Teil 11

Tag 5

Ich schlief unruhig. Bei unerwarteten Geräuschen schreckte ich hoch und befürchtete das Auftauchen von russischen Soldaten oder Partisanen. Das stete Hungergefühl und die Schmerzen im Arm ignorierend nickte ich danach jedoch wieder ein. Als der Morgen zu dämmern begann, fing ich im kühlen Tau an zu frösteln. Ich schlang den Arm um den Körper in dem vergeblichen Versuch nach etwas Wärme und lauschte mit angespannten Sinnen den Geräuschen des Waldes. Nach langer Zeit nahm ich ein auffälliges Knacken von Zweigen wahr und richtete mich so rasch es ging auf. Wieder war es glücklicherweise nur Nadja, die auf ihrem Pferd langsam auf mich zu ritt und sich dann hinunter gleiten ließ. Sie grüßte mich mit einem Lächeln, das ich verhalten erwiderte, ohne dabei meine Erleichterung über ihr Auftauchen zu zeigen. Als sie zum See ging, sah ich ihr mit Blicken hinterher, die nur ein Soldat haben kann, der lange Zeit keiner Frau mehr ansichtig geworden war.

Als sie sich mit dem gefüllten Krug wieder auf den Weg zu mir machte, umspielte der schwingende Rock ihre Knöchel und gab ab und zu den Blick auf ihre Beine frei. Unter dem dünnen Leinenstoff zeichneten sich ihre Hüften ab und die in den Rock gesteckte Bluse betonte ihre schmale Taille. Ich starrte ihr ungeniert in den Ausschnitt, als sie mir das Wasser reichte, und trank Schluck für Schluck, ohne meinen Blick von ihr zu nehmen. Unter dem eng liegenden Blusenstoff konnte ich ihre Brüste erahnen. Mit einer energischen Bewegung verschränkte sie die Arme vor der Brust. Bedauernd wandte ich meine Augen ab und trank das Wasser aus. Als ich ihr das leere Gefäß reichte, sah ich, wie sie versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Offenbar nahm sie mir meine Blicke nicht übel. Es juckte mich in den Fingern, sie zu berühren, während sie dicht vor mir stand, aber die Furcht, mir die notwendige Hilfsbereitschaft zu verscherzen, hielt mich davon ab. Wie zuvor ging sie los, um das Wasser aufzufüllen. Daraufhin legte sie mir noch ein Stück Brot daneben und war schließlich im Nu verschwunden.

Ich kaute langsam und bedächtig, um länger etwas davon zu haben. Das Übermaß an freier Zeit brachte mich schon bald ins Grübeln. Es blieb mir weiterhin unklar, was mich erwartete. Ich wurde aus Nadjas Verhalten nicht schlau. Ich wusste ihre Fürsorge natürlich zu schätzen, aber ich traute dem Frieden nicht. Irgendwann würde sich etwas ändern, das war mir klar. Ich musste die Zeit bis dahin nutzen, unbedingt wieder zu Kräften kommen. Genau das war natürlich das Problem, ich war durch die Krankheit und durch die fehlende Nahrung noch immer so geschwächt, dass an ein Fortgehen überhaupt nicht zu denken war und ich hoffte, dass mir jeder zusätzliche Tag durch die erzwungene Ruhe mehr Kraft zurück bringen würde. Wenn ich nur weiterhin Wasser und etwas zu essen hätte...

Und dann...? Ich blickte gedankenverloren in den Himmel. Am einfachsten wäre es wohl, zu versuchen, zu unseren Truppen zurückzukehren, wo immer sie jetzt stehen mochten, und wahrheitsgemäß von den vergangenen Tagen zu berichten. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob mein überstürztes Wegrennen im Gefecht von Mogilew nicht als ein unerlaubtes Entfernen von der Truppe geahndet werden würde. Und darüber hinaus wäre eine Rückkehr zur Truppe der sichere Weg in den Tod. Ich glaubte nicht mehr daran, dass der Krieg noch zu gewinnen war. Die Russen hatten sich als zäherer Gegner erwiesen, als wir erwartet hatten, statt Vormarsch gab es nur noch Rückzüge. Und das Verhalten vieler Soldaten im Rücken der Front belastete mich. Ich spürte, dass ich mit zunehmender Dauer mehr und mehr abstumpfte und zu jemandem wurde, der ich nicht sein wollte. Unruhig zupfte ich mit der Hand Moos aus dem Boden und schleuderte es ziellos fort. Das hier war eine Gelegenheit, wie sie wohl nicht wieder kommen würde. Doch wie sollte ich es anstellen? Der Weg in die Schweiz war verdammt weit...

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In Gedanken versunken saß ich beim Abendbrot und musste bei der Erinnerung an die gestrigen, lustigen Wasserplanschereien lächeln. Nur halb bekam ich mit, dass meine Mutter mit mir gesprochen hatte und nun auf eine Reaktion von mir wartete.

Meine Cousine Marina stieß mich an und neckte mich:"Na, träumst du schon von ihm?"

„Von wem?", fragte ich begriffsstutzig - ich hatte keine Ahnung, von wem gesprochen worden war.

„Hör doch mal zu, wenn ich mit dir rede", schalt meine Mutter. Das war wieder typisch. Immer musste sie an mir herumkritisieren.

„Nadjenka ist eben unser Träumelinchen", gab Cousine Oksana zum Besten.

Es war wirklich blöd, die Jüngste im Bunde zu sein. Ich warf ihr einen bösen Blick zu und richtete dann genervt meine Aufmerksamkeit auf meine Mutter.

„Pjotr hat Genesungsurlaub bekommen", teilte mir meine Mutter bedeutungsvoll mit. „Er kann jeden Tag zu Hause eintreffen".

Sie warf einen Blick zu meiner Tante hinüber, die wissend nickte.

„Was!?", rief ich erschrocken.

Meine Familie sah mich verwundert an, ich musste mich mehr zusammennehmen. Aber die Mitteilung war eindeutig eine Nachricht von der schlechten Sorte. Der Weg vom Bahnhof zu dem Hof von Pjotrs Familie führte nicht weit vom See vorbei, es war daher nicht ausgeschlossen, dass es ihn auf dem Heimweg dorthin verschlug...

Meine Mutter runzelte die Stirn, beschloss dann aber offenbar, nicht näher auf meine merkwürdige Reaktion einzugehen, sondern es als „typisch Nadja" abzutun. Sie goss sich eine weitere Tasse des erneut aufgebrühten Tees ein und bemerkte betont beiläufig:„Du könntest ihm einmal einen Besuch abstatten."

Ich stöhnte innerlich. In den letzten Monaten floss Pjotrs Name zunehmend häufiger in die Unterhaltungen ein. Pjotr schrieb dies, Pjotr tat das... Meine Mutter sähe es am liebsten, wenn ich endlich an ihm Gefallen finden und ihn dann heiraten würde. Er war der Sohn des Bauern in der Nachbarschaft, mit eigenem Hof, und damit eine gute Partie. Leider so interessant wie ein Holzschemel und genauso mitteilsam. Er war drei Jahre älter als ich und die einzige Gemeinsamkeit, die wir hatten, war der Spaß, den wir zusammen mit vielen anderen Kindern seinerzeit bei der Heuernte gehabt hatten.

Nach dem Essen zog ich mich zu Marianka in den Stall zurück und dachte über das Gehörte nach. Michael war dort am See nicht mehr sicher. Zwar würden dort nie die Frauen auftauchen – es war viel zu weit entfernt – doch was Pjotr anging, insbesondere wenn der Weg nach Hause in der Nähe vorbei führte und die Hitze die Gedanken an den See lockte, war ich mir nicht so sicher. Was sollte ich tun?

Ich dachte über eine Versteckmöglichkeit dort nach, aber mir fiel nichts ein, denn so dicht war das Dickicht am See nicht. Plötzlich hielt ich irritiert inne. Es konnte mir doch eigentlich egal sein, was mit dem Deutschen passierte. Ich hatte an ihm eine medizinische Behandlung geübt und anschließend dafür gesorgt, dass er nicht verdurstete. Und Punkt. Wenn er jetzt von einem russischen Soldaten entdeckt wurde, war das nicht mein Problem. Diese logischen Argumente überzeugten mich jedoch irgendwie nicht. Ich fühlte, dass sie hier nicht mehr galten, es ging nicht um irgendeinen deutschen Soldaten, sondern es ging um Michael, mit dem ich gestern viel Spaß gehabt hatte.

Ich musste mir schnell eine Lösung einfallen lassen. Er brauchte ein Versteck, im Wald gab es da nichts Passendes, aber bei uns auf dem Hof. Auf dem Heuboden! Er war gut gefüllt und bis zum Herbst bestand keine Veranlassung dazu, Heu von oben herunter zu holen, unten lagerte genügend. Nur musste ich irgendwie Michael hierher kriegen. Aber das ließ sich ja bei Nacht bewerkstelligen, und wozu hatten wir ein Pferd? Ich seufzte erleichtert auf, froh darüber, einen Weg gefunden zu haben. Und ich schob den Gedanken, zu welchem Zweck ich mir die Mühe machen wollte, da ich ihn sowieso noch zu melden beabsichtigte, weit nach hinten in mein Bewusstsein.

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