Teil 45 ( Michael )

Inzwischen hielt ich mich an Straßen und Wege und versuchte, mit Hilfe der Ortsschilder, auf die ich traf, eine gewisse Orientierung zu erlangen. Die deutschen Buchstaben waren mit kyrillischen Buchstaben übermalt worden, doch durch Nadjas Unterrichtung des russischen Alphabets konnte ich die Namen der Orte entziffern. Nachts wiesen mir bei einem wolkenfreien Himmel auch Sterne den Weg, denn zum Glück war von den Belehrungen meines Großvaters, dessen Steckenpferd die Astronomie war, doch einiges hängengeblieben.

Frau Junge, wie ich sie im Stillen wegen ihres Buben nannte, hatte mir alles gesagt, was sie vom Verlauf der Frontlinie wusste. Um diese zu vermeiden, versuchte ich beständig, mich Richtung Südwesten durchzuschlagen. Tagsüber versteckte ich mich in leeren Scheunen oder verlassenen Häusern, derer ich immer zahlreicher antraf – Unterkünfte, die offenbar in großer Hast verlassen worden waren. Nicht selten zeugten offene Schränke und herumliegende Taschen von überstürztem Aufbruch. In einem Haus standen sogar noch Geschirr und ein inzwischen mit Schimmel überzogenes Gericht auf dem Tisch.

Auch heute hatte ich das Glück, ein leer stehendes Haus am Rande eines Ortes vorzufinden – ich verdrängte den Gedanken, wo sich dessen Bewohner befinden mochten – und sah erst einmal in der Küche nach etwas Essbarem. Mit nur leicht gekeimten Kartoffeln, Salz und Kümmel ließ sich durchaus etwas anfangen und gekocht schmeckte mir das karge Mahl vorzüglich. Die Reste wickelte ich ein Tuch und steckte sie ein. Dann sah ich mich nach etwas Brauchbarem um, doch fand nichts außer einigen Werkzeugen, die zu schwer zum Tragen waren, und einer Schmuckschatulle. Ich sah hinein und zögerte einen Augenblick. Die Versuchung, einfach etwas davon mitgehen zu lassen, war groß. Doch das über die Jahre durch einen religiösen Haushalt geprägte Gewissen hielt mich davon ab.

Dafür wurde mein Leichtsinn immer größer, umso mehr, als ich bereits seit Tagen kaum noch Menschen begegnet war geschweige denn russischen Soldaten. Die Gefahr missachtend, die tagsüber von den Ortschaften ausging, ließ ich mich müde in voller Montur auf ein Sofa fallen und schlief sofort ein. Diese Unvorsichtigkeit wurde mir beinahe zum Verhängnis. Nur langsam registrierte mein schläfriges Hirn die russischen Wortfetzen, die von draußen herandrangen. Offenbar befanden sie sich direkt vor der Haustür. Mit einem Ruck setzte ich mich auf, schnappte meinen Reisesack und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. Ich verfluchte meinen Leichtsinn, der mich davon abgehalten hatte, mich auf eine solche Situation vorzubereiten.

Mit einem heftigen Ruck wurde die Haustür aufgestoßen und schmetterte gegen die Wand. So sah ich meine einzige Chance darin, durch das Fenster zu entkommen, in der Hoffnung, dass sich draußen nicht noch mehr russische Soldaten befanden. Der Riegel klemmte. Ein kräftiger Schlag mit dem Ellenbogen ließ die Scheibe vibrieren, aber das Glas hielt. Verzweifelt ergriff ich einen Lampenständer und hieb auf die Scheibe ein. Mit einem lauten Klirren zerbarst schließlich das Glas und das wurde auch im angrenzenden Raum gehört. Mit einem lauten „Stoi!" stürmte ein Rotarmist herein, so dass ich mich nun ohne zu Zögern durch das Loch in der Scheibe zwängte und kaum bemerkte, dass ich mir durch die scharfen Ränder Schnitte zuzog.

Geduckt lief ich so schnell ich konnte auf eine in der Nähe stehende Baumgruppe zu, als mir auch schon zwei Schüsse hinterher geschickt wurden, die mich gottlob verfehlten. Ich quetschte mich durch Gestrüpp und rannte, was die Beine hergaben. Meine Lunge brannte und der Atem ging nur noch stoßweise, aber schließlich verklangen die wütenden Stimmen in der Ferne. Offenbar hatte man die Verfolgung aufgegeben. Nach Luft ringend beugte ich mich vornüber, bis sich mein Puls wieder beruhigt hatte und ich einige Schlucke Wasser zu mir nehmen konnte. Nun hatte ich allerdings die Orientierung verloren. Prüfend sah ich nach oben auf einen bewölkten Himmel, durch den sich auch nicht der kleinste Sonnenstrahl ausmachen ließ. Was, wenn ich nun wieder zurück Richtung Osten ging?

Hier jedoch konnte ich nicht bleiben, also blieb mir nichts anderes übrig, als mich wieder auf den Weg zu machen und zu versuchen, diese Ortschaft in weitem Abstand zu umrunden. Ein kalter Wind war aufgezogen und wehte mir in kräftigen Böen entgegen, denen gegenüber die dünne Jacke nur wenig Schutz bot. Ich ging so schnell ich es vermochte, um wenigstens durch die Bewegung wärmer zu werden und es dauerte nicht lange, bis mir ein breiter Fluss den Weg versperrte. Eine kräftige Strömung zog alles im Wasser Schwimmende mit sich und es war klar, dass an ein Durchschwimmen überhaupt nicht zu denken war. Ich zog das Papier hervor, auf dem mir Frau Junge eine grobe Karte des Generalgouvernements skizziert hatte. Sollte dieser breite Fluss die Weichsel sein, an deren Ufern sich die feindlichen Truppen gegenüber standen?

Ich lauschte angestrengt, doch außer dem Brausen des Windes war weder Artillerie noch sonstiger Gefechtslärm zu hören. Eingedenk der Tatsache, dass Flüsse in Richtung Meer oder zu anderen Flüssen hin flossen, erschien es mir am sinnvollsten, der Strömung nachzugehen, die mich vermutlich zumindest nicht nach Osten führen würde. Im Schutz der Bäume streifte ich das Ufer entlang und hoffte, irgendwo eine Möglichkeit zu finden, den Fluss zu überqueren.

In der Ferne gewahrte ich einen einsamen Angler, der gerade dabei war, seine Sachen zu verstauen. Ich blieb sofort stehen und verbarg mich im Gestrüpp, doch er schien mich zum Glück nicht bemerkt zu haben. Der Fluss spiegelte das Grau des Himmels wieder und floss unbeirrt mit rascher Strömung dahin. Der stürmische Wind sorgte für deutlich sichtbare Wellen, die sich in Ufernähe hie und da an größeren Felsen brachen. Die Kälte kroch wie ein fieses Insekt in meine Jacke und nur mit Mühe konnte ich verhindern, dass meine Zähne aufeinander schlugen. Mein Blick fiel auf meine Handgelenke, die von rötlichen Schnittwunden gezeichnet waren. Ach ja, die Glasscheibe, doch das Blut war bereits geronnen und hatte eine feine Kruste hinterlassen.

Die nächste Sturmbö ließ mich nach einem windgeschützteren Platz Ausschau halten. Der Angler war zum Glück verschwunden und auch weitere Menschen waren nicht auszumachen. Mittlerweile hatte es zu dämmern begonnen, was mir nur recht war. In der Ferne glaubte ich ein Dickicht zu erkennen, das mir vielleicht ein wenig Schutz bieten würde. Entschlossen stapfte ich durch den feinkörnigen weißen Sand, der sich alle Mühe gab, mir das Gehen zu erschweren, darauf zu und igelte mich schließlich im Schutz einer mit Sträuchern überwachsenen Böschung ein. Ich beobachtete erschöpft die Wellen auf dem Wasser, die vom Wind mal hierhin, mal dorthin getrieben wurden und rieb mir die kalten Hände. Bis auf das Brausen des Windes war es ruhig, kein Vogel ließ sich hören, offenbar hatte alles Getier Schutz gesucht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich wohl ab und zu eingenickt war, bemerkte ich, dass die Windstöße in Intensität nachließen. Es war Zeit weiterzugehen. Meine Füße waren so kalt, dass ich sie kaum noch spürte, aber gehorsam trugen sie mich Schritt für Schritt voran. Es war ein mühsames Unterfangen, sich in der inzwischen hereingebrochenen Dunkelheit seinen Weg zu suchen. Zweige schlugen mir ins Gesicht und Dornen verhingen sich in meiner Jacke und dann knallte ich mit dem Schienbein irgendwo gegen und unterdrückte einen Fluch.

Es war Wahnsinn, weiter zu gehen. Was, wenn ich mir einen Fuß brach? Und so war ich kurz davor, erneut nach einem Lagerplatz Ausschau zu halten. Da fiel mein Blick auf den Boden. Ein unförmiges Stück Holz lugte aus einem Gebüsch hervor. Es sah aus wie... Ich bog die Sträucher auseinander: Tatsächlich, es war ein Boot. Ein kleines hölzernes Ruderboot, zwar ziemlich vermodert, aber immerhin ein Boot. Prüfend versuchte ich auf die andere Seites des Flusses zu schauen. Aber es war viel zu dunkel, um drüben etwas zu erkennen.

Ich haderte mit mir, ob ich die Überfahrt wagen sollte. Auch auf dem Wasser war nichts zu sehen. Immerhin bot die Dunkelheit auch Schutz. Die Tatsache, dass es ein unwirtlicher Platz zum Lagern war, gab den Ausschlag. Nachdem ich mir einen kräftigen langen Stock gesucht hatte, zerrte ich das widerspenstige Boot zum Ufer und ignorierte den Druck im Magen. Diese stürmische Nacht war wie geschaffen für die Überquerung, keiner würde mich bemerken.

Ich kletterte in den Kahn und vergewisserte mich durch Tasten, dass er kein Loch hatte. Dann stieß ich mich mit einem kräftigen Schub vom Ufer ab. Der Kahn dümpelte erst sanft in Ufernähe dahin, dann hatte ich ihn in die Mitte des Flusses bugsiert, wo die Strömung griff und mich flussabwärts beförderte. Wasser spritzte in das Boot und es wurde von den kabbeligen Wellen hin und her geschaukelt. Und es war verdammt kalt mitten auf dem Fluss.

Unter großer Anstrengung bemühte ich mich, das Boot in Richtung des anderen Ufers zu lenken. Zwischendurch hoben besonders kecke Wellen den Bug leicht in die Höhe. Man hätte Angst bekommen können, doch inzwischen hatte längst der Automatismus eingesetzt, der mich auch im Gefecht das Richtige tun ließ, ohne dass ich darüber nachdenken musste. Unendlich langsam schien ich mich dem anderen Ufer zu nähern. Meine Arme fühlten sich an, als würde sie mir jeden Moment abfallen, und ich schwor mir, nie wieder bei solcher Witterung in ein Boot zu steigen.

Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, erschöpft und schlaflos, wie ich war, doch nach unendlich langer Zeit war ich nur noch wenige Meter vom Ufer entfernt. Ich seufzte auf vor Erleichterung, doch hatte mich zu früh in Sicherheit gewiegt! Mit Hilfe einer kräftigen Welle rammte das Boot einen Felsen im Wasser und kippte zur Seite. Abgelenkt wie ich war, verlor ich das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Die Wogen schlugen über mir zusammen und wenn ich gedachte hatte, es könne nicht kälter werden, wurde ich hier etwas Besserem belehrt. Das eisige Wasser stach wie mit Nadeln auf mich ein. Prustend tauchte ich wieder auf und kämpfte mich die fehlen Meter hinüber zum Land. Erleichtert berührten meine Füße schließlich den Boden. Ich hatte es geschafft!

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