Teil 46 ( Nadja )

Wir schmiedeten hingebungsvoll Zukunftspläne. Beziehungsweise Marina und Oksana taten es und ich hörte zu und gab nur ab und zu ein bestätigendes Gemurmel von mir.

„...und dann werden wir wesentlich mehr erwirtschaften als jetzt...", sagte Marina, stützte sich auf die Heugabel und sah versonnen auf die Dachgiebel, als sie hinzufügte:„Und dann möchte ich mindestens drei Kinder."

Marina hatte ihren Dmitrij bereits vor dem Krieg geheiratet und er hatte seitdem mit bei uns auf dem Hof gelebt, der eine zusätzliche helfende Hand gut gebrauchen konnte, nachdem mein Onkel seinem Alkoholkonsum erlegen war. Dmitrij war mit Leib und Seele Landwirt und hatte durch Schulden seiner verstorbenen Eltern seinen Besitz verloren, und als auch mein Cousin, Marinas und Oksanas Bruder, gestorben war, war er der logische Erbe der Hofhälfte meines Onkels. Töchter zählten dabei nicht, aber das machte Oksana nichts aus, die nach dem Krieg ohnehin zu Boris auf seinen Hof ziehen würde.

Sie hatten während des Krieges eine Blitzhochzeit gehalten und nun erging sich Oksana in Fantasien, wie sie nach dem Krieg eine große Feier abhalten würden. Mit leuchtenden Augen malte sie uns jedes Detail aus, während wir uns der profanen Tätigkeit des Stallausmistens widmeten. Wirklich, der Gegensatz hätte nicht größer sein können. Doch ich musste zugeben, dass die Gedankenspiele meiner beiden Cousinen ausreichend Ablenkung boten, die mir half, den schweren Duft nach Ammoniak zu ignorieren. Seit der Schwangerschaft war mein Geruchssinn unheimlich empfindlich geworden und ich störte mich an Gerüchen, die mir früher nicht einmal auffällig erschienen waren.

„....und dann möchte ich bald einen Sohn...", fuhr Oksana fort, „... und ein Jahr später eine Tochter..."

„Na, du hast ja schon generalstabsmäßig geplant", neckte Marina ihre jüngere Schwester und warf ihr frisches Heu entgegen. „Wenn du die Kinder so schnell hintereinander bekommst, wirst du kaum dazwischen mitarbeiten können."

„Ach Quatsch!", wandte Oksana ein, „Das hat doch Mutter auch nicht abgehalten".

Ich zog eine Grimasse, als ich das hörte, aber es stimmte. Nach den ersten drei Monaten fühlte ich mich wieder voller Energie. Wie zum Beweis schmiss ich schwungvoll Fuhre um Fuhre auf die Schubkarre.

„Und du, Nadjenka, wie soll dein Leben aussehen?", wandte sich Marina an mich.

„Och, ich...ähm, warte wohl erst mal darauf, dass der Mann für's Leben auftaucht", stotterte ich überrumpelt und mir wurde für einen Moment furchtbar warm.

„Und wie soll der sein?" fragte Oksana neugierig.

Mischas Bild vor Augen erwiderte ich ohne zu zögern:„Blond, groß, schlank, intelligent, mutig, einer, bei dem man sich geborgen fühlen kann".

„Das hört sich gut", stimmte mir Oksana zu und strich sich über die Haare.

Anknüpfend an die vorherige Unterhaltung über Kinder sinnierte Marina:„Es sollten möglichst viele Söhne sein...".

„Lieber nicht", unterbrach Oksana sie und warf ihren Zopf, der ihr auf die Brust gerutscht war, in einer unbewussten Bewegung, deren Automatismus durch jahrelange Übung entstand, über die Schulter. „...dann gibt es nur Streit um's Erbe."

Wir kicherten fröhlich. In dieser Hinsicht waren unsere beiden Familien vom Schicksal begünstigt: jede hatte nur einen Sohn bekommen. Sorge um Igor durchfuhr mich, denn schon lange hatten wir nichts mehr von ihm gehört. Allerdings musste das nichts bedeuten, da wir Briefe nur erhielten, wenn sich jemand ins nächste Dorf aufmachte oder jemand bei uns vorbei schaute. Was selten genug vorkam, denn keiner litt unter Mangel an Arbeit. Dafür erhielten wir dann oft mehrere Briefe gleichzeitig, die sich mit der Zeit angesammelt hatten.

Die Männer und wir waren dazu übergegangen, sie zu nummerieren, damit sie chronologisch gelesen werden konnten. Als hätten meine Gedanken eine magische Wirkung gehabt, öffnete sich in diesem Moment die Stalltür und Tante Shenja steckte ihren Kopf herein und schob gleich darauf ihren matronenhaften Körper hinterher. Sie strahlte glücklich und mit den Worten „Post für euch, Mädchen!" reichte sie ihren Töchtern mehrere Briefe.

„Von Igor habe ich auch etwas", fuhr sie an mich gewandt fort, „aber ich bringe ihn erst einmal Olga".

Ich seufzte erleichtert – endlich ein Lebenszeichen meines Bruders. Noch bevor Tante Shenja den Stall verlassen hatte, hatten Oksana und Marina bereits jeweils die für sie bestimmten Briefe ungeduldig aufgerissen. Während Marina las, zeichneten sich all ihre Gefühle auf ihrem Gesicht ab und ich beobachtete sie fasziniert. Für einen Moment schien es, als nähme ihr Gesicht einen dunkleren Farbton an und ein verlegenes Lächeln umspielte ihre Lippen. Unerwartet überfiel mich der pure Neid, dass meine Cousinen so offen ihre Sehnsucht äußern konnten und mit ihrem Liebsten Briefe wechseln konnten. Und ich? Ich lebte in ständiger Ungewissheit, konnte keine Briefe schreiben und durfte noch nicht einmal zeigen, dass ich litt!

Wütend und frustriert stieß ich meinen Fuß ins Stroh, so dass feiner Staub aufstieg. Oksana sah irritiert auf und ich schämte mich ein wenig meiner Gefühle, ich gönnte ihnen doch ihr Glück. Oksana, die eine schnelle Leserin war, öffnete bereits den zweiten Brief. Ihr glückliches Lächeln wich bald einem erschrockenem Gesichtsausdruck. Entsetzt sah sie stumm zu ihrer Schwester hinüber.

„Was ist?!", fragte ich alarmiert.

Bei meinem Tonfall blickte auch Marina auf. Oksana fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen und stammelte:

„Boris schreibt, dass Mitja... er ist im Lazarett..."

Marina wurde bleich und riss ihrer Schwester fast den Brief aus der Hand, als sie ungeduldig und mit schriller Stimme rief:„Was schreibt er?"

Oksanas Blick flackerte über die Zeilen, die sie überflog, und sie holte tief Luft, als sie tonlos informierte:

„Sie mussten ihm ein Bein abnehmen."

Marina schrie auf und schlug die Hände vor das Gesicht. Die Arme! Ich ließ die Schaufel fallen und nahm meine schluchzende Cousine in den Arm. Oksana hatte weitergelesen und ergänzte mit brüchiger Stimme:

„Aber er lebt, Marina! Er lebt!"

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