Teil 14

Tag 6

Als ich aufwachte, musste ich mich erst einmal besinnen. Dann fiel mir die furchtbare Tour auf dem Pferd hierher ein. Im Licht des Tages, das durch eine kreisrunde Luke hereinschien, erschien sie mir fast wie ein Traum. Wenn es doch so wäre! Doch leider hatte sich alles genauso zugetragen und noch im Nachhinein spürte ich, wie ich bei der Erinnerung daran einen heißen Kopf bekam.

Um mich abzulenken, nahm ich meine Umgebung in den Blick, stützte mich auf den rechten Arm und richtete mich auf und sah mich um. Ich befand mich direkt unter dem hohen Dach eines großzügig gebauten Gebäudes, das von mehreren Holzbalken gestützt wurde. In eine Ecke schmiegte sich ein Schwalbennest, dessen Bewohner zwischen ihrer Behausung und einer offenen Luke auf der mir gegenüber liegenden Seite des Gebäudes hin und her flogen. An den Wänden waren Strohballen gestapelt und dazwischen bedeckte überall loses Heu den Boden. Es war warm und stickig, denn durch die kleine Luke gelangte nicht viel Luft herein.

Zu meiner Überraschung befand ich mich weder im Kriegsgefangenenlager noch im Dorfgefängnis, sondern vergleichsweise frei auf einem Heuboden und durfte mich daher wohl glücklich schätzen. Ich schaute über den Rand meiner oberen Ebene und warf dann einen Blick auf den tief liegenden Schuppenboden unter mir. Der Gedanke, die Leiter herunter zu klettern, erübrigte sich, wenn ich mir ausmalte, was gestern Nacht ohne Absicherung passiert wäre. Mal ganz abgesehen davon, dass ich in meiner momentanen körperlichen Verfassung ja nicht einmal fünf Meter alleine schaffte.

Für einen Moment ließ ich den Kopf hängen und fragte mich mutlos, wie es weiter gehen sollte, was hatte man mit mir vor? Dann gab ich mir einen mentalen Ruck: ich war am Leben, so erstaunlich mir das auch vorkam, da würde es schon irgendwie weitergehen, und ich nahm mir vor, nur einen Schritt nach dem anderen zu denken. Als Allererstes brauchte ich etwas zu trinken, denn meine Kehle schmerzte vor Trockenheit, und suchend blickte ich mich um. Am Ende der Leiter befand sich ein Krug, den ich bislang übersehen hatte, ich streckte die Hand danach aus und leerte das kostbare Nass in einem langen Zug.

Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was Nadja eigentlich mit mir vor hatte. Sie hatte mich verarztet und versorgt, so viel stand fest. Aber der Grund dafür blieb mir verborgen. Und weshalb war ich jetzt hier auf dem Heuboden anstatt im Wald? Ich dachte an die Karl-May-Bücher, die ich verschlungen hatte, in denen Old Shatterhand gesund gepflegt wurde, bevor er an den Marterpfahl musste. Aber das galt ja wohl nur bei den Indianern. Wenn überhaupt.

Unwillig musste ich zugeben, dass Nadja einige Mühen auf sich genommen hatte, um mich hierher zu bringen, also musste das Ganze wohl einen Sinn haben. Was wohl passiert wäre, wenn ich im Wald geblieben wäre?

Nadja war mir ein Rätsel, denn sie war fürsorglich und freundlich-distanziert, bei der „Wasserschlacht" sogar locker und lustig gewesen. Abgesehen von den äußeren Umständen hatte ich ein Weilchen Spaß gehabt. Gestern hingegen...sie hatte mich erst in Sicherheit gewiegt und mich dann überlistet. Ich hatte ihr vertraut und musste dann erleben, wie naiv der Glaube an ihre Hilfsbereitschaft gewesen war. Trotz aller Skepsis, die mir durch den Kopf gegangen war, hatte ich mich offenbar doch irgendwie mehr auf die Anständigkeit, die aus ihren Handlungen sprach, verlassen, als mir selbst klar gewesen war.

Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf und verstand mein Verhalten nicht. Ich war normalerweise in vernünftiger Weise misstrauisch, denn ohne Absicherung nach vorn und hinten ließ sich im Krieg nicht überleben. Die Tatsache, dass ich es ihr gegenüber kaum gewesen war, kennzeichnete deutlich die Notlage, in der ich mich befand. Ich war auf Nadjas Hilfe angewiesen und hatte im Wald überhaupt keine Handlungsalternativen gehabt. Ich hatte ihr vertrauen müssen. Umso mehr empfand ich jetzt ein Gefühl des Verrats, obwohl sie mir ja nie irgendwelche Versprechungen gemacht hatte. Und wenn ich ehrlich war: nie wäre ich freiwillig auf dieses Pferd gestiegen. Ich war wütend über ihren Trick gewesen. Und ihre Wut hatte meiner in nichts nachgestanden. Ich hatte zwar nicht verstanden, was sie gesagt hatte, aber ich hatte den Zorn in ihrer Stimme gehört, als ich nicht das tat, was sie wollte. Woher hätte ich auch wissen sollen, was sie vor hatte. Ich sah umher, sah auf den Wasserkrug und kam ins Grübeln... war es ein Vertrauensbruch gewesen?

Nein, so hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Nach dem Schulabschluss hatte ich Kunst und Kunstgeschichte studieren wollen, versehen mit der vagen Idee, mit meinen Bildern einmal berühmt zu werden, was natürlich lediglich ein naiver Kindertraum war, doch gleichzeitig eine Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag bot, der eigentlich nur aus Hitlerjugend bestand.

Ich war mit zehn Jahren zu den Pimpfen gegangen, wie die meisten meiner Klassenkameraden. Die gemeinsame Kleidung, das geknotete Halstuch, das hatte etwas Besonderes gehabt, und obschon wir noch Kinder waren, hatten wir uns dennoch wichtig gefühlt, und dieses umso mehr, da wir beim Deutschen Jungvolk ohne Eltern gewesen waren und alles selbständig organisiert hatten, denn unsere Gruppenleiter waren selbst erst 13, 14 Jahre alt gewesen. Wir hatten viel Sport getrieben, Schießen gelernt und gemeinsame Fahrten unternommen, und nur die verpflichtenden Heimatnachmittage, bei denen wir oft Vorträge zu hören bekommen hatten, hatten mich gelangweilt, und das ein oder andere Mal hatte ich mit dem Gedanken gespielt, einfach fern zu bleiben. Meine kleinen Schwestern hatten zu mir aufgeschaut und es kaum erwarten können, zu den Jungmädels zu kommen.

Doch als ich mit 14 Jahren automatisch in die Hitlerjugend eingetreten war, hatte der Dienst immer mehr meiner privaten Zeit in Anspruch genommen und neben den regelmäßigen Dienstzeiten bei der HJ hatten wir nach Kriegsbeginn zusätzliche Aufgaben zu erfüllen gehabt, um die an der Front weilenden Männer zu ersetzen. Es hatte uns unsere Bedeutsamkeit vor Augen geführt, dass wir gebraucht wurden, um Boten- und Kurierdienste zu übernehmen, hinter denen selbst die Schule hatte zurücktreten müssen. Wir hatten uns weiterhin weltanschauliche Schulungen anzuhören gehabt und Geländespiele und sportliche Wettkämpfe durchgeführt. Ich war schnell und durchtrainiert und es hatte mir Spaß gemacht, meine Kräfte im Wettkampf mit anderen zu messen.

Allerdings hatte ich inzwischen meine Begeisterung für das Malen entdeckt und frustriert feststellen müssen, dass ich kaum eine Möglichkeit hatte, mir dafür Zeit zu nehmen. Außerdem hatte mich zunehmend gestört, dass ich ständig von anderen umringt war und nur nachts die Gelegenheit hatte, meine Gedanken wandern zu lassen. Mit der Zeit war mir der Dienst daher lästig geworden, doch er war Pflicht für uns alle gewesen, wie auch die sich anschließende Wehrertüchtigung, wo wir lernten zu gehorchen und nichts in Frage zu stellen. Und schließlich war, nach Schulabschluss, die Einberufung zum Wehrdienst erfolgt. Genau wie viele andere meines Jahrganges hatte mich Begeisterung gepackt gehabt, denn hier würden wir endlich Gelegenheit haben, uns zu beweisen.

Wir hatten darauf gebrannt, zur Eroberung neuen Lebensraumes im Osten beizutragen. Es war 1942 und die Wehrmacht war weiter auf dem Vormarsch Richtung Kaukasus gewesen. Doch die Realität hatte die schönen Vorstellungen bald eingeholt gehabt. Wir waren im Gebiet der Ukraine eingesetzt gewesen und hatten statt Ruhm und Ehre ermüdende Gefechte, Hunger, Dreck, Ungeziefer und im Winter eisige Kälte erlebt. Begegnungen mit der Zivilbevölkerung waren belastend gewesen, denn die dabei angewandte Gewalt hatte mit der romantischen Vorstellung von dem Aufbau neuer Siedlungsgebiete nichts mehr zu tun gehabt. In ruhigen Momenten hatte ich die weite Landschaft in mich aufgenommen und Skizzen angefertigt und mich außerdem mit Briefen in die Heimat abgelenkt gehabt.

Der lang ersehnte Fronturlaub hatte dann für eine gewisse Erholung gesorgt, aber auch zugleich Ernüchterung gebracht, denn durch die verstärkten Luftangriffe der Amerikaner und der Briten war es auch in meiner Heimat nicht mehr friedlich gewesen. Ohne die frühere Begeisterung zu spüren war ich zurück an die Ostfront beordert worden und hatte meine Pflicht getan, wobei ich mir untersagt hatte, über den Sinn des Ganzen nachzudenken – reichlich Schnaps hatte dabei hilfreich zur Seite gestanden. Bis mich dann eine Ruhrerkrankung für einige Zeit ins Lazarett geführt hatte. Resigniert war ich schließlich vor einigen Wochen wieder an die Front zurück gekehrt, ohne Hoffnung auf ein baldiges Ende und auch ohne Hoffnung, meine Familie jemals wieder zu sehen.

Es wurde mir immer klarer, dass wir Kanonenfutter für Ziele waren, die sich längst überholt hatten, denn selbst ein Blinder konnte sehen, dass es nicht gelang, den neuen Lebensraum zu halten geschweige denn zu stabilisieren. Im Osten stand die Rote Armee und im Hinterland drohte Gefahr durch Partisanen. Nichts von diesen Gedanken hatte jedoch Eingang in meine Briefe nach Hause gefunden, denn um mich abzulenken und die Verwandten nicht zu beunruhigen, hatte ich lieber von schönen Dingen geschrieben.

Und dann hatte am 22. Juni die Offensive der Roten Armee begonnen, die trotz erbitterter Gefechte nicht zu stoppen gewesen war. Die sowjetischen Verbände waren uns hoffnungslos überlegen gewesen und reihenweise waren Kameraden gefallen. Mein Überlebenswille war schließlich stärker gewesen als die resignierte Untergangsbereitschaft, und so hatte ich impulsiv den sich mir bietenden Moment zur Flucht in den Wald genutzt. Solange es ging hatte ich versucht, größten Abstand zwischen mir und dem Kampfgeschehen zu legen, bis mich schließlich meine Verletzung in immer größerem Maße zur Verlangsamung gezwungen hatte und ich die Orientierung verloren hatte.

An die darauf folgenden Tage oder Wochen hatte ich keine konkrete Erinnerung mehr. Ich wusste absolut nicht, wo ich mich gerade befand und wie lange ich im Fieber gelegen hatte. Hatte Mutter schon erfahren, dass ich vermisst wurde? Wahrscheinlich hielten sie mich zu Hause für tot. Ich seufzte. So schrecklich dieser Gedanke für meine Angehörigen auch sein mussten – er bot ihnen auch Schutz. Bei den chaotischen Zuständen, die in Mogilew geherrscht hatten, hatte keiner mehr auf den anderen geachtet und ich hielt es für unwahrscheinlich, dass meine Vorgesetzten auf die Idee kommen würden, dass ich mich unrechtmäßig von der Front entfernt hatte, sicher hielt man mich für gefallen.

Für einen Moment überkam mich Scham darüber, dass ich die mir anvertrauten Soldaten im Stich gelassen hatte. Doch ich versuchte mich mit den Gedanken zu beruhigen, dass es mitten im Krieg ohnehin Schutz für niemanden gab und in Mogilew war am Ende sowieso jeder auf sich allein gestellt gewesen. Ich würde mich nun bemühen, bis zum Ende des Krieges unentdeckt zu bleiben und hier fernab der Front wieder zu Kräften zu kommen, um dann Richtung Westen fliehen zu können... Die warme Luft machte mich schläfrig, meine Gedanken brachen ab. Ich ließ mich ins Stroh rutschen, versuchte es mir, so gut es ging, bequem zu machen und schloss die Augen.

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