Kapitel 94 ( Michael )
Nachdem wir das erste Spiel beendet hatten, machten wir mit „Fang den Hut" weiter. Auf Milas Bitte hin bildeten wir beide ein Team, nachdem sich Thomas bereit erklärt hatte, alleine zu spielen. Mila war bezaubernd, schon nach kurzer Zeit lachten wir miteinander, als würden wir uns bereits ewig kennen. Ich warf Gisela grinsend einen Blick zu, denn sie hatte mich noch heute Morgen davor gewarnt, zu hohe Erwartungen zu haben. Zwischen den Spielzügen und den Unterhaltungen mit Mila stellte ich Nadja ein paar kurze Fragen, die sie höflich, aber kurz beantwortete. Ihre Einsilbigkeit irritierte mich, ich hatte anderes erwartet. Dann fiel mir ein, dass ich sie nie in Gesellschaft anderer erlebt hatte, ich wusste gar nichts darüber, ob sie in größerer Runde lebhaft oder ruhig war.
Gelegentlich warf ich ihr aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick zu, den sie aber nicht wahrnahm. Es war merkwürdig, von dem Moment an, da ich sie heute nach langer Zeit wieder gesehen hatte, hatte sie mein Herz in Aufruhr versetzt. Der Blick Ihrer Augen, die noch immer ein goldenes Fünkchen aufwiesen, und das sanft ausgesprochene „Mischa" hatten mich elektrisiert. Sie trug ihre Haare wesentlich kürzer als damals, in weichen Wellen umrahmten sie ihr Gesicht und fielen ihr bis auf die Schultern, aber sonst hatte sie sich äußerlich kaum verändert. Sie hatte sich dezent geschminkt, trug aber keine Ohrringe. Die taillierte Bluse betonte ihre schmale Silhouette und der enge Rock gab im Sitzen den Blick auf ihre schlanken Beine frei.
Nur zu gern ließ ich mich durch Milas Fragen und durch das gemeinsame Spielen von meinen verwirrenden Empfindungen ablenken. Schließlich war auch dieses Spiel beendet und wir verzehrten mit Genuss ein Stück Kuchen. Dabei fragte Nadja:„Wie ist es, als Lehrer zu arbeiten?"
Es war das erste Mal heute, dass sie eine Frage an mich richtete und neugierig sah sie mich dabei an, mit einem Ausdruck der mir so bekannten Wissbegierde, bei der ihre Augen größer wurden und sich die Lippen leicht öffneten. Neu war allerdings, dass wir uns inzwischen auf Englisch miteinander verständigen konnten. Während ich noch überlegte, wie ich ihre Frage beantworten konnte, kommentierte Gisela lächelnd:
„Er ist ein guter Lehrer" und legte dabei ihre Hand auf meine.
Nadja warf ihr einen schwer zu deutenden Blick zu und schaute dann wieder zu mir hinüber. Nadjas Frage überraschte mich nicht, denn sie wusste ja, dass ich einmal andere Träume gehabt hatte, dennoch kämpfte ich mit der Antwort. Ehrlicherweise müsste ich sie mit „unbefriedigend" beantworten. Einem Großteil uninteressierter und lustloser Schüler etwas über Kunst und Kunstgeschichte beizubringen, war ungemein frustrierend. Doch damals hatte die sichere Beamtenlaufbahn an der Schule etwas Verlockendes gehabt, gerade wenn man sich mit den Gedanken trug, eine Familie zu gründen. Gisela hatte mich bei dieser Entscheidung wärmstens unterstützt.
Als ich mir daher ein „mal schön und mal weniger schön" abrang, umspielte Nadjas Mundwinkel ein kleines wissendes Lächeln.
„Und wie ist es bei dir?", fragte ich, mich auf ihre vorhin gegebene Antwort beziehend, dass sie als Chirurgin im Krankenhaus arbeitete.
„Herausfordernd", gab sie zur Antwort und fuhr fort: „Oft anstrengend, aber schön."
Ihre Augen begannen dabei ein wenig von innen heraus zu leuchten, bis sie schließlich verlegen nach unten blickte. Das Haar fiel ihr dabei ins Gesicht, mit einer raschen Geste strich sie es sich hinter's Ohr. Ich war überzeugt davon, dass sie mit Feuer und Flamme dabei war, sie war die geborene Ärztin. Es war, als würde ich einen Spiegel vorgehalten bekommen; während sie ihr Ziel in die Tat umgesetzt hatte, war ich von meinem abgewichen. Ich spürte ein leises Bedauern in mir und merkte, wie Neid darüber, dass Nadja konsequent ihren Weg gegangen war, in mir aufwallte, was ich aber zu unterdrücken versuchte. Ich rechtfertigte mich damit, dass ich ja auch eine ganze Familie zu versorgen hatte. Vielleicht war das Wiedersehen doch keine so gute Idee gewesen.
„Und deine Tochter?", fragte Gisela, die kurz vor der Geburt der Kinder aufgehört hatte zu arbeiten und für die es undenkbar war, nicht voll und ganz für die Kinder da zu sein. An dem kurzen Zusammenziehen ihrer Augenbrauen merkte ich, dass Nadja die Frage missfiel, doch als sie antwortete, klang ihre Stimme ruhig.
„Bei uns haben wir gelernt, dass Frauen alles machen können, was sie wollen, und für die Kinder wird in der Zeit gut vom Staat gesorgt, bis sie groß genug sind, ihren eigenen Interessen nachzugehen."
Gisela verzog in einer mir bekannten Art die Mundwinkel. Sie hieß es nie gut, wenn sich Mütter nicht selbst um ihre Kinder kümmerten.
„Die Alternative wäre außerdem gewesen, als Bäuerin zu arbeiten, aber auch da hätte ich keine Zeit für Mila haben können", fuhr Nadja nun fort. Sie warf mir einen raschen Blick zu und ich wusste, was sie meinte.
„Mama ist ganz berühmt", warf Mila stolz ein und eine leichte Röte überzog Nadjas Gesicht, doch sie hielt Giselas Blick stand, die ihr entgegnete:
„Bei uns ist das anders, da bleiben die Mütter bei den Kindern zu Hause, sorgen für ihre Erziehung und finden dort Zufriedenheit. Nicht wahr, Micha?"
Beifallsheischend sah Gisela zu mir hin. Unangenehm berührt davon, um einen Kommentar gebeten zu werden, nickte ich vage. Das war nichts, worüber ich nachdachte, denn es war schlicht und einfach so, dass Mütter bei den Kindern zu Hause blieben, es war Normalität.
Nadja hob spöttisch die Augenbrauen, aber schwieg. Ich sah sie förmlich denken: Du hast deine Ideen aufgegeben, um jemanden von dir abhängig zu machen und dadurch versorgen zu müssen? Das kränkte mich irgendwie. Ich sah Nadja an, die sich im Stuhl aufgerichtet hatte und Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit ausstrahlte. So wie sie damals unbeirrt ihre eigenen Entscheidungen getroffen hatte, egal wie ihre Familie dazu stand.
Und ich schaute auf Gisela, deren Gesten und Miene auf mich fokussiert waren und fragte mich einen kleinen Moment lang, was wohl gewesen wäre, wenn sie ungeachtet der Erwartungen der Gesellschaft weiter gearbeitet hätte und ich nicht allein die Last des Familieneinkommens zu tragen hätte...
Mein Blick glitt wieder zu Nadja hinüber. Das Sonnenlicht ließ ihr dunkles Haar aufleuchten und verlieh ihrer gebräunten Haut einen goldenen Schimmer. Vor meinen Augen sah ich das Bild eines jungen Mädchens entstehen. Mir stockte der Atem. Auf einmal war es, als wäre es gestern gewesen, dass wir uns unsere Liebe gestanden hatten. Für einen kurzen Augenblick erwiderte Nadja meinen Blick, dann sah sie wieder fort.
Ich blinzelte und schüttelte unwillkürlich den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben. Was war es bloß mit dieser Frau, dass sie mein Gefühlsleben so durcheinander brachte.... Ich war froh, als mich Thomas' Frage nach einem weiteren Stück Kuchen auf andere Gedanken brachte.
Wir waren inzwischen zu Memory übergegangen und hatten gerade eine weitere Runde beendet, als ich Nadja aufstehen und Richtung Toilette gehen sah. Ich stieß Thomas an und verlangte mit väterlicher Autorität: „Komm, wir gehen mal wo hin."
„Ich muss nicht", protestierte er wie immer, aber angesichts meines strengen Blickes zog er einen Flunsch und lenkte ein:„Na guuuut."
Ich schickte Thomas in die Männerabteilung und blieb wartend vor den Waschräumen stehen.
Es dauerte nicht lange, bis Nadja heraus kam. Sie kam lächelnd auf mich zu, bis sie direkt vor mir stand und dann fielen wir uns wortlos in die Arme. Wieder wurde ich von Erinnerungen früherer Gefühle überwältigt, doch ich hielt sie nur ganz vorsichtig, obwohl ich sie am liebsten fest an mich gedrückt hätte. So standen wir gewiss eine Minute, bis wir uns widerwillig von einander lösten. Zu meiner Bestürzung hatte Nadja Tränen in den Augen.
„Tausend Dank für alles", sagte sie mit erstickter Stimme und tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen. Verlegen wischte ich mit einer Handbewegung ihre Bemerkung beiseite und murmelte:„Das war doch selbstverständlich."
Da tauchte Thomas schon neben mir auf, zog mich an der Hand und fragte:„Kommst du, Papa?"
Ja gleich", wimmelte ich ihn ab. „Geh schon mal vor."
Er trollte sich. Im Bruchteil einer Sekunde entschied ich mich, diese wahrscheinlich einzige Gelegenheit zu nutzen, ich wollte noch loswerden, was mir in der letzten halben Stunde klar geworden war. Daher räusperte ich mich und sagte dann stockend:
„Nadja... das mit der Hochzeit...als ich dir den Brief geschrieben hatte...ich wusste nicht, wie ich es erklären sollte. Ich ... ich wollte einfach eine Familie haben und sah für uns keine Chance..."
Ich nahm mit beiden Händen ihre Hand und fügte hinzu:„Es tut mir leid. Aber ich habe nie aufgehört, dich zu lieben!"
Nadjas Augen weiteten sich überrascht, dann jedoch runzelte sie die Stirn, rief „Hör auf" und versuchte, mir ihre Hand zu entziehen.
„Wir müssen reden", drängte ich. „Komm heute um Mitternacht an die Bar an der Promenade."
Nadjas Gesichtsausdruck war nun schwer zu deuten, sie riss sich los und ging mit schnellem Schritt zum Tisch zurück, ohne mir zu antworten.
Ich wartete ein Weilchen, bevor ich folgte. Die Kinder hatten bereits angefangen zu spielen und so setzte ich mich lediglich daneben und schaute zu. Ich freute mich, dass sie sich so gut miteinander verstanden, ohne überhaupt die gleiche Sprache zu sprechen ( „wie wir damals", fuhr es mir durch den Kopf ), aber meine Gedanken wanderten zur kommenden Nacht. Ob Nadja kommen würde? Ich warf ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu, um zu erfahren, wie sie meine Aufforderung aufgenommen hatte.
Doch sie ignorierte mich und unterhielt sich höflich mit Gisela über die Sehenswürdigkeiten dieser Gegend. Unwillkürlich strich sie sich mit der Hand wieder das Haar aus dem Gesicht. Wie sehr erinnerte diese einfache Handbewegung an frühere Zeiten. Dagegen Gisela, deren Haar mit Haarspray und Spangen versehen brav an seinem Platz blieb. Ich wusste: ich musste Nadja unbedingt treffen, jetzt, wo wir eine gemeinsame Sprache hatten. Aber allein. Dieser steife, höfliche Umgang in Giselas Anwesenheit war einfach nur unbefriedigend.
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