Teil 16
Tag 6, dritter Teil
Die Stunden vergingen, während ich meinen Kindheitserinnerungen nachhing. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, draußen war es gleichbleibend düster, während der Regen beständig vom Himmel fiel. Meine trockene Kehle schmerzte bei jedem Schluck und meine vorherige Zuversicht verschwand mit jeder Stunde, die ich weiter zu Untätigkeit verdammt herum saß. Wenn ich nicht bald etwas tat, würde ich noch durchdrehen. Also zog ich mich auf die Knie, stütze mich an einem Heuballen ab und stemmte mich hoch. Nach kurzer Zeit fingen meine Beine an zu zittern, aber wild entschlossen ließ ich los und machte einen Schritt nach vorne. Doch meine Beine konnten mein Gewicht nicht tragen, und ich stürzte auf den Boden. Wütend blicke ich auf meine nutzlosen Glieder. Zu allem Überfluss verdoppelten sich nun auch die Schmerzen in meinem verletzten Arm.
„Verdammte Scheiße", fluchte ich mit heiserer Stimme. „Verdammt, verdammt, verdammt!"
Dann angelte ich mir den Krug und setzte ihn an die Lippen, aber nicht der kleinste Tropfen war noch vorhanden. Verärgert schleuderte ich ihn mit Schwung gegen die Heuballen, immerhin leicht befriedigt konstatierend, dass wenigstens mein rechter Arm vernünftig funktionierte. Ich war es so leid – dieses Schwächegefühl, die Schmerzen, den Durst, die Hitze, diese ganze Hilflosigkeit! - und hatte das Gefühl, an meiner Wut zu ersticken. Schließlich kniete ich mich hin und hieb mit der Hand so lange auf den Heuballen, bis ich vor Erschöpfung inne halten musste und auf den Boden sank.
Ich schreckte auf, als ich Nadjas Stimme hörte, und setzte mich auf. Die Tür stand offen und kühle feuchte Luft wehte herein. Es regnete noch immer.
Nadja blieb einen Moment lang im Türrahmen stehen. So wütend ich gestern auch auf sie gewesen war, so froh war ich jetzt jedoch, sie wieder zu sehen. Ob es mir gefiel oder nicht, ich war weiter auf sie angewiesen. Nach einiger Zeit bückte sie sich und hob etwas hoch, das ich nicht sehen konnte. Dann schloss sie die Tür und durchquerte die Hütte. Als sie langsam die Treppe empor kletterte, bemerkte ich, dass sie einen Eimer bei sich trug, der, wie sich kurz darauf herausstellte, mit ein wenig Wasser gefüllt war. Sie zog sich geschwind über die Kante des Heubodens, stellte den Eimer ab und trat rasch ein paar Schritte zurück. Wäre ich allein gewesen, hätte ich ohne zu Zögern meinen Mund direkt ins Wasser getaucht, aber vor Nadja beherrschte ich mich mühsam und angelte nach der im Wasser schwimmenden Schale. Dann trank ich in schnellen, gierigen Zügen mehrere Schalen voll Wasser, bis mein Durst einstweilen gestillt war.
„Danke", brachte ich dann widerwillig hervor. Einerseits war ich wirklich dankbar, andererseits ärgerte ich mich darüber, so abhängig von ihr zu sein. Daraufhin wickelte Nadja eine dicke Scheibe Brot aus einem Tuch und schob sie mir mit einer so hastigen Bewegung hin, als fürchtete sie, jemand könnte sie wegschnappen. Ebenso schnell griff ich nach dem verlockend duftenden Brot und schob es mir in den Mund. Wie lange hatte ich kein frisches Brot mehr gekostet! Ich genoss jeden einzelnen Bissen, und kaute langsam und sorgfältig. Währenddessen ruhten Nadjas Augen auf mir und beobachteten mich. Mir fiel auf, dass sie großen Abstand zu mir hielt, und ich stellte mit ein wenig Genugtuung fest, dass sie mir gegenüber vorsichtig geworden war. Das gab meinem Selbstwertgefühl etwas Auftrieb.
Nachdem ich die letzten Bissen verspeist hatte, sprach mich Nadja zögernd an und zeigte mir gestikulierend, dass sie mir einen neuen Verband anlegen wollte. Sie zog Verbandszeug hervor und sah mich fragend an. Statt einer resoluten Ärztin ähnelte sie jetzt mehr einem hilfsbereiten jungen Mädchen und sogleich kam ich mir männlicher und weniger schwach vor, Herr der Lage sozusagen, mit einer persönlich beauftragten Krankenschwester. Ich konnte das Angebot eines Verbandwechsels ablehnen, wenn ich wollte. Was ich natürlich nicht tat, denn trotz meiner überheblichen Gedanken war mir ja klar, dass Nadja offenbar medizinisches Wissen hatte, das mir fehlte. Ein Deja-vu vor Augen war ich allerdings entschlossen, dieses Mal keinesfalls den Blick abzuwenden, und stützte meinen verletzten Arm mit meiner rechten Hand.
Nadja kam vorsichtig näher, kniete sich hin und begann Lage um Lage des Verbandes abzuwickeln, bis nur noch Tücher in einer undefinierbaren Farbe, über deren Ursprung ich gar nicht erst nachdenken wollte, übrig blieben. Mir schwindelte etwas, und so wandte ich den Blick schließlich doch von meinem Arm ab und betrachtete Nadjas Gesicht, in dem sich vollste Konzentration abzeichnete. Bisweilen wurde es höchst schmerzhaft, als Nadja Stück um Stück die Tücher abzog, und ich zuckte mehrfach zusammen, unterdrückte aber eisern jegliche Äußerungen. Nachdem sie sauberen Stoff auf meine Wunde gelegt und dann erneut einen Verband angelegt hatte, ging es mir wieder besser. Ich hoffte, dass auch die Schmerzen mit der Zeit nachlassen würden und mein Arm seine volle Beweglichkeit zurück erhielt. Nadja nahm meine Hand und hob vorsichtig meinen Arm an, warf einen prüfenden Blick auf ihr Werk und schien zufrieden.
„Danke", sagte ich und sah sie an.
Sie zuckte lediglich mit den Schultern, als sei das eine tägliche Routineübung. Vielleicht war es das auch, wer wusste das schon. Ich hatte ja keine Ahnung, womit sie sich tagsüber beschäftigte, womöglich war sie in der Tat Krankenschwester irgendwo, für eine Ärztin war sie ja wohl zu jung. Vermutlich hatte sie aber einfach nicht verstanden, was ich gesagt hatte. Schließlich bemerkte ich, dass Nadja noch immer meine Hand hielt, was mir durchaus recht war. Ich sah sie an, sie hatte dunkelbraune Augen mit einem goldenen Pünktchen darin, umrahmt von einem dichten Wimpernkranz. Aus dem vom Regen noch feuchten Haar löste sich ein Tropfen und rollte ihr langsam die Schläfe hinunter.
Ohne darüber nachzudenken, hob ich meine andere Hand, um ihn vorsichtig fort zu streichen, doch abrupt ließ Nadja nun meine Hand los und stand auf. Dann sammelte sie alles herumliegende Material ein und wandte sich zum Gehen. Ich wollte nicht, dass sie schon ging und mich meinen Gedanken überließ, sie brachte Abwechslung in die langweiligen Stunden allein und ich musste zugeben, dass ich sie gern ansah, ihre langen dunkelbraunen Haare, die jedes Mal zu einem Zopf geflochten waren, ihr hübsches Gesicht, dass mich immer forschend anzusehen schien, ihre schlanke Gestalt, die sich anmutig bewegte und auch ihre Brust betrachtete ich gern, die sich in dem nassen Kleid heute besonders deutlich abzeichnete.
„Nadja!", rief ich, als sie gerade im Begriff war, die Leiter hinunter zu steigen.
Sie wandte sich um und schaute mich fragend an.
„Nichts", fügte ich hinzu, verfluchte die Sprachbarriere, die mich jeglicher Kommunikationsmöglichkeiten beraubte, und zuckte daher hilflos lächelnd mit den Schultern.
Da erschien endlich wieder ein Lächeln auf ihrem Gesicht, wie am Tage unserer „Wasserschlacht", ein Lächeln, das auch ihre Augen erreichte und ihr Gesicht erstrahlen ließ, und plötzlich war es um mich geschehen.
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