Kapitel 92 ( Michael )
„Was ist los?", fragte Wilhelm, nachdem unsere Frauen in der Küche verschwunden waren, um den Abwasch zu machen. „Ihr habt heute kaum das Nötigste miteinander gesprochen."
„Es ist nichts", gab ich einsilbig zurück und nahm einen großen Schluck aus der Bierflasche. Wilhelm versetzte mir einen Stoß gegen die Rippen.
„Komm schon", sagte er, „Sind wir Freunde oder nicht?"
Ich gab ein zustimmendes Grunzen von mir.
„Na also! Worüber habt ihr gestritten?"
„Über Mila", brachte ich verärgert hervor.
Ich kannte Wilhelm seit acht Jahren und er war über meine russische Tochter und die Knochenmarkspende im Bilde.
„Wir haben uns ein paar Briefe geschrieben..."
„Du hast ihr geschrieben?", unterbrach Wilhelm überrascht. „Ich dachte, du wolltest den Kontakt abbrechen."
Ich starrte grimmig auf die Bierflasche und erwiderte: „Wollte ich ja auch. Aber dann hat Mila mir geschrieben. Und irgendwie... na ja, da ist halt ein Band zwischen uns, weißt du."
Wilhelm schwieg so lange, dass ich mich bemüßigt fühlte, energisch nachzusetzen:„Du hast selbst Kinder, du weißt doch, wie das ist!"
Wilhelm hob abwehrend die Hände, als ich ihn gereizt musterte.
„Hey, ich sag doch gar nichts."
Aber nach einer Weile gab er dann doch einen Kommentar ab. „Ja, ich hab genauso Kinder wie du und ich würde auch nichts zwischen uns kommen lassen. Aber sie sind hier und nicht am anderen Ende der Welt...", fügte er gedehnt hinzu und schaute mich an.
Ich war sauer, denn ich hatte von ihm Verständnis erwartet. Aus der Küche war das Klappern von Geschirr zu hören. Mir wurde es auf dem Sofa zu eng und ich sprang auf und ging unruhig umher.
„Du hast auch noch nie jemandem ein neues Leben geschenkt", warf ich verärgert ein und sah ihn an.
„Das stimmt", gab Wilhelm ruhig von sich.
Daraufhin schwiegen wir beide, bis Wilhelm schließlich wissen wollte:
„Wissen Ingrid und Thomas Bescheid?"
Ich lehnte mich an die Schrankwand und nickte. Ingrid war noch zu klein, um das zu begreifen, aber Thomas hatte es aufregend gefunden, in der Ferne eine unbekannte Halbschwester zu haben. Gisela hatte ihr Missfallen mit vor der Brust verschränkten Armen Ausdruck verliehen, aber mir allein das Reden überlassen. Vorausgegangen war eine emotionale Auseinandersetzung, an deren Ende ich ihr klar zu machen versucht hatte, dass die Liebe zu Kindern unendlich war und dass ich Ingrid und Thomas – und auch sie – Milas wegen nicht weniger lieben würde. Das war vor einigen Wochen gewesen. Heute hingegen...
„Ich will übrigens, dass wir im Sommer Urlaub in Jugoslawien machen", teilte ich Wilhelm mit.
Es sollte beiläufig klingen, aber ich konnte nicht verhindern, dass sich in meine Aussage ein gewisser Unterton schlich. Wilhelm hob die Augenbrauen und kommentierte:
„Nobel geht die Welt zu Grunde."
Ich begann wieder durch die Stube zu gehen, unfähig, meine Unruhe zu bezwingen.
Betont forsch fügte ich hinzu:„Dort können wir Mila treffen."
Wilhelm lehnte sich im Sessel zurück und sagte langsam:„Verstehe."
Ich schaute ihn an, doch weder seine Augen noch seine Gesichtszüge verrieten, was er dachte.
Schließlich seufzte er und fragte:„Micha, was soll denn das? Du bist glücklich verheiratet, hast zwei wunderbare Kinder – warum willst du dir unbedingt Schwierigkeiten ins Haus holen?"
„Ich hätte keine Schwierigkeiten, wenn Gisela einfach akzeptieren würde, dass mir diese Reise wichtig ist", entgegnete ich bockig.
Tatsächlich hatte ich Gisela heute nicht von meinen Plänen überzeugen können. Angefangen von den hohen Kosten und organisatorischen Schwierigkeiten dieser Reise hatte sie schließlich mit der Entfernung argumentiert und zu guter Letzt schlichtweg ihren Unwillen kund getan, Mila kennen zu lernen. Sie begriff einfach nicht, dass es mir ein inneres Bedürfnis war, das Mädchen, das ein Teil von mir war und dem ich Knochenmark gespendet hatte, einmal zu sehen.
Am Ende der immer lauter ausgetragenen Auseinandersetzung, bei der sich Thomas und Ingrid verängstigt in ihr Zimmer verzogen hatten, hatte ich schließlich als Familienoberhaupt die Reise beschlossen.
Gisela war die Tür hinter sich zuschlagend wütend aus dem Raum gegangen und seitdem war die Stimmung zwischen uns frostig. Sie verstand mich einfach nicht! Keiner begriff, wie es in mir aussah. Auch Mutter hatte in stummer Kritik wortlos den Kopf geschüttelt, aber sich zum Glück jedes weiteren Kommentares enthalten.
Würde Wilhelm etwa in das gleiche Horn blasen? Aggressiv sah ich ihn an. Er war sichtlich um Friedfertigkeit bemüht, als er zu bedenken gab:
„Kann es nicht sein, dass Gisela weniger Angst vor deinem Treffen mit Mila als eher vor deinem Treffen mit ihrer Mutter hat? Denn die ist doch wahrscheinlich auch mit dabei?"
Ich wischte seinen Gedanken unbekümmert beiseite. „Sicher ist sie das. Aber das hat mit Nadja gar nichts zu tun. Das ist alles Vergangenheit."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top