerlich musste ich dabei wieder an Mischa denken. Wo mochte er jetzt sein? Tränen stiegen mir in die Augen und ich konnte nur noch verschwommen die Naht erkennen, die ich gerade ausbesserte.
In diesem Moment begann zum Glück Tante Shenja eine ihrer Geschichten zu erzählen, mit denen sie uns im Winter oft die Zeit vertrieb.
„Es war vor über 100 Jahren, als Sankt Petersburg noch Hauptstadt unseres Landes war...".
Ich war froh über die Ablenkung, konzentrierte mich ganz auf ihre Worte und gewann schließlich meine Fassung wieder. Als Tante Shenja geendet hatte, erhoben wir uns alle, um uns zur Ruhe zu begeben.
„Ich schau rasch nach der Kuh", rief Oksana, warf sich ihren Mantel um und verschwand nach draußen.
Wahrscheinlich wollte sie einen Moment für sich sein, dachte ich, denn sie teilte das Zimmer mit ihrer Schwester, so wie auch ich das Zimmer früher mit Lena und Igor geteilt hatte. Ich war schon auf dem Weg nach oben, doch besann mich spontan anders. Ich musste mich jemandem anvertrauen.
Ich gab Oksana noch einige Minuten, dann folgte ich ihr in den Stall, fröstelnd meine Hände aneinander reibend. Oksana stand vor der Futterraufe, nervös ihre Hände knetend, den Blick auf die leeren Ställe gerichtet. Es war dunkel und ich konnte ihren Gesichtsausdruck kaum erkennen.
„Alles in Ordnung?", fragte ich zögernd und sie wandte sich langsam zu mir um, gar nicht mal überrascht, mich vorzufinden.
„Ich hab so Angst", flüsterte sie, obwohl außer mir sonst keiner zuhörte. „Dass Boris das nicht überlebt. Ich weiß, alle sagen, dass das jetzt die letzten Gefechte sind, dass die Deutschen bald aufgeben werden, aber was, wenn er dabei nun umkommt?" Mit riesengroßen Augen sah sie mich an. „Ich muss ständig daran denken! Ich weiß nicht, was ich dann mache..."
Ihre Stimme wurde von einem Schluchzer überwältigt und sie wandte sich ab. Doch bevor ich etwas erwidern konnte, fasste sie sich wieder und fuhr tonlos fort:
„Und selbst wenn der Krieg vorbei ist und er wieder kommt, habe ich Angst, dass er sich verändert haben wird..."
Ich wollte etwas einwerfen, doch sie gab mir keine Gelegenheit dazu.
„...ich weiß es, ich merke es an seinen Briefen. Er ist nicht mehr der Gleiche wie vor drei Jahren."
Erneut durchfuhr Oksana ein Schluchzen. Ich wusste nichts zu sagen und nahm sie einfach wortlos in den Arm. Es war egoistisch von mir, ich fühlte mich verpflichtet, ihr tröstende Worte zu sagen, doch stattdessen kam mir wieder Mischa in den Sinn. War auch er anders als zu Beginn des Krieges? War es mein Glück, dass ich den Mann lieben gelernt hatte, der er inzwischen nach mehreren Kriegsjahren geworden war?
Mir fiel auf, wie still es war, außer dem Knirschen im Gebälk und den sporadischen Geräuschen der wiederkäuenden Kuh war nichts zu hören, während hier früher selbst in der Nacht das Scharren von Hufen, ein Prusten, Schnauben oder Rascheln die Stille durchbrochen hatte. Ich trauerte um eine Zeit, die ich im Nachhinein als glücklich und sorgenfrei idealisierte, obwohl sie das objektiv nie gewesen war – selbst während Mischas Anwesenheit hatte sich die Sorge stets dicht unter der Tünche von Glück verborgen, darauf gerichtet, hervorzubrechen, sobald etwas Unvorhergesehenes eintrat.
Lange standen wir engumschlungen im Stall, bis Oksanas Tränen versiegten; ich hoffte, ihr auch ohne Worte Trost gespendet zu haben.
Obwohl mir in dem zugigen Stall inzwischen furchtbar kalt geworden war, schien es jetzt der richtige Zeitpunkt zu sein, ihr mein Geheimnis zu berichten. Bevor Oksana einen Schritt auf die Tür zumachte, holte ich tief Luft und krächzte:
„Ich muss dir etwas sagen..."
Überrascht und neugierig schaute sie mich an.
Mein Herz schlug heftig, als ich stockend sagte: „Ich ... ich erwarte ein Kind."
Ängstlich wartete ich auf ihre Reaktion. Oksana sah mich einen Moment verblüfft an, fragte:
„Wie das?"
Da ich mit der Frage gerechnet hatte, hatte ich mir bereits eine Antwort überlegt:
„Das...äh... war, als die Partisanen da waren...der Eine war so süß... und..." – ich hatte absolut keine Ahnung mehr, wie sie ausgesehen hatten, geschweige denn, ob einer sympathisch genug gewirkt hatte – „... und dann ist es halt passiert", schloss ich lahm.
Oksana schwieg so lange, dass ich annahm, sie würde mir gleich meine Verantwortungslosigkeit um die Ohren hauen. Stattdessen strich sie mir sanft über's Haar und sagte:
"Ach, Nadjuscha...so sind halt die Zeiten. Neugierig und ohne Zeit zu warten, nicht wahr? War es denn schön?"
Ich nickte stumm.
„Willst du es wegmachen lassen?", fragte sie und sah mich forschend an.
Ich schüttelte heftig den Kopf. Sie legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte beruhigend:
„Das wird schon, du wirst sehen."
„Aber Mutter...", wandte ich ein.
„Sie will doch sowieso ein Enkelkind. Nun kommt es eben vor dem Ehemann", versucht mich Oksana mit einem Scherz aufzuheitern. Und fuhr fort:„Im Krieg gelten nicht die normalen Regeln, weißt du. Du wirst nicht die einzige unverheiratete Frau mit Kind sein."
Mit diesen Worten bugsierte sie mich sanft aus dem Stall hinaus und ich spürte eine große Erleichterung, wenigstens diesen Teil meines Lebens nicht mehr verheimlichen zu müssen.
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