Teil 32

Dieses Mal war Nadja bereits wach, als ich die Augen aufschlug, aber sie sah übernächtigt aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ich hatte mitbekommen, dass sie unruhig geschlafen hatte und es tat mir leid, dass sie so litt. Was mochte ihren Kummer verursacht haben? Vielleicht würde sie heute davon berichten. Ich wünschte ihr ein „Dobroje utro" und versuchte sie mit einem Lächeln aufzumuntern, doch sie blickte nur ernst zurück, mit Augen, die heute unwahrscheinlich dunkel wirkten. Ich versuchte, mich davon nicht beirren zu lassen und gab ihr einen sanften Kuss. Dann nahm ich ihre Hand und strich mit dem Daumen zärtlich über ihre Finger, wollte ihr zeigen, dass ich für sie da war.

In dem Moment knurrte mein Magen vernehmlich, Nadjas Mundwinkel zuckten und es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sie zu lachen anfing, und erleichtert stimmte ich mit ein. Minuten später hatten wir uns wieder gefasst und tranken nacheinander von dem Wasser, um den Magen zu füllen. Nadja wirkte jetzt ein wenig gelöster. Sie sah nach draußen, wo der Morgen zu dämmern begonnen hatte und seufzte tief, dann griff sie nach Papier und Stift und begann zu zeichnen.

Ich malte, wie wir beim Essen Igors Brief lasen. Ohne aufzublicken fügte ich entschlossen brennende Häuser und Tiere hinzu und Figuren mit Hakenkreuz, die sich entfernten. Dann setzte ich drei dicke Fragezeichen dazu und sah Michael schließlich anklagend an. Ohne es in die Hand zu nehmen starrte er stumm auf das Papier und beugte sich unwillkürlich leicht nach hinten, wie um Distanz zwischen sich und der Zeichnung zu schaffen. Ich starrte ihn an ohne mit der Wimper zu zucken, verschränkte die Arme und wartete. Michael schloss eine Sekunde lang die Augen, sah wieder auf das Papier und schluckte schwer, anschließend nahm er den Stift auf, hielt dann jedoch inne. Auf der Unterlippe kauend verharrte er mit dem Stift in der Hand und eine ganze Weile geschah nichts.

Ich sah ihn immer noch unverwandt an, in dem Bestreben, mir nicht die kleinste Reaktion entgehen zu lassen, spürte die Anspannung im ganzen Körper. Dann begann er zu zeichnen. Ich konnte von da, wo ich saß, nicht viel erkennen und versuchte mich in Geduld zu fassen, was mir schwer fiel. Michael zeichnete und zeichnete, ohne zu pausieren oder in meine Richtung zu sehen, sein Blick war konzentriert nach unten gerichtet, sein Kiefer war angespannt, die Schultern hochgezogen. Schließlich legte er den Stift beiseite, warf mir einen vorsichtigen Blick zu, schob das Papier in meine Richtung und sah dann fort von mir in die Ferne. Ich streckte die Hand nach dem Papier aus, zögerte aber, es aufzunehmen, ich war mir nicht sicher, die Antworten erfahren zu wollen. Doch es gab keinen Weg zurück mehr, andernfalls wäre hier und heute Schluss mit allem, was mir lieb war.

Ich ergriff das Papier und schaute es mir an. Michael hatte als erstes eine Schulklasse gezeichnet, die einem Lehrer lauscht. Dann ein Radio und ein Theater oder Kino. Alle drei Skizzen waren mit einer Sprechblase verbunden, in der man einen großen schlanken Mann mit Hakenkreuz sah, der verächtlich auf einen sehr kleinen und hässlichen slawisch aussehenden Mann herab blickte. Ich holte tief Luft. Als nächstes sah ich einen General vor einer Gruppe Soldaten stehen, in dessen Sprechblase brennende Häuser zu sehen waren.

Schließlich fiel mein Blick auf folgende Szene: ein Soldat steht am Rand, den Rücken halb anderen Soldaten zugewandt, die mit unsympathischen Blicken mit den Fingern auf ihn deuten und in den anderen Händen ein brennendes Streichholz halten. Ich runzelte die Stirn und wusste im Moment nicht, wie ich reagieren sollte. Ich hatte verstanden, was er mir sagen wollte: dass man überall zu hören bekam, selbst in der Schule, dass Russen weniger wert seien, dass es Befehle gibt, die Soldaten befolgen müssen und die Furcht vor der Reaktion der Kameraden, wenn man sich dagegen stellte. Ich sah hoch, aber Michael wich meinem Blick aus und starrte schweigend in Richtung Fensterluke.

Waren das alles nicht nur billige Ausreden? Wobei gerade das letzte Bild entwaffnend ehrlich war. Hätte ich in einer Gruppe den Mut, mich gegen die anderen zu stellen? Ich wusste es nicht und wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Trotzig sagte ich mir, dass ich mich ohnehin nie in einer solchen Situation befinden würde. Ich musste mich mit diesen Gedanken nicht auseinander setzen.

Nichtdestotrotz machte es mir diese Überlegung leichter, die Gründe, die Michael übermittelt hatte, zu akzeptieren. Vielleicht brauchte ich aber auch einfach nur eine Rechtfertigung vor mir selbst, weiter mit ihm zusammen zu sein. Ich hob erneut den Kopf und sah nun, dass Michael mich beobachtete, Nervosität und Scham lagen in seinem Blick. Zögernd streckte ich meine Hand in seine Richtung. Ebenso vorsichtig ergriff er sie. Und dann lagen wir uns lange schweigend in den Armen.

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Kurz, nachdem Nadja fortgegangen war, drang noch einmal helles Licht in die Scheune, als sie erneut herein schlüpfte, um mir ein paar kalte Kartoffeln und einen Becher Milch zu bringen, bevor sie ein paar Sekunden später endgültig verschwand. Ich dachte über den heutigen Morgen nach und war äußerst erleichtert, dass ich offenbar passende Antworten gefunden hatte, ich hatte das Gefühl, das davon viel abhängig gewesen war.

Unruhig grub ich die Zehen ins Heu. Von diesen Vorgängen zu hören war schrecklich und ich schämte mich Nadja gegenüber für das, was deutsche Soldaten ihrem Land antaten. Ich begann zu begreifen, warum Liebesbeziehungen zu russischen Frauen in der Wehrmacht nicht gern gesehen waren, sie verringerten die Motivation, weiter zu kämpfen und führten zu mehr Sensibilisierung gegenüber der einheimischen Bevölkerung. Gedankenverloren schaute ich in die Ferne. Nadja und ich sollten uns irgendwo weit weg von allem ein neues Leben aufbauen, eines Tages, wenn der Krieg zu Ende war und man die ganze Vergangenheit hinter sich lassen konnte.

Nadjas Nachrichten bedrückten mich jedoch auch aus einem anderen Grund, denn wenn jetzt alles nieder gebrannt wurde, rechnete der Führer offenbar nicht mehr damit, diese Gebiete zurück erobern zu können. Der Rückzug war offenbar unaufhaltsam und damit war die Eroberung neuen Lebensraums gescheitert. Das fand ich nach den fatalen Gefechten im Juni zwar nicht überraschend, aber mir wurde nunmehr klar, dass, wenn es so weiter ging, die Front bald an das Deutsche Reich heranrücken würde. Ob Hitler kapitulieren würde? Und wenn nicht? Die Amis von Westen und die Iwans von Osten.... Zum Glück lebte meine Familie weit entfernt vom jedem Kriegsgeschehen in Norddeutschland.

Ich verfolgte mit den Augen, wie eine Schwalbe herein flog und sich an ihrem Nest oben an der Decke zu schaffen machte. Wie mochte es zu Hause aussehen? In ihrem letzten Brief hatte Mutter von unregelmäßigem Luftalarm berichtet gehabt – zum Glück flogen sie meist weiter Richtung Hamburg – und von den Flüchtlingen, die bei uns im Haus untergebracht waren, eine Frau und zwei kleine Kinder. Geschwind flog die Schwalbe nun wieder nach draußen. Ich beneidete sie um die Möglichkeit, nach Belieben kommen und gehen zu können und mit Abstand alles von oben betrachten zu können, ohne sich Gedanken über richtig oder falsch machen zu müssen.

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