Kapitel 97 ( Nadja )

Während wir im spärlichen Licht einiger Lampen am Wasser entlang schlenderten, berichtete Mischa von seinem langen Weg per Bahn und zu Fuß nach Hause über Südpolen und die Tschechische Republik, seinen monatelangen Aufenthalt auf einem Hof in Ostdeutschland, seine Rückkehr nach Hause und die sich anschließende Kriegsgefangenschaft bei den Briten. Die nächsten Jahre waren offenbar von Hunger gekennzeichnet gewesen.

„1½ Jahre habe ich meine Arbeitskraft auf einem Bauernhof gegen Lebensmittel eingetauscht. Gelernt ist gelernt", er grinste schief. „Das hat unsere Familie über Wasser gehalten."

Bis dann die Währungsreform in Deutschland gekommen war und es über Nacht wieder alles zu kaufen gegeben hatte, zumindest für die, die es sich hatten leisten können.

Mit Bitterkeit dachte ich daran, dass das in der Sowjetunion längst nicht möglich war, obwohl doch der Krieg gewonnen worden war. Mischa hatte schließlich eine bezahlte Tätigkeit gefunden und endlich anfangen können, Kunst und Kunstgeschichte zu studieren, wie er es sich immer gewünscht hatte, und er hatte anschließend noch Pädagogik drangehängt, um „von irgendetwas Geld zu verdienen". An der Universität hatte er Gisela kennen gelernt, dann geheiratet und eine Familie gegründet. Während er als Lehrer arbeitete, versorgte sie zu Hause die beiden Kinder.

Mittlerweile hatten wir die Promenade hinter uns gelassen und setzten unseren Weg auf einem unebenen Sandweg fort.

„Ich kann mir dich als Lehrer gar nicht vorstellen", wunderte ich mich. „Macht es Spaß?"

„Na ja..." gab Mischa gedehnt von sich und zog eine Grimasse. „Ich kann mir auch anderes vorstellen..." Dann lachte er:„Wenn mich die Schüler zu sehr ärgern, lass ich sie einfach irgendwelche Objekte abzeichnen."

Ich schmunzelte und Mischa lächelte.

„Was ist aus den Bildern im schicken Rahmen geworden?", konnte ich mir dann allerdings meine Frage nicht verkneifen.

Da blieb Mischa stehen und sah auf die See hinaus. Die Wellen schlugen im regelmäßigen Rhythmus gegen den Strand und es dauerte ein Weilchen, bis er antwortete:

„Sie sind Träumerei geblieben. Ich habe keine Zeit, keine Ruhe dafür. Die Arbeit, die Kinder..." Er verstummte.

„Das tut mir leid", bemerkte ich mitfühlend, denn ich spürte seine Enttäuschung darüber, obwohl er sein Möglichstes tat, sie zu verbergen.

Nach einer Weile warf er mir über die Schulter einen forschenden Blick zu und sagte dann leise:„Schön, dass wenigstens du deine Träume lebst."

Darauf wusste ich nichts zu erwidern, schwieg daher und rieb meinen schmerzenden Knöchel. Diese Sandaletten waren nicht für einen längeren Spaziergang gemacht. Wind war aufgefrischt und fuhr mir angenehm kühl ins Gesicht.

„Setzen wir uns doch einen Moment", schlug Mischa vor, als er mein Humpeln bemerkte.

Der Wind zerzauste ihm das Haar, was ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Ich hätte ihm zu gern durch das Haar gestrichen, aber tat es natürlich nicht. Mein Herz klopfte die ganze Zeit schneller als gewöhnlich, obwohl ich mein Bestes tat, es zu ignorieren. Wie konnte es sein, dass er nach so vielen Jahren noch so eine Wirkung auf mich hatte?

Anschließend war es an mir, zu erzählen und ich berichtete, wie ich nach Minsk gegangen war, als Mila zwei Jahre alt war, um als Krankenschwester im Krankenhaus zu arbeiten und schließlich das Medizinstudium zu beginnen.

„Es war eine schwere Zeit. Es gab nur Arbeit und sonst nichts", seufzte ich.

Mischa hatte aufmerksam zugehört und fragte nun:„Was hast du mit Mila in der Zeit gemacht?"

Ich lächelte bei der Erinnerung an Maria und fuhr fort:„Ich hatte Glück, neben meinem Zimmer wohnte eine freundliche alte Frau, die sich um Mila kümmerte. Sie hätte keine bessere Großmutter haben können..." Ich verstummte.

„Was ist mit deiner Mutter?", wollte Mischa wissen.

Unruhig stand ich auf und klopfte mir den Sand von der Kleidung, bevor ich mich zurück zur Promenade wandte.

Mischa folgte mir und ich fuhr fort:

„Na ja, sie fand meine „verrückten Ideen", wie sie es nannte, ja nie gut. Das hat sich auch nicht geändert. Sie nimmt es mir übel, dass ich den Hof verlassen habe und nicht wenigstens einen Bauern geheiratet habe." Ich lachte freudlos. „Als Mila geboren wurde und ich daher noch ein Weilchen blieb, hatte sie ja gehofft, aber dann..." Ich zuckte mit den Schultern. „Nun, es kommt selten vor, dass ich sie besuche. Und dann haben wir uns auch kam etwas zu sagen."

Ich wurde traurig bei den Gedanken, dass die vorsichtige Annäherung zwischen Mutter und mir so schnell wieder verpufft war wie eine Rauchwolke. Wellen plätscherten leise auf den Strand, während ich meinen Gedanken nachhing.

Unvermittelt fragte Michael:„Wer ist denn offiziell Milas Vater?"

Ich schob mit dem Fuß einen Stein auf dem Weg beiseite. „Auf der Geburtsurkunde steht „Vater unbekannt", erwiderte ich und warf Michael einen Blick von der Seite zu.

„Meiner Familie hatte ich gesagt, es sei einer von den Partisanen gewesen, die sich bei uns einquartiert hatten. Als Mila krank wurde... also... nach deiner Knochenmarkspende... hat sie allen auf einer Familienfeier unabsichtlich berichtet, wo du herkommst..."

Ich stockte und fuhr unter Michaels mitfühlendem Blick schließlich fort:

„Es gab ziemlich viel Ärger... meine Mutter und all die anderen, besonders mein Bruder... sie können das nicht verstehen und sie wollen es nicht verzeihen."

Das verletzende Wort „Deutschenflittchen" ging mir wieder durch den Kopf.

„Sie wissen bis heute nicht, wie wir uns kennen gelernt haben und sie wollen es auch nicht wissen..."

Mischa griff nach meiner Hand und drückte sie sanft.

„Nur Oksana versteht mich..." fügte ich mit einem Kloß im Hals hinzu und Mischa nickte wissend.

Ich blieb stehen und mein Blick schweifte gedankenverloren weit über die See. Mischa schwieg und gab mir Zeit, mich wieder zu sammeln.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top