Kapitel 93 ( Nadja )
Gedankenverloren bürstete ich mein Haar und beneidete meine Tochter um ihre Ungezwungenheit. Sie war aufgeregt, aber voller Vorfreude auf das Treffen und würde Mischa wahrscheinlich ohne Scheu mit Fragen löchern. Hatte sie dieses Selbstbewusstsein von Mischa? Von mir hatte sie es nicht, soviel stand fest. Ich dachte an Oksana, die einzige, die von dem geplanten Treffen wusste, aber es für sich behalten würde. Seit Milas Enthüllung hatte sie sich als gute Freundin erwiesen und wir wechselten seitdem gelegentlich Briefe miteinander.
Von dem Rest meiner Familie hatte ich seit der Geburtstagsfeier nichts mehr gehört, sie nahmen mir die Geschichte mit Mischa übel. Mit Bedauern dachte ich daran, dass Mutter und ich gerade begonnen hatten, unsere Beziehung zu verbessern, doch seit Milas ungewollter Enthüllung war damit wieder Schluss. Ich unterdrückte meinen Ärger über ihr unvorsichtiges Verhalten, denn nun waren wir wieder auf uns selbst zurück geworfen und wie früher gab es nur noch uns Zwei. Ich seufzte tief, stand auf und suchte nach Mila, damit wir uns auf den Weg machen konnten.
Es war heiß und so saßen wir im Außenbereich des Cafes, das wir als Treffpunkt bestimmt hatten. Ein junges Mädchen hatte gerade mit freundlichem Lächeln die bestellte Limonade und mir einen Tee gebracht. Nervös spielten meine Hände mit der Serviette, während Mila alle paar Minuten aufschaute und auf den zum Cafe führenden Weg guckte. Sie sprach dabei unaufhörlich, was bei ihr das Anzeichen für Aufregung war, aber sie erwartete zum Glück keine Antwort von mir. Ihre Worte flossen um mich herum wie Wellen um einen Stein und ich konnte mich kaum auf ihren Inhalt konzentrieren. Obwohl ich eine ärmellose Bluse trug, schwitzte ich, denn es war nicht der allerkleinste Luftzug zu spüren.
„Da sind sie!", rief Mila plötzlich aus und reckte sich in ihrem Stuhl.
Ich folgte ihrem Blick und gewahrte in der Ferne eine kleine Gruppe aus vier Personen, die sich langsam näherte. Unwillkürlich fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare. Mila sprang auf und winkte fröhlich. Ich blickte als erstes auf Mischa, der einen hellen Anzug und einen Hut trug - bei der Hitze! - und dadurch nicht im Entferntestem seinem früheren Selbst ähnlich sah. Als hätte er meine Gedanken gespürt, nahm er im selben Moment den Hut vom Kopf. Meine Augen glitten zu der Frau neben ihm, die ein schickes Kostüm, Hut und Sonnenbrille trug. Neidisch beäugte ich einen Moment ihre modische Kleidung. An der Hand hielt sie ein kleines Mädchen, dessen Bruder an der Seite seines Vaters ging.
Die ganze Familie war jetzt am Cafe angelangt und mit klopfendem Herzen stand ich auf. Mila ging wie selbstverständlich auf ihren Vater zu, streckte ihm strahlend die Hand entgegen und sagte auf Englisch:
„Hallo, ich bin Mila."
Ich sah Mischa ihr Lächeln erwidern und wandte mich für den Augenblick den anderen zu. Mischas Frau nahm die Sonnenbrille ab und wir begrüßten uns höflich und reichten uns die Hand. Sie hatte kinnlanges, modisch geschnittenes Haar und wirkte freundlich, aber distanziert. Im Gegensatz zu ihrem selbstsicheren Verhalten hatte sich die Kleine ängstlich an die Seite ihrer Mutter gedrückt und sah dabei schüchtern zu mir hoch, als ihre Mutter sie vorstellte. Ich fragte mich, ob man mir meine Nervosität ansah.
Anschließend stellte Mischa seiner Frau „meine russische Tochter Mila" vor. Dann trafen sich unsere Blicke. Ohne Hut war er leichter wieder erkennen. Zwar war der Haarschopf seines kurzen Haares streng nach hinten gekämmt, aber er hatte sich den Bart abrasiert, wodurch er mehr dem jungen Mann von damals ähnelte. Seine Gesichtszüge waren unverändert. Wir sahen uns einige Sekunden lang wortlos an, dann reichten wir uns verlegen lächelnd die Hände. Ich war außerstande, etwas zu sagen, denn ein merkwürdiges Gefühl hatte von mir Besitz ergriffen, das ich im Moment nicht einordnen konnte.
Zwischen uns allen entstand ein unbehagliches Schweigen. Ich machte eine vage Bewegung zum Tisch hin und wir setzten uns. Nervös schlug ich die Beine übereinander und spürte die Anspannung bis in den Nacken. Während Mischa etwas zu Trinken bestellte, zog seine Frau ein Brettspiel aus einer Tasche und breitete ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel auf dem Tisch aus. Ich kam nicht umhin, ihre Idee zu bewundern, denn hiermit konnten wir trotz verschiedener Sprachen etwas Gemeinsames miteinander tun. Die Hütchen waren bald verteilt, Mischa spielte zusammen mit seinem Sohn, Gisela mit ihrer Tochter und Mila und ich alleine. Mila sah ihren Vater mit unverhohlener Begeisterung an und die beiden scherzten und lachten miteinander. Ich freute mich, dass sie schnell einen Draht zueinander gefunden hatten, entspannte mich daher ein wenig, ließ mich gelassen das ein oder andere Mal rausschmeißen und genoss es ansonsten, alle zu beobachten.
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Kennenlernen Vater-Tochter ist geglückt.
Und wie geht es Michael und Nadja bei diesem Treffen nach all den Jahren? Mehr erfahrt ihr im nächsten Kapitel...
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