Teil 5

Rückblick

Ich erinnerte mich an meine erste Begegnung mit ihm vor einigen Tagen. Ich war eines Abends mit Marianka in den Wald geritten und wollte nahe am See nachschauen, ob die Walderdbeeren schon reif waren. In letzter Sekunde hatte ich, halb verborgen im Dickicht, eine graue Uniform entdeckt – ein deutscher Soldat. Ich hatte mich furchtbar erschreckt, war von Marianka gesprungen und hatte sie hastig ein paar Schritte zurück gezerrt und mich zwischen die Bäume geduckt, inständig hoffend, dass sich Marianka nicht durch Wiehern bemerkbar machte und er mich noch nicht entdeckt hatte.

Eine gefühlte Ewigkeit lang hatte ich nicht gewagt, mich zu bewegen, doch im Dickicht hatte sich nichts gerührt. Ganz vorsichtig hatte ich mich schließlich erhoben und einen Blick riskiert. Ich hatte geglaubt, er schliefe, aber irgendwas war mir merkwürdig erschienen. Ab und an hatte er sich unruhig hin und her bewegt und seine Beine hatten krampfhaft gezuckt. Ich hatte sogar geglaubt, ein leichtes Stöhnen zu vernehmen. Von diesem Menschen schien keine Gefahr auszugehen. Meine Neugier war geweckt gewesen und ich hatte mich auf leisen Sohlen näher geschlichen. Ich hatte mich nicht getäuscht, der Soldat war offenbar sehr krank. Er hatte die Augen geschlossen gehabt und um seinen linken Unterarm war ein schmutziges Stück Stoff gewickelt gewesen.

Ich hatte ihn ein Weilchen aus der Nähe beobachtet, bis ich mir sicher gewesen war, dass er zu schwer verletzt war, um wahr zu nehmen, was um ihn herum vor ging. Dann war ich direkt zu ihm hin gegangen und hatte mich neben ihn gehockt. Sein Atem war auffällig schnell gegangen und sein Gesicht war stark gerötet gewesen. Eine rasche Berührung mit der Hand hatte eine glühend heiße Stirn offenbart, an der sein Haar schweißnass klebte. Ich hatte auf seinen Arm geschaut. Unter dem gelockerten Stoff hatte ich erkennen können, dass ein dreckiger Granatsplitter in seinen Arm gedrungen war, was offenbar zu einer Infektion der Wunde geführt hatte. Daher das hohe Fieber. Wahrscheinlich war er kaum noch bei Bewusstsein.

Ich war mir sicher gewesen, dass er bald an der Infektion sterben würde. „Gut so", war es mir befriedigt durch den Kopf gegangen. „Einer weniger, unter dem wir leiden müssen!" Die Deutschen hatten uns genug angetan. Nicht nur, dass sie seit Jahren unser Land besetzt hatten und Menschen erschossen und verschleppt wurden, sondern sie requirierten auch alles an Nahrungsmitteln, dessen sie habhaft werden konnten. Seit dem Angriff der Roten Armee auf Mogilew hatten sich die Deutschen allerdings auf dem Rückzug befunden und die Frontlinie war mittlerweile nach Westen gerückt. Ich hatte gehofft, dass dies der Anfang vom Ende des Krieges sein würde.

Ich hatte dem Soldaten wieder ins Gesicht gesehen und hatte bemerkt, wie jung er noch war. Er konnte nicht viel älter sein als ich selbst. Das hatte etwas in mir berührt. Kein junger Mensch sollte so fern der Heimat alleine im Sterben liegen. Ich hatte nicht gewusst, was er alles im Krieg getan hatte und ich hatte auch gar nicht darüber nachdenken wollen. Ich hatte nur das starke Gefühl gespürt, dass ich nicht einfach so wegreiten könne.

Ich war zu Marianka zurück gegangen, hatte meinen Trinkbehälter aus dem Beutel gewickelt und am Ufer Wasser geschöpft. Das hatte ich zu dem Soldaten gebracht, seinen Kopf etwas angehoben und den Becher an seine Lippen gesetzt. Mit geschlossenen Augen hatte er Schluck für Schluck getrunken. Nach einem Weilchen war das Wasser leer gewesen. Ich war erneut zum See gegangen, hatte meinen Rocksaum ins Wasser getaucht und hatte, nachdem ich ihn etwas ausgewrungen hatte, mit dem feuchten Saum mehrmals über sein Gesicht gestrichen, was Spuren in dem staubigen, grauen Film aus Asche hinterlassen hatte. Dann hatte ich mich erhoben, war zurück zu Marianka gegangen, hatte noch einen letzten Blick auf den jungen Soldaten geworfen und war wieder fortgeritten. Ich hatte niemandem von dieser Begegnung erzählt.

Am nächsten Morgen war ich erneut zum See geritten. Ich hatte an die Stiefel des Soldaten gedacht und an Waffen, die unsere Jungs gut gebrauchen könnten. Zielstrebig, aber dennoch vorsichtig war ich auf ihn zugeschritten. Er lebte noch, aber sein Atem war schwer gegangen und er schien große Schmerzen zu haben. Sein Gesicht war unverändert extrem heiß gewesen und ich hatte seine Uniformjacke geöffnet und sie gelockert, dann hatte ich ihm erneut Wasser zu trinken geholt. Ehrlich gesagt, war ich sehr überrascht gewesen, ihn noch lebend vorzufinden. „Eine Kämpfernatur", hatte ich gedacht und war ohne es zu wollen doch irgendwie beeindruckt gewesen von diesem Überlebenswillen.

Ich hatte auf die Verletzung auf seinem Arm gesehen und mich gefragt, warum er den Granatsplitter nicht herausgezogen hatte, bevor sich die Wunde entzündet hatte, hatte probeweise an dem Fremdkörper gezogen und feststellen müssen, dass er unglaublich fest steckte. Da war mir ein verrückter Gedanke gekommen: wie wäre es, wenn ich versuchte, den Granatsplitter zu entfernen? Da Herausziehen nicht möglich war, würde ich ihn herausschneiden müssen...

Das war eine Herausforderung, ohne Frage, eine der größten, die ich je vor mir hatte. Zwar hatte ich bisher schon diverse Wunden verarztet, aber noch nie geschnitten. Das Ziel war dabei, den Splitter herauszubekommen, ohne dass der Patient dabei verblutete. Das hier war eine geniale Möglichkeit, es auszuprobieren. Wenn es schief ging, nun denn, auf das Leben eines deutschen Soldaten kam es nun wirklich nicht an. Er würde ansonsten ohnehin bald sterben. Aber wenn es gelang und ich dadurch die Infektion aufhalten könnte – dann hätte ich wirklich etwas Besonderes geschafft.

Den ganzen Tag hatte ich versucht, mich abzulenken, indem ich mich intensiv auf die Feldarbeit konzentrierte. Doch es war schwer gewesen, denn allzu leicht gingen bei den stupiden Tätigkeiten die Gedanken auf Wanderschaft. So hatte ich nicht verhindern können, dass mich immer wieder Zweifel an meinem Vorhaben befielen. Es war unmöglich, so eine Operation alleine durchzuführen, schließlich hatte ich nur zwei Hände. Ganz zu schweigen von dem Infektionsrisiko an diesem alles andere als keimfreien Ort. Wobei das eigentlich, wenn man es genau betrachtete, das geringste Problem war, denn schlimmer als jetzt konnte es ohnehin nicht werden. Wenn ich nichts unternahm, wäre der Soldat ebenfalls in Kürze tot.

Dann hatte ich darüber nachgegrübelt, wie ich ihn betäuben könnte. In den Kriegslazaretten machte man die Patienten oft betrunken, aber wir hatten ohnehin nur wenig Alkoholvorräte und deshalb nichts zu verschwenden. Außerdem benötigte ich schon etwas davon zur Desinfektion. Ich hatte daher entschieden, dass es ohne Betäubung gehen musste. schließlich konnte es mir ja egal sein, wie schmerzhaft die Prozedur für ihn sein würde. Allerdings hatte es mir zu denken gegeben, dass womöglich jemand seine Schreie hören könnte. Mir war natürlich nicht daran gelegen gewesen, dass irgendjemand darauf aufmerksam wurde, was ich tat, da man nie wissen konnte, wer sich im Wald herumtrieb.

Die einzig durchführbare Lösung war es wohl, ihn zu knebeln, was mir ein wenig Verdruss bereitet hatte. Ich hatte mich schließlich als Ärztin gesehen und nicht als Gefängniswärterin, und ich war kurz davor gewesen, das ganze Vorhaben im Sande verlaufen zu lassen. Mit Mühe hatte ich die Gedanken beiseite geschoben und mich mit vermehrter Energie dem Herauszupfen von Unkraut gewidmet. Als dann die Tagesarbeit getan war und wir gegessen hatten, hatte ich wie mechanisch alles zusammengesucht, was ich brauchen würde, es in einen Beutel gestopft und unauffällig den Hof verlassen.

Als ich auf der Lichtung angekommen war, war ich langsam von Marianka gerutscht und hatte mich zögernd dem Soldaten genähert. Der Gedanke an das, was mir bevor stand, hatte mein Herz vor Nervosität schneller schlagen lassen. Ein kleiner Käfer war dabei gewesen, über sein Gesicht zu krabbeln, doch nicht ein Muskel hatte sich bewegt. War er etwa bereits tot? Für einen kurzen Moment hatte mich ein Gefühl der Erleichterung durchfahren – ich konnte meinen verrückten Plan begraben. Um sicher zu gehen, hatte ich mich neben ihn gekniet und routiniert seinen Puls am Hals geprüft. Er war zwar nur schwach zu spüren gewesen, aber es war dennoch unverkennbar gewesen, dass der Soldat noch lebte. Ich hatte für einen kurzen Moment die Augen geschlossen und nach der Entschlossenheit gesucht, die mich dazu gebracht hatte, meinen Plan in die Wege zu leiten.

Schließlich hatte ich mir einen Ruck gegeben, mein Messer geholt und Stück für Stück den völlig verdreckten Stoff der Uniform zerschnitten und die Fetzen beiseite geschmissen, damit ich nicht ständig vor Augen gehabt hatte, wem ich hier gerade versuchte das Leben zu retten. Daraufhin hatte ich ein kleines Feuer entzündet, wo ich zum Zwecke der Keimfreiheit alle Materialien gründlich erhitzte, und zum Desinfizieren einige Tropfen Alkohol in die Wunde gegossen, woraufhin der Soldat mit einem Ruck seine Augen in einem schmerzvoll verzogenen Gesicht aufgerissen hatte und einen Schrei ausgestoßen hatte, dessen Lautstärke zum Glück durch den Knebel gemindert wurde. Seine Armmuskeln hatten sich angespannt in dem vergeblichen Bemühen, den Arm fort zu ziehen. Nervös hatte ich inne gehalten, doch schon einen Augenblick später hatte er die Augen wieder geschlossen gehabt und war wieder still geworden.

Sollte ich wirklich...? Ich hatte tief Luft geholt – und begonnen. Es war die Hölle gewesen. Ich hatte geschnitten und gezogen, getupft und genäht, war schweißgebadet gewesen, hatte versucht, die gedämpft hervordringenden Schmerzensschreie zu ignorieren und war schließlich enorm erleichtert gewesen, als der Soldat endlich in eine gnädige Bewusstlosigkeit fiel. Vor Anstrengung zitternd hatte ich am Ende einen Druckverband angelegt, um die Blutung zu stillen. Dann war ich erschöpft ins Moos gesunken und hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen.

Nach einigen Augenblicken hatte ich mich allerdings nervös zu fragen begonnen, ob der Soldat die Operation überhaupt überlebt hatte, denn mir war auf einmal bewusst geworden, dass er sich schon lange nicht mehr gerührt hatte. Die Pulskontrolle hatte ein unregelmäßiges Pulsieren offenbart und er war immer noch bewusstlos. Daher hatte ich geschwind den Knebel entfernt und seinen Kopf so zur Seite gedreht, dass er frei atmen konnte. Anschließend hatte ich die verschmutzte Schürze entfernt und war in den See gesprungen, wo ich die erfrischende Wirkung des Wassers auf meinen verschwitzten Körper genossen hatte.

Nachdem Ich ein paar Züge geschwommen war, war langsam in mein Bewusstsein gesickert, dass ich es wahrhaftig geschafft hatte, den Fremdkörper herauszuschneiden, ohne dass der Patient dabei gestorben war – zumindest bis eben. Dieser Gedanke hatte mich schließlich wieder aus dem Wasser getrieben. Doch ich hatte den Soldaten noch immer lebend vorgefunden. Er hatte viel Blut verloren gehabt und benötigte daher dringend Wasser, um den Flüssigkeitsverlust zu kompensieren, doch in bewusstlosem Zustand konnte ich ihm nichts zu Trinken geben.

Zögernd hatte ich ihm deshalb erst leicht, dann etwas kräftiger auf die Wange geschlagen, doch es hatte nicht den gewünschten Effekt hervorgerufen. Einer Eingebung folgend hatte ich ihm dann Wasser über das Gesicht gekippt, was ihn tatsächlich wieder mehr oder weniger zu sich gebracht hatte. Mit geschlossenen Augen hatte er jedenfalls leise zu stöhnen begonnen. Ich konnte mir vorstellen, welche Schmerzen er nun spüren musste und einen Augenblick lang hatte ich mir erlaubt, Mitleid mit ihm zu haben. Dann hatte ich ihm die Flasche Wasser an die Lippen gehalten, bis er sie quälend langsam Schluck für Schluck geleert hatte. Danach hatte ich ihn seinem Schicksal überlassen und war in der nun einsetzenden Dunkelheit nach Hause geritten. Als ich am nächsten Morgen nach ihm gesehen hatte, war er weiterhin glühend heiß gewesen. Aber er war noch immer am Leben.

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