Kapitel 96 ( Nadja )
Ich hatte den ganzen Abend über mit mir gehadert. Was versprach er sich davon, sich mitten in der Nacht mit mir zu treffen? Was sollte das? Er war verheiratet. Andererseits war ich, zugegeben, neugierig. Ich wollte wissen, wie er damals nach Hause gekommen war. Wie hatte er nach Kriegsende weiter gelebt? Was war aus seinen Träumen geworden? Das war nichts, was man in netter Plauderrunde mit seiner Frau zusammen besprechen konnte. Wie es zu erwarten war, wirkte sie nicht sonderlich begeistert von dieser „Familienzusammenführung" und ich konnte es ihr nicht verdenken. Sie war zwar höflich und freundlich gewesen, hatte aber eine gewisse Distanz durchscheinen lassen.
Auch mir war die Situation unangenehm gewesen. Und dann wollten wir morgen noch den Tag zusammen verbringen! Vielleicht sollte ich absagen, denn. Mila brauchte mich dabei nicht. Ich könnte stattdessen das nächtliche Treffen nutzen, mich in Ruhe mit Mischa zu unterhalten...
Zum Glück war Mila in ihrer eigenen Welt und bekam nicht mit, wie durcheinander ich war. In diesem Moment war ich froh über die Ichbezogenheit junger Leute. Nachdem sie sich schlafen gelegt hatte und ich die Seite meines Buches drei Mal gelesen hatte, ohne ihren Inhalt zu erfassen, traf ich einen Entschluss. Ich schrieb eine Nachricht für Mila, verließ dann das Haus in Richtung Promenade und dann dauerte es nicht lange, bis ich die Bar erreichte. Mischa saß am Tisch, stand auf, als ich näher trat, und lächelte mich erfreut an.
„Schön, dass du gekommen bist", begrüßte er mich und ein Ausdruck der Freude malte sich auf seinem Gesicht, als er mir die Hand zur Begrüßung entgegen streckte.
„Ich konnte doch nicht auf die Gelegenheit verzichten, mich endlich einmal mit dir in einer Sprache unterhalten zu können statt mit Hilfe eines Bildes", scherzte ich.
Mischa lachte, genauso unwiderstehlich wie damals. Bevor ich vor Aufregung weiche Knie bekam, setze ich mich schnell in den Stuhl neben ihm.
„Was möchtest du trinken?", fragte er. Ich sah auf sein Glas Wein und entschied mich für das gleiche.
Nachdem Mischa die Bestellung aufgegeben hatte, wandte er sich mir zu und sagte noch einmal:„Schön, dass du hier bist."
Ich erwiderte lachend:„Das sagtest du bereits."
Er grinste:„Ich weiß. Aber ich wiederhole es gern, weil es wahr ist." Er schenkte mir ein charmantes Lächeln.
„Mit diesem Lächeln siehst du aus wie damals", sagte ich und hatte Mühe, nicht in seinen grünen Augen zu versinken.
„Es ist, als wäre es gestern gewesen", stimmte Mischa zu.
Verwirrt löste ich den Blick von ihm, als der Wein gebracht wurde und war ein wenig froh über die Ablenkung. Was war los mit mir, ich war doch nicht mehr 18. Verlegen hob ich das Glas und wir stießen auf alte Zeiten an.
„Du hast dich gar nicht verändert", bemerkte Mischa und trank einen Schluck.
„Aber ja!", protestierte ich lächelnd, „Ich habe kürzere Haare, bin älter geworden..."
„Für mich bist du immer noch so schön wie damals", entgegnete Mischa leise und der Blick in sein Gesicht verriet mir, dass er es ernst meinte.
„Danke", antwortete ich und hielt seinem Blick stand, während in meinem Magen Schmetterlinge umher zu flattern begannen. Wir sahen uns noch einen Moment lang in die Augen, bis wir dann beide verlegen einen Schluck Wein nahmen.
„Das ist doch verrückt, das kann nicht sein", fuhr es mir durch den Kopf. Das ist 16 Jahre her! Und er ist verheiratet. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen.
„Warum wolltest du mich hier treffen?", hörte ich mich in einer so kühlen Stimme sagen, dass ich mich innerlich wand.
„Ich wollte wissen, wie das damals war, ganz am Anfang, als wir uns kennenlernten, also als du mich zum ersten Mal gesehen hattest", antwortete Mischa, nun gleichfalls distanzierter und mit einem neutralen Gesichtsausdruck.
Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet und fragte daher verwundert:„Warum willst du das wissen?"
„Weil ich an die ersten Tage keinerlei Erinnerung habe", gab er zurück. „Das ist eine Lücke in meinem Gedächtnis. Ich habe wieder und wieder darüber nachgedacht, aber ich erinnere mich an nichts. Und das", fügte er entschlossen hinzu, „möchte ich gern ändern".
Er lehnte sich entspannt im Stuhl zurück und schaute mich neugierig an.
Also berichtete ich, wie ich ihn damals im Wald entdeckt hatte. Vor meinen Augen entstanden die Erinnerungen an vergangene Zeiten und ich blickte hinüber zum Strand, ohne etwas davon wahrzunehmen.
„Du warst schwerkrank und ich glaubte nicht, dass du die Nacht überleben würdest", fuhr ich fort. „Aber ich irrte mich. Als ich einen Tag später nach dir schaute, warst du immer noch gerade so eben am Leben. Und da beschloss ich, den Granatsplitter aus deinem Arm zu entfernen, damit du eine Chance hättest"
„Warum?", unterbrach mich Mischa.
Ich wandte ihm den Kopf zu und wusste nicht, was ich ihm dazu antworten sollte.
"Was, warum?", fragte ich daher zurück, auf Zeit spielend.
„Warum hast du das gemacht, ich war doch ein Feind", hakte er nach.
Ich würde ihm jetzt gewiss nicht erzählen, was mir damals durch den Kopf gegangen war und zuckte daher nur mit den Schultern.
„Und wie hast du das geschafft?", fragte er weiter und sah mich mit gespannter Aufmerksamkeit an. „Mir war es nicht gelungen, den Splitter zu entfernen."
„Das willst du gar nicht wissen", wehrte ich ab.
„Probier's mal", drängte Mischa.
Ich seufzte nicht ganz überzeugt, doch berichtete dann, wie ich alles, was mir notwendig schien, eingepackt hatte und damit in den Wald geritten war.
„Woher hattest du etwas zur Betäubung?", wollte er wissen.
„Hatte ich nicht", gab ich zu.
Mischa sah mich lange schweigend an, bevor er kommentierte:"Da hatten wir wohl Glück, dass niemand in der Nähe war."
„Das könnte man so sagen", stimmte ich zu und dachte zurück an die schrecklichen und anstrengenden Stunden meiner ersten Operation. Nie im Leben würde ich ihm davon Einzelheiten berichten. Allein das Ergebnis zählte.
Zum Glück fragte Mischa jetzt nicht weiter nach.
„Du bist wirklich außergewöhnlich, weißt du das?", bemerkte er und blickte auf seinen linken Arm, auf dem lediglich eine verblasste Narbe zurückgeblieben war. „Ohne dich würde ich jetzt nicht hier sitzen", fügte er hinzu und sah mich an. „Danke!"
Ich spürte, wie sich meine Wangen röteten, aber das war zum Glück in dem schummerigen Licht wohl nicht zu sehen, und bemerkte leichthin:„Es wäre ja sonst schade um dich gewesen, so einen gut aussenden jungen Burschen."
Mischa schaute einen Augenblick überrascht und begann dann leise zu lachen:„Du hast mich wegen meines hübschen Gesichts gerettet?"
„Wohl kaum", konterte ich, „Das war nämlich mit Asche bestäubt. Eher wegen deiner langen Beine."
Wir brachen beide in ein fröhliches Lachen aus.
Wieder ernst werdend, fragte Mischa dann erneut:„Ernsthaft, warum hast du das für mich gemacht?" und bedachte mich mit einem intensiven Blick.
Worauf wollte er hinaus? Um dem Gespräch wieder eine heitere Wendung zu geben, scherzte ich: „Wahrscheinlich willst du hören, dass ich vom ersten Augenblick an unsterblich in dich verliebt war."
„Und – warst du das?", setzte Michael nach.
„Und wenn es so wäre?", gab ich kokett zurück.
Statt einer Antwort griff er nach seiner Tasche und holte ein zusammen gerolltes Papier heraus. Er strich es glatt und legte es vor mich auf den Tisch.
„Das habe ich nach meiner Rückkehr nach Hause gemalt, sobald ich wieder Papier und Stift in der Hand hatte."
Es war ein Portrait von mir, so genau in jedem Detail wie ein Foto. Mein lachendes Gesicht zeigte deutlich das Glück, dass ich in dem damaligen Sommer verspürt hatte. Ich betrachtete es lange und traf dann eine Entscheidung.
„Wir sollten nicht in der Vergangenheit schwelgen", sagte ich und schob ihm das Bild zurück.
Er achtete nicht darauf. Ruhig erwiderte er:„Das waren die schönsten Momente meines Lebens. Ich werde sie nie vergessen." Dabei sah er mir tief in die Augen.
Ich konnte den Blick nicht abwenden, wollte es auch gar nicht. Seine Augen glänzten wir damals, als wir uns im Heu unsere Liebe gestanden. Ehe ich mich versah, fanden sich unsere Lippen zu einem langen, zärtlichen Kuss und ich verdrängte für einen Moment all das, was mir durch den Kopf ging.
Als wir uns dann voneinander lösten, überkamen mich jedoch Schuldgefühle und ich presste hervor:„Wir sollten das nicht tun."
Mischa starrte mich überrascht an und gab dann zurück:„Ich kann mir nicht daran erinnern, dass du damals darauf geachtet hattest, was man nicht tun sollte", er klang frustriert. Oder traurig.
Ich rutschte in meinem Stuhl nach hinten.
„Damals warst du nicht verheiratet", versetzte ich.
Mischas Gesicht verschloss sich, er wandte den Blick ab und rollte das Portrait wieder zusammen. Mit seinen langen, schmalen Fingern, die ich von früher so gut kannte, streifte er ein Gummiband über die Rolle.
„Ja, das bin ich jetzt wohl", gab er tonlos zurück.
Ich haderte mit mir, warum hatte ich das jetzt gesagt? Weil wir nur eine Erinnerung kopierten, die in der Realität nichts mehr zu suchen hatte? Weil es zu lange her war? Weil sich die Situation völlig geändert hatte? Ich war durcheinander und fragte mich, was ich eigentlich wollte.
Auf Mischas Gesicht hatte sich ein Schatten gelegt und er schaute gedankenverloren in die Ferne. Irgendwie kam unser Treffen mindestens 14 Jahre zu spät. Ich hätte ihn gern gefragt, warum er nicht geschrieben hatte, aber verbiss mir die Frage, weil ich mit seiner Gegenfrage rechnete, auf die ich keine klare Antwort wusste. Das Schweigen zwischen uns wurde unangenehm.
„Lass uns noch die Promenade entlang gehen", schlug Mischa schließlich vor.
Erleichtert stand ich auf und hoffte, dass wir unser Treffen noch mit einer heiteren, zumindest sachlicheren Note ausklingen lassen konnten. Wir leerten unsere Gläser, Michael legte einen Schein auf den Tisch, und dann wandten wir uns dem Ufer zu.
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