Teil 18
Tag 7, abends
Als das Tageswerk vollbracht und das Abendessen vorbei war, bei dem meine Mutter nicht umhin kam, bedeutungsvoll zu erwähnen, dass Pjotr mittlerweile zu Hause eingetroffen war - es war mir ein Rätsel, woher sie so etwas immer so schnell erfuhr, immerhin lagen die Höfe weit auseinander –, schlich ich mich zum Heuschober hinüber. Meine Familie kannte meine Abwesenheitszeiten schon, meist war ich bei Marianka. Inzwischen kam sie eindeutig zu kurz, aber zum Glück lag es ihr fern, sich zu beklagen. Ich hatte erneut Herzklopfen, als ich die Tür öffnete und dann die Leiter hochkletterte, doch wieder glitt ein Lächeln über Michaels Gesicht, und diesmal begrüßte ich ihn freundlich mit „Hallo" und reichte ihm erneut ein belegtes Brot, das er erfreut entgegen nahm.
Genießerisch schnupperte er daran, bevor er mit sichtlichem Genuss hineinbiss. Ich setzte mich ihm gegenüber ins Heu und fing an, vom Tagesgeschehen zu erzählen, um die groteske Situation zweier sich schweigend ansehender Menschen zu vermeiden. Um mir etwas zu tun zu geben, flocht ich dabei meinen Zopf neu. Michaels Augen ruhten beim Essen neugierig auf mir, als nehme er jedes Wort auf, dass ich sagte. Es war schon äußerst blöd, dass wir außer gelegentlichen Gesten zu keiner Unterhaltung imstande waren. Eigentlich hätte ich auch zurück ins Haus gehen können, doch ich konnte mich nicht losreißen. Er übte eine seltsame Anziehungskraft auf mich aus und nervös fuhr ich fort, belanglose Dinge von mir zu geben, die er sowieso nicht verstand.
Ich sah auf meine zerschlissene, abgetragene Kleidung hinunter, die alles andere als kleidsam war und vor Verlegenheit schoss mir die Röte ins Gesicht, warum hatte ich bloß die Arbeitskleidung anbehalten. Als ich schließlich meinen Mut zusammennahm und den Blick hob, schaute er mich weiter unverwandt an und zauberte dann wieder ein Lächeln auf sein Gesicht. Ich sah die Zuneigung, die dahinter steckte und lächelte glücklich zurück. Ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus. Keiner von uns rührte sich, wir waren beide zu vorsichtig, um die Initiative zu ergreifen und einen Schritt weiter zu gehen.
Nach einigen Minuten, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, riss ich mich von Michaels Anblick los und deutete auf ihn und dann auf die Leiter, denn ich hatte mir noch ein weiteres Vorhaben überlegt. Er reagierte darauf, in dem er mich mit gesenktem Blick und hochgezogenen Augenbrauen ansah, was so komisch aussah, dass ich laut lachen musste. Einen Bruchteil später nahm ich jedoch gerade noch wahr, wie ein Schatten über sein Gesicht zog, der mir deutlich machte, dass ihm der Gedanke, die Leiter herunter zu klettern, zu schaffen machte. Ich war schon kurz davor, ihm erneut eine Absicherung mit dem Seil anzubieten, aber inzwischen saß er bereits an der Kante des Heubodens und schaute prüfend hinunter. Ich hielt ihm meine Hand hin, aber er ignorierte das Angebot und drehte sich um 180 Grad auf den Bauch, so dass er mit den Füßen nach den Sprossen tasten konnte. Als er dann den Kopf hob, reichte ich ihm erneut meine Hand und diesmal ergriff er sie und begann vorsichtig abwärts zu klettern. Dann ließ er meine Hand los und fasste zügig die oberste Sprosse der Leiter. Das schwierigste Stück war geschafft.
Bedächtig kletterte Michael weiter nach unten und dort angekommen, setzte er sich auf den Boden, lehnte Rücken und Kopf an einen Heuballen und atmete hörbar aus. Ich kletterte ihm mit dem leeren Eimer hinterher und ging zum Wasserstein hinüber, wo ich ein paar Mal kräftig die Pumpe betätigte. Michaels Augen folgten mir mit einem betont gelassenen Gesichtsausdruck, aber sein Körper war angespannt wie ein Flitzebogen und strafte der gespielten Lässigkeit Lügen, da er sich bestimmt fragte, was ich vorhatte. Ich füllte den Eimer ein wenig, so dass ich ihn nachher wieder hochtragen konnte, und kehrte zu Michael zurück. Dann wies ich mit der Hand auf ihn und dann auf die Wasserschüssel, die sich mehrere Meter entfernt befand. Michael schluckte, hatte sich sonst jedoch meisterhaft in der Gewalt und verzog keine Miene. Es würde ihm wahrscheinlich nicht gefallen, dass er für den Weg Hilfe benötigen würde. Ich reichte ihm meinen Arm, doch erneut ignorierte er das Angebot.
Stattdessen stützte er sich auf die Heuballen und ging schwerfällig an ihnen entlang, bis die Reihe endete. Dort blieb er stehen und lehnte sich an den letzten Ballen. Obwohl die letzten Meter ohne eine Möglichkeit, sich abstützten zu können, überquert werden mussten, war ich mir sicher, dass er sich nicht zu mir umschauen würde und um Hilfe bitten würde. Eigensinnig würde er es allein versuchen, um dann schließlich zu Boden zu stürzen. Ich überlegte, ob ich schon zu ihm gehen und ihn stützten sollte, unterließ es jedoch, denn ich glaubte, das er mir übel genommen hätte.
„So ein Idiot", fuhr es mir durch den Kopf und ich wartete dann neugierig darauf, wie sich die Situation weiter entwickelte. Michael richtete sich entschlossen auf und schritt mit wackeligen Beinen voran, an seiner angespannten Haltung erkannte ich, wie viel Mühe ihm seine Schritte machten. Dann war er am Wasserstein angelangt. Es war unglaublich, er hatte es tatsächlich geschafft! Das hätte ich nicht erwartet. Er setzte sich auf den Rand und warf mir über die Schulter einen triumphierenden Blick zu.
„Männer!", dachte ich, „immer wollen sie einen beeindrucken".
Er hatte mich in der Tat beeindruckt – und wie! Aber das musste er ja nicht wissen. Daher warf ich ihm nur einen betont gelassenen Blick zu, setzte mich ins Heu und war im wahrsten Sinne des Wortes froh, einmal meine Hände in den Schoß legen zu können. Entspannt schloss ich die Augen, um sie nur ein paar Minuten später neugierig wieder zu öffnen. Michael war dabei, sich zu waschen und ich genoss den Anblick, den mir seine entblößte Rückseite dabei bot. Als hätte er es gespürt, wandte er mir kurz den Kopf zu und mir schoss das Blut in die Wangen und ertappt drehte ich mein Gesicht zur Seite.
Kurze Zeit später öffnete ich meinen Zopf und fuhr mit den Fingern durch meine Haare, dabei hin und wieder in besagte Richtung linsend. Schließlich machte sich Michael auf den Rückweg zu mir, was ihm ebenfalls ohne Hilfe gelang. Erschöpft ließ er sich anschließend an der Leiter zu Boden sinken, seine Augen jedoch glänzten voller Stolz. Ich bemerkte, dass sie von grün-grauer Farbe waren, wie ein schattiger Teich im Wald...
Als von draußen auf einmal Stimmen zu hören waren, zuckten wir beide zusammen. Ich sah mich um, aber hier unten gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken, daher blieben wir stocksteif sitzen, ohne uns zu rühren, und die Gedanken rasten durch meinen Kopf. Was machten meine beiden Cousinen abends hier draußen, das war gar nicht ihre Art. Vor meinen inneren Augen entstand das Szenario, dass sie gleich die Tür öffnen und uns entdecken würden. Was sollte ich ihnen sagen? Könnte ich sie irgendwie dazu überreden, Stillschweigen zu bewahren?
Ich hörte sie draußen tuscheln, bis sich schließlich nach quälenden Momenten des Wartens ihre Stimmen wieder entfernten. Erleichtert atmete ich aus. Michael wies mit dem Kopf auf den Heuboden. Er hatte Recht, wer wusste, ob die beiden nicht erneut vorbeikommen und dann hereinkommen würden. Ich kletterte voraus. Mit verbissenem Gesicht kämpfte sich Michael Sprosse um Sprosse nach oben und ergriff am Ende meine dargebotene Hand. Da passierte es. Gerade wollte er den letzten Schritt auf den Heuboden machen, als er stolperte, laut „Autsch!", rief, und auf die rechte Seite fiel. Der Schwung seines Falles riss auch mich um, so dass ich Mühe hatte, mich mit der freien Hand abzustützen, und wir prallten gegeneinander. Die vorherige Anspannung löste sich und wir fingen beide an zu lachen.
Michael blieb gleich im Heu liegen und wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn, während ich meinen Blick über seinen Körper wandern ließ. Er bot auch von vorn einen durchaus ansprechenden Anblick, mit seinen langen Beine, dem flachen Bauch und dem schmalen Oberkörper. Die blonden Härchen auf seiner Brust waren teilweise noch feucht vom Waschen. Wie es wohl wäre, sie zu berühren? Aber ich konnte doch nicht... Ich spürte ein seltsames Verlangen, das ich nicht von mir kannte. Wie von selbst legte sich meine Hand langsam auf seine Brust und strich dann sanft darüber. Das Herz klopfte mir bis zum Halse, Michael sagte nichts, aber verzog den Mund zu einem scheuen Lächeln, und ich fuhr daher fort, über seine Brust zu streicheln, glättete die krausen, noch nassen Härchen.
Durfte ich so forsch sein? Was würde er von mir denken? Es war mir in diesem Moment völlig egal, wer er war, es zählte nur, dass ich mich ungeheuer zu ihm hingezogen fühlte. Plötzlich spürte ich Michaels Hand auf meiner Wange. Mit den Fingerspitzen strich er langsam meine Haarsträhnen hinter das Ohr und ich hielt ganz still, während mich ein wohliger Schauer durchfuhr. Als er schließlich seine Hand fort nahm, war es, als zöge ein kalter Hauch vorbei. Ich drehte mich zu ihm hin und lächelte ihn scheu an, in der Hoffnung, er würde meine Gedanken lesen und mir erneut eine Berührung schenken.
Für einen Moment blieb er reglos liegen, nur seine Augen wanderten hinunter zu meiner Hand, die noch immer auf seiner Brust lag, und dann wieder zurück zu meinem Gesicht. Schließlich setzte er sich auf, legte seine Hand unter mein Kinn, zog meinen Kopf sanft zu sich und küsste mich dann vorsichtig auf den Mund. Die Zeit schien einen Moment still zu stehen, bis wir uns voneinander lösten und uns glücklich anlächelten.
Kurz durchfuhr mich ein irrationaler Gedanke – „Nadja, du hast gerade einen feindlichen Soldaten geküsst" – verschwand aber sogleich in dem warmen Glücksgefühl, das mich durchströmte. Ich gab es jetzt gern vor mir zu: Ich war wahrhaftig verliebt. Michael fuhr mit seinen Fingerspitzen zart meine Gesichtszüge nach und dann küssten wir uns erneut, so liebevoll und sanft, dass ich mich fühlte wie im siebten Himmel. Zum Luftholen ließen wir schließlich voneinander ab und ich spürte eine Woge von Verlegenheit in mir aufsteigen, während Michael mich hingegen unverwandt ansah, ein glückliches Lächeln im Gesicht, und meine Hände in seine legte.
Der intensive Duft warmen Heus zog in meine Nase und die auf dem Boden liegenden Strohhalme kitzelten meine Beine. Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun oder sagen sollte und deshalb blieben wir einen Moment in entspanntem Schweigen sitzen, doch schließlich entzog ich ihm bedächtig meine Hände und stand langsam auf. Der Blick, mit dem er zu mir auf sah, ließ mir die Knie weich werden, aber ich lächelte ihn nur schüchtern an, verabschiedete mich mit einem „Bis morgen, Michael", und stieg dann die Leiter hinab, zurück in eine alte Welt.
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