Teil 3

Tag 2

Ich erwachte vom Wiehern eines Pferdes und schlug die Augen auf. Über mir gewahrte ich einige Blätter, die sich sachte bewegten, dahinter blauer Himmel. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah in einiger Entfernung ein Pferd grasen. Dahinter glitzerte es blau. Ein See? Ich versuchte mich zu erinnern, wo ich war, wie ich hier her gekommen war, aber ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es war hell, aber keine Sonne war zu sehen. Wie spät war es? Und welchen Tag hatten wir?

Dunkel erinnerte ich mich an wirre Träume, Schmerzen und an schreckliche Hitze und war froh, dass ich mich nun besser fühlte. Das Schnauben des Pferdes unterbrach meine Gedanken. Neben dem Pferd war jemand aufgetaucht... Ich kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können. Ein Soldat? Nein, es schien jemand Kleineres zu sein... ein Kind vielleicht? Die Person streichelte das Pferd und blickte in meine Richtung. Es war ein junges Mädchen, zu unwahrscheinlich, um wahr zu sein. Ich schloss meine Augen und vermutete eine Sinnestäuschung. Ein paar Momente lag ich reglos mit geschlossenen Augen da. Als ich sie wieder öffnete, waren weder Pferd noch Mädchen zu sehen. Offensichtlich hatte ich mir beides wirklich nur eingebildet. Gedankenverloren blickte ich in den Himmel und beobachtete die zarten Bewegungen der Blätter, deren Zweig sich in meine Richtung streckte. Bis mich schließlich wieder der Schlaf überwältigte.

Als ich aufwachte, schien die Sonne kräftig vom Himmel. Es war schwül-warm und mein Körper war schweißnass. Gleichzeitig war ich wahnsinnig durstig. Ich leckte mir die trockenen, aufgesprungenen Lippen und spürte meine ausgedörrte Kehle. Ich versuchte mich aufzurichten und sank schmerzerfüllt zurück – mein linker Arm protestierte vehement gegen die Belastung. Kein Wunder, war mir doch beim letzten Gefecht ein Granatsplitter so tief in den Unterarm gedrungen, dass ich ihn nicht hatte herausziehen können. Auf der kopflosen Flucht vor den vorstoßenden Russen hatte ich die Wunde notdürftig mit Stofffetzen umwickelt und dann hatte sie sich entzündet. Mir fiel wieder ein, wie ich mich, mehr und mehr durch Fieber geschwächt, durch das Unterholz geschleppt hatte und dann erleichtert einen See entdeckt hatte, bei dem ich meinen Durst stillen konnte. Und schließlich erschöpft zu Boden gesunken war. „Nur eine kurze Pause", hatte ich noch gedacht. Doch anscheinend war ein längerer Aufenthalt daraus geworden.

Wie lange mochte ich hier schon liegen? Ich blickte auf meinen Arm und war erstaunt, statt meiner provisorischen Versorgung einen professionell angelegen Verband zu entdecken. Teile meiner Uniform – Feldbluse und Koppel - waren verschwunden, die Füße barfuß. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Was ging hier vor? Waren die Kameraden hier gewesen? Unmöglich, dann wäre ich jetzt nicht hier im Wald, sondern läge in einem Feldlazarett. Doch wer sonst? Ich drehte meinen Kopf nach beiden Seiten, konnte aber niemanden entdecken. Mir würde somit nichts anderes übrig bleiben als abzuwarten, ob derjenige zurückkäme. „Und wenn nicht?", schlich sich ein destruktiver Gedanke in mein Hirn. Sofort spürte ich noch stärker meinen Durst und sah mich in Gedanken bereits verdurstet hier am Waldrand liegen. Ich brauchte dringend Wasser und versuchte daher, mich auf die rechte Seite zu drehen, schaffte es jedoch nicht. Ich zog die Beine an und legte sie nach rechts, registrierte erleichtert, dass wenigstens dieses funktionierte. Mit etwas Schwung kam ich dann auf der rechten Seite zu liegen und versuchte, mich mit der rechten Hand aufzustützen. Aber vergeblich, mir fehlte die Kraft dazu. Ich rollte zurück auf den Rücken und schloss erschöpft die Augen. Irgendwann schlief ich dann ein.

Als ich wieder erwachte, spürte ich Wasser durch meine Kehle rinnen. Ich gab mich ganz diesem köstlichen Gefühl hin. Für den Moment gab es nichts Schöneres auf der Welt als diese klare, kalte Flüssigkeit und ich trank und trank. Dann spürte ich ein feuchtes Tuch, erst über mein Gesicht, dann über den Rest meines Körpers streichen. Wie erfrischend sich das in der Hitze anfühlte. Ich lag ganz still, um nicht durch die kleinste Bewegung diese unbeschreiblich angenehmen Augenblicke zu zerstören.

Doch leider gingen sie viel zu schnell wieder vorbei. Mit noch geschlossenen Augen lauschte ich auf alle Geräusche und hoffte auf eine Fortsetzung dieser erfrischenden Berührungen, wenn ich nur still liegen blieb. Ich hörte ein Tier Gras rupfen, einige Vögel singen, einen Specht klopfen. Doch sonst tat sich nichts mehr. Daher öffnete ich langsam die Augen und bemerkte das junge Mädchen, welches ich schon im Fieber gesehen hatte. Es hatte mir den Rücken zugedreht und schritt zum See hinüber.

Also war es kein Traum gewesen. Doch was sollte das bedeuten? War ich auf der Flucht weiter gekommen als ich gedacht hatte? War ich bereits auf deutschem Gebiet? Doch das war unmöglich. Sie musste daher Russin sein, was die ganze Angelegenheit noch rätselhafter machte. Sie hatte mir etwas zu Trinken gebracht. War sie es auch, die meinen Arm behandelt hatte? Das war schwer zu glauben...

Das Mädchen war inzwischen am See angekommen, und ich sah es einen Behälter mit Wasser füllen. Ein rötlicher Schein lag auf dem Wasser und die Bäume am Ufer warfen lange Schatten. Es war wohl bereits Abend. Welcher Tag mochte heute sein? Es war der 22. Juni gewesen, als die Rote Armee ihren unerwarteten Angriff gestartet hatte, der uns selbst hier im hinteren Heeresgebiet keine Chance zur Gegenwehr gelassen hatte. Ich hatte meine Kameraden aus den Augen verloren und nur noch den einen Gedanken gehabt: „Bloß weg hier".

Ich war gerannt, bis ich nicht mehr konnte. Dann hatte das Nachdenken eingesetzt und zum ersten Mal hatte ich mich konkret mit dem frevlerischen Gedanken befasst, wie es wäre, dem Krieg den Rücken zu kehren. Ich hatte mehr als genug von den schrecklichen Erlebnissen an der Front und wünschte mir nichts sehnlicher als Ruhe und Frieden. Nach der russischen Angriffswelle der vergangenen Tage zweifelte ich nicht mehr daran, dass der Krieg nicht zu gewinnen war. Auch die Amerikaner waren vor kurzem in der Normandie gelandet.

Eine Bewegung holte mich zurück in die Gegenwart. Das Mädchen kam wieder zurück. Es schien älter zu sein, als ich anfangs gedacht hatte, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt. Es trug einen langen, weiten Rock, ein Tuch über dem Haar und war barfuß. Was sollte ich ihr sagen? Vielleicht würde sie erschrecken, wenn ich sie ansprach, fortreiten und nicht mehr wiederkehren? Frustriert wurde mir klar, dass ich auf ihre Hilfe angewiesen war, solange ich nicht allein in die Nähe des Wassers kam. Ich hasste das. Ich hatte es schon immer gehasst, von anderen abhängig zu sein. Deshalb hatte ich immer versucht, alles selbst zu schaffen: als Knirps auf einen Schuppen zu klettern, ein Fahrrad zu reparieren, Brennholz zu schlagen.

Ich war kein besonders geselliger Typ, traf mich zwar zwischendurch gern mit einigen Freunden, aber musste nicht permanent Teil einer Gruppe sein. An den Diensten der Hitlerjugend hatte ich mit zunehmendem Alter mit immer mäßigerer Begeisterung teilgenommen. Die aufgezwungenen Gruppenaktivitäten wie Geländespiele, Fahnenapelle, Heimatabende und das ständige Umringtsein durch andere hatten mir mehr und mehr missfallen. Kaum einmal hatte man Zeit für sich gehabt, um seinen Gedanken nachzuhängen geschweige denn, um zu malen. Ich liebte das Malen, am liebsten nahm ich Pinsel und Farbe, um ein Stück der Natur wiederzugeben, mangels Zeit und Ausstattung war mir aber oft nur das Skizzieren mit einem Kohlestift geblieben. Der Dienst in der HJ war irgendwann Pflicht geworden und so war ein Fernbleiben nicht in Frage gekommen. Daher hatte ich die sich häufenden dienstlichen Veranstaltungen und Aufgaben ertragen, wie man die Schule erträgt, mit stoischer Gelassenheit und der Gewissheit, dass beides irgendwann vorbei sein würde, wenn dann als Erwachsener ein neuer Lebensabschnitt begann.

Das Mädchen war inzwischen bei dem Pferd angelangt. Ohne noch lange nachzudenken schloss ich nun einfach wieder meine Augen und konzentrierte mich stattdessen auf die Geräusche, die zu hören waren. Das Knacken von Zweigen zeigte mir, dass es langsam näher kam. Dann war Stille, bis auf ein Rascheln von Blättern über mir. Schließlich entfernten sich die Schritte wieder. Bald darauf hörte ich den schnellen Hufschlag des Pferdes. Ich öffnete die Augen und sah Mädchen und Pferd in der Ferne im Wald verschwinden. Ob es wohl wiederkommen würde?

Es war inzwischen nicht mehr so heiß wie zuvor, aber immer noch recht warm. Ich beobachtete, wie sich langsam die Dämmerung herabsenkte und hoffte, dass die Nacht ein wenig Kühle bringen würde. Ich wollte nicht an die Zukunft denken und auch nicht an die letzten Tage, Wochen, Monate. Es fiel mir gerade überhaupt schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Stattdessen versuchte ich mich auf meine Kindheit zu konzentrieren. Mir fielen die Zeltausflüge mit meinem Vater ein, sobald er im Sommer ein wenig Zeit erübrigen konnte, ging er mit mir als kleinem Bub zum Zelten irgendwo in einen Wald oder auf ein Feld. Am schönsten war es, wenn wir über Nacht bleiben konnten und in der Dämmerung auf Dachssuche gingen oder Glühwürmchen einfingen. Schon früh hatte er mir das Schnitzen beigebracht und ich schnitzte die lustigsten Wesen und ließ ihn raten, was sie darstellten. Während ich mit dem Holz experimentierte, lag er im Gras, einen Grashalm zwischen den Zähnen, oder hielt eine Angel ins Wasser. Allerdings hatte nie auch nur ein Fisch angebissen. Aber das hatte weder ihn noch mich gestört. Ich spürte mich bei der Erinnerung daran lächeln und war schließlich kurz darauf eingeschlafen.

Es war Abend geworden und ich schob meinen rechten Arm unter meinen Kopf, um mehr von der Umgebung sehen zu können. Ich lag am Rande einer Lichtung, in dessen Mitte sich der See befand, ringsherum befand sich dichter Wald. Über mir reckten sich die Arme der Laubbäume in die Luft und zwischen ihnen schimmerte der dunkle Himmel hervor, außerdem roch es nach Tannen, die vereinzelt Fuß gefasst hatten. Der Himmel über dem See war dunkelblau, wie die Farbe von Schultinte, und dicke, weiße Wolken hoben sich kräftig davon ab. Sie hingen unbeweglich am Himmel und ich fragte mich unwillkürlich, ob es wohl noch regnen würde, denn die Bäume hier am Waldrand würden mir wohl nur wenig Schutz bieten. Am entfernten Rand des Sees wies der Himmel noch eine hellere Tönung auf, dort musste demnach Westen sein. Deutschland. Die Heimat, der wir uns auf dem ungeplanten Rückzug immer mehr genähert hatten. Ich empfand Sehnsucht nach der heilen Welt eines Zuhauses, das es schon lange nicht mehr gab. Noch einmal Kind sein, dachte ich, in den Tag hinein leben zu können, ohne Verantwortung zu tragen, ohne Entscheidungen treffen zu müssen. Und ohne diesen Krieg, dessen ständige Fortsetzung unaufhaltsam sinnlose Opfer forderte, in dem Befehle umzusetzen waren, die trotz der Aussichtslosigkeit des Unterfangens nicht in Frage gestellt werden durften.

Der Gefechtslärm klang in meinen Ohren nach, obwohl in Wirklichkeit gar nichts zu hören war. Ich sah Friedrich vor mir, den kleinen ängstlichen Kerl, frisch von der Schulbank weg, der immer meine Nähe gesucht hatte. Wie ein kleiner Bruder war er gewesen. Und Walter, ruhig und belesen, ein Familienvater aus Sachsen, der seit Beginn an meiner Seite kämpfte. Gerade hatte er seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert. Wie hatte ich ihm immer mit seinem Dialekt aufgezogen... Kurz hintereinander waren sie gefallen, bei dem unsinnigen Befehl, die Telegrafenstation zu halten.

Die Blätter über mir zitterten. Ein leichtes Rauschen war in der Luft, der frisch aufgekommener Wind fuhr in zwei Armlängen Schilf, die einsam am Ufer standen, und brachte sie zum Rascheln. Die Kühle, die ihn begleitete, ließ mich bald frösteln und ich dachte mit Bedauern an meine Feldbluse, die sich gerade wer weiß wo befand. Ich schlang den heilen Arm über meine Brust, um mich vor dem Wind zu schützen, doch genauso gut hätte man einen durchlöcherten Regenschirm im Regen aufspannen können. Inzwischen war der Himmel dunkel geworden und es mochte wohl nach Mitternacht sein. Unerwartet flatterte etwas direkt an mir vorbei und ließ mich überrascht zusammenzucken. Aus der Ferne war gedämpft das Heulen einer Eule zu vernehmen. Ich dachte an unzählige Nachtwachen und das Bemühen, dabei nicht einzuschlafen. Nie war man so eins mit der Natur gewesen wie in diesen Momenten. So wie auch jetzt. Ich starrte in den Nachthimmel und wartete darauf, dass die ersten Sterne erschienen.

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