Teil 19

Tag 8

Ich tagträumte von ihr. In all den langen Stunden des Tages ließ ich den gestrigen Abend Revue passieren und malte mir den weiteren Verlauf aus, wenn sie nicht fortgegangen wäre. Ich sah ihr zärtliches Lächeln vor mir, spürte ihre weiche Haut unter meinen Fingern und ihre Lippen auf meinem Mund, und wünschte, sie wäre jetzt hier bei mir. Ich schaute zur Luke hinüber in der Hoffnung, sie vorbeigehen zu sehen, aber gewahrte lediglich in der Ferne den reglosen Waldrand. Dann stellte ich mir vor, wir wären zu Hause in Eschenbach und würden Hand in Hand den Fluss entlang bummeln, miteinander herumalbern, ein Eis schlecken, ins Filmtheater gehen, all das tun, was Verliebte so machten. Auf der Wiese hinter der Kirche, die von ihrem Hügel auf den Ort zu blicken schien, würden wir eine Picknickdecke ausbreiten, den Sonnenschein genießen und ich würde mit ihren langen Haaren spielen. Wir hätten alle Zeit der Welt...

Ich wollte alles von ihr wissen, ihr Leben, ihre Gedanken, ihre Träume, und in meinen Vorstellungen sprachen wir die gleiche Sprache...Getrübt wurde mein Traum durch die Tatsache, dass Nadja heute Morgen nicht aufgetaucht war. Ich war hin und hergerissen zwischen der Befürchtung, jemand hätte uns beobachtet und Nadja sei inzwischen schon verhaftet oder zu Haus eingesperrt worden, und dem schmerzhaften Verdacht, sie hätte mir alles nur vorgespielt. War das vielleicht alles Teil eines von Partisanen ausgeheckten Plans? Wiege den deutschen Soldaten in Sicherheit, spiele ihm etwas vor und dann... dann was? Würde jeden Moment jemand kommen, um mich abzuholen und in ein Lager zu stecken? Ich hatte eindeutig zu viel Zeit zum Grübeln und das tat meinen Gedankengängen nicht gut. Das Nichtwissen war jedenfalls frustrierend und ich konnte wieder einmal nichts tun außer abzuwarten.

Lustlos beschloss ich, ein paar Kräftigungsübungen auszuführen. Die ganzen Ängste und Ärger in die Bewegung steckend, schaffte ich es, mich auf die Heuballen stützend, den ganzen Raum des Dachbodens zu durchqueren. Als ich mich setzte, um zu pausieren, entdeckte ich den Krug, den ich vor einigen Tagen in einem Anfall von Rage fortgeschmissen hatte. Sinnierend betrachtete ich ihn und war froh, dass ich nun jedenfalls genug Wasser bei mir hatte. Allerdings nagte weiter das Hungergefühl in mir. „Kein Wunder, dass es dir so schwer fällt, deine Beine zu gebrauchen", schimpfte ich in die Stille hinein. Wie sollte man auch zu Kräften kommen, wenn man kaum etwas zu essen hatte?

Seufzend erhob ich mich, um den Weg wieder zurück zu gehen. „Was mir fehlt, ist ein Stift", dachte ich und sah mich nach einem Ersatzhandwerkszeug um. Mein Blick fiel auf einen kräftigen Holzsplitter, und ich häufte etwas Sand vom Boden zusammen, um ihn dann gleichmäßig zu verteilen. Die Zeit verging, indem ich auf dieser provisorischen Maltafel immer wieder neu Bild um Bild malte...

Die Tür öffnete sich und ich hörte Nadjas Stimme, nur ihre zum Glück. Erleichterung und Freude durchfluteten mich, aber ich hielt mich zurück und lächelte nur verhalten, als sie flink hoch zum Heuboden kletterte. Nadja guckte zerknirscht und begrüßte mich mit einem Schwall russischer Worte. Ich ließ die fremden Worte an mir vorbei rauschen und betrachtete ihr erregtes Gesicht, Haarsträhnen klebten an ihrer Stirn, ihre Augen wirkten größer als gewöhnlich und hatten irgendwie das goldene Pünktchen verloren. Ihre Wangen waren gerötet und zwischendurch biss sie auf ihre Unterlippe. Ich wollte sie einfach nur in den Arm nehmen, doch vielleicht würde sie das gar nicht wollen? Ich war unschlüssig, was ich tun sollte: Vorsichtig Ihre Hand nehmen? Sie wild an mich ziehen? Einfach abwarten? Endlich hörte sie auf zu reden und impulsiv beugte ich mich nach vorn, umfasste ihr Kinn und gab ihr einen langen Kuss, den sie ohne zu Zögern erwiderte.

Schließlich lächelte Nadja, was ihrem Gesicht einen weichen Ausdruck verlieh, alle Anspannung schien von ihr abzufallen. Aus ihrem Tuch holte sie ein belegtes Brot, bei deren Anblick mir das Wasser im Mund zusammenlief: geräucherte Wurstscheiben. Zu lange war es her, dass ich so etwas gegessen hatte. Nadja freute sich über meine Begeisterung und setzte sich dann mir gegenüber auf den Boden. Ich nahm einen Bissen vom Brot, kaute langsam und mit Genuss, es schmeckte vorzüglich. An einen Heuballen gelehnt, verspeiste ich in Ruhe Stück um Stück und betrachtete dabei Nadjas schönes Gesicht.

Die hohen Wangenknochen ließen ihre Gesichtszüge schmal aussehen, aber wenn sie lächelte, wurden ihre Wangen voller und ihre Haut schimmerte seidig. Sie hatte volle, rote Lippen, obwohl ich mir fast sicher war, dass sie keinen Lippenstift benutzte, eine lange, schmale, aristokratisch aussehende Nase und große Augen, die von dichten Wimpern umkränzt waren. Ihre dunklen Augenbrauen waren etwas zerzaust und betonten dadurch die Vollkommenheit des übrigen Gesichts. Ihr dunkelbraunes Haar sah ich immer nur straff zu einem Zopf geflochten, aber einige Strähne verirrten sich regelmäßig in ihr Gesicht. Wie mochte es wohl sein, ihr durch die offenen Haare zu fahren?

Nadja hatte inzwischen leise zu singen begonnen, während sie mir ihr Gesicht zuwandte und mich ebenso unverwandt anblickte wie ich sie. Ich empfand ein Gefühl tiefen Friedens, wie wir so entspannt da saßen, und wünschte, der Moment würde nie vergehen. Als ich das Brot verzehrt hatte, berührte Nadja mit ihren bloßen Füßen meine nackten Fußsohlen und tippte sie dann neckisch mit den Zehen an. Ich tat es ihr gleich, und wir fingen ausgelassen an zu lachen. So ging das eine ganze Weile, bis Nadja mit ihren Fingern eine Erdbeere hervorholte, sich zu mir beugte und sie mir in den Mund steckte. Ich genoss ihr süßes Aroma und ließ mich nicht lange bitten, eine zweite Erdbeere zu verspeisen. Die dritte Erdbeere nutzte ich, um ihr einen weiteren Kuss zu stehlen, legte ihr die Hand auf den Rücken und zog sie eng zu mir heran.

Ein bisschen außer Atem lösten wir uns schließlich voneinander. Das war dann eigentlich der Moment der romantischen Sätze wie „Gleich als ich dich das erste Mal sah, hatte ich mich in dich verliebt", oder „ich hatte schon immer auf die Gelegenheit gewartet, dich anzusprechen" oder „Ich könnte in deinen tiefen Augen versinken", aber zum einen traf mehr als die Hälfte davon nicht zu und zum anderen verstand mich Nadja ohnehin nicht. Ich wollte sie so vieles fragen, wollte ihr gern so vieles erzählen, allein – das Unvermögen, uns über die gleiche Sprache mitzuteilen, stand uns im Wege.

Dafür ließ Nadja ihre Hände sprechen, die sie nun erneut sanft über meine Brust gleiten ließ. Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl! Nur leicht bekleidet war ich Nadja gegenüber gewissermaßen im Nachteil. Aber das ließ sich ja ändern... Ich ließ meine Hand langsam ihren Hals hinunter über die Schultern zu ihrem Rücken wandern, wo ich die Knöpfe fand, die ich gesucht hatte. Das Öffnen derselben war allerdings einhändig etwas schwierig. Nach mehreren vergeblichen Versuchen öffnete Nadja die Knöpfe ihres Kleides schließlich selbst und ich zog ihr den Stoff über die Schultern. Ein höchst erfreulicher Anblick offenbarte sich mir und ich tat, was ein Mann in dieser Situation tun musste... Eine Ewigkeit später lagen wir aneinander gekuschelt im Heu und sanken in einen friedlichen Schlaf.

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