Kapitel 129 ( Nadja )
Meine liebe Nadjenka,
ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll. Du bist die zweite meiner Töchter, die ein Leben weit entfernt ihrer Heimat führt und ich muss mich wohl fragen, was euch Mädchen fortgetrieben hat. Ihr wart als Kind so glücklich hier und ich verstehe nicht, warum sich das geändert hat. Du führst schon seit langem ein Leben, das so anders ist als das deiner Eltern und Großeltern und Urgroßeltern. So völlig anders, dass ich es mir nicht einmal vorstellen kann, wenn du davon erzählst.
Ich hatte mir immer vorgestellt, dass meine Töchter einen Bauern aus der Gegend heiraten, eine Familie gründen und dann in der Nähe einen eigenen Hof bewirtschaften. In nicht nur einem Aspekt ist es ganz anders gekommen. Aber trotz der Vergemeinschaftung des Eigentums, die sich vor langer Zeit vollzogen hat, ist es mir unverständlich, dass du das Leben in einer Stadt dem auf dem Lande vorziehst, so fernab der Natur. Du warst doch das Mädchen, das jede freie Zeit mit dem Pferd im Wald verbrachte. Wohin ist diese Naturverbundenheit verschwunden?
Du hast in jungen Jahren der Heimat den Rücken gekehrt, und dabei so radikal deine Wurzeln aus dem Boden gerissen, wie es selbst Lena nicht vermochte. Deine Besuche waren Besuche, flüchtig wie die Birkenpollen im April, mehr Pflicht als Wunsch und du hast nie wieder Wurzeln geschlagen. Jedenfalls nicht in Saposchnoje.
Ich vermute und hoffe, dass dich das neue Leben, dass du in all den Jahren in der Stadt führst, glücklicher gemacht hat, als das für dich offenbar unbefriedigende Leben auf dem Land. Doch du hast immer noch Mutter, Geschwister, Tante, Cousinen, Nichten und Neffen in Saposchnoje und Umgebung und so lange wird dich immer etwas mit dem Land verbinden.
Es ist schade, dass dein Lebenshunger so groß ist, dass er nur in der Ferne gestillt werden kann. Und jetzt hast du sogar dein Heimatland verlassen... Ist es dir leicht gefallen, ist es dir schwer gefallen? Ich weiß es nicht. Seitdem du erwachsen geworden bist, habe ich das Gefühl, dich überhaupt nicht mehr zu kennen.
Ich fragte mich früher oft, und frage es mich immer noch, woher dein Anderssein kommt. Nicht nur, dass du immer mehr vom Leben erwartest hast als das, was dir bereits gegeben wurde, sondern auch, wem du deine Zuneigung schenkst. Oksana hat uns erzählt, wie sich alles zugetragen hat. Es ist mir absolut unbegreiflich, wie man sich in einen deutschen Soldaten verlieben kann, nach all dem, was unser Land von ihnen erdulden musste. Und ihn dann noch zu verstecken und zur Flucht zu verhelfen...
Keiner hier in Saposchnoje versteht es. Olga und Boris sagen, er habe bei ihnen letztes Jahr einen angenehmen Eindruck hinterlassen... Wir jedoch können nicht so einfach verzeihen oder verdrängen, wie es dir, Olga und Boris offenbar gelingt.
Ich habe stets die Schrecken des Krieges vor Augen, dem so viele Menschen zum Opfer gefallen sind. Allerdings nötigt es mir schon einen gewissen Respekt ab, dass deine Liebe zu ihm die ganzen Jahre unerschütterlich bestanden haben muss – wie oft haben wir uns gefragt, warum du es nicht deinen Geschwistern gleichtust und dich verheiratest. Nun kennen wir die Antwort und man kann es sicherlich konsequent nennen, dass du zu guter Letzt jemanden ehelichst, den du schon vor langer Zeit zum Vater deines Kindes gemacht hast.
Marina und ihr Mann verlieren kein Wort mehr über dich, wie du vermutlich weißt. Ich habe mit Igor darüber gesprochen, wie durch dieses Mannes Hilfe Mila ein paar schöne zusätzliche Jahre geschenkt wurden. Das spricht sicherlich für deinen Deutschen, den ich mir nichtsdestotrotz nicht als Schwiegersohn vorzustellen vermag. Es macht mich jedoch betroffen, dass sich dadurch so ein tiefer Graben zwischen uns aufgetan hat, dass du es noch nicht einmal für nötig erachtet hast, dich vor deiner Auswanderung persönlich zu verabschieden.
Du hast dich für die Liebe und gegen deine Familie entschieden, obwohl ich dich nie vor die Wahl gestellt habe. Es schmerzt, dass es so weit kommen konnte. Ich möchte, dass du folgendes weißt: Ungeachtet meines persönlichen Unbehagens über so eine Verbindung – es ist deine Entscheidung und die Hauptsache ist, dass sie dich glücklich macht! Deshalb wünsche ich dir von ganzem Herzen zur Hochzeit alles erdenklich Gute, Erfüllung und Zufriedenheit. Mögest du in dieser Ehe endlich das Liebesglück finden, auf das du so lange gewartet hast.
Deine Mutter
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Schwesterchen, ich erinnere mich an einige Gespräche mit dir, die nun Sinn ergeben. Verstehen kann ich dich und dein Verhalten weiterhin nicht. Aber ich hoffe, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast und ich wünsche dir, dass du glücklich mit deinem Mann wirst.
Weiterhin gutes Gelingen bei deiner Arbeit und auch viele Grüße von Maria!
Igor
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Nadjeschda, du warst immer unpolitisch, lass dich nun nicht vom Westen korrumpieren. Ich hoffe, du findest eines Tages den Weg zurück. Alles Gute zur Hochzeit und viel Glück für dein weiteres Leben wünschen dir
Lena und Pawel
Ich ließ das Blatt sinken und starrte in die Ferne, ohne etwas wahrzunehmen. Tränen liefen mir über die Wangen, ich spürte, wie sie sich am Kinn sammelten und in meinen Ausschnitt tropften, doch ich ließ sie gewähren. Diese zwei Seiten Papier mit den zart geschwungenen Buchstaben hatten mich tief bewegt. Mutter hatte Recht, ich hatte ihr nie eine Chance gegeben, nie etwas erklärt, sondern war einfach gegangen, damals vor 20 Jahren und jetzt ein weiteres Mal.
Scham überkam mich und ich erkannte, dass sie mein Verhalten genauso verletzt hatte wie mich ihr Desinteresse an meinem beruflichen Leben. Hatte ich mich jemals bemüht, ihr klar zu machen, was ich empfand, wenn ich Verletzungen heilte und es schaffte, Kranken einen neuen Weg zu ermöglichen? Meine Freunde wussten es, meine Kollegen wussten es – für meine Familie war ich die fortgelaufene Tochter, die sich nur förmlich zu Feiertagen blicken ließ, an denen ich kaum etwas von mir preisgab, sondern hauptsächlich von Mila berichtet hatte.
Mit meinem Wegzug nach Minsk und der von mir aufrecht erhaltenen Distanz war aus dem schmalen Graben in meiner Jugend ein Fluss geworden, der nur durch Mila überbrückt werden konnte. Bis alle die Wahrheit über ihren Vater erfuhren. Auch hier war ich den Weg des geringsten Widerstandes gegangen, hatte das geforderte Schweigen akzeptiert, statt allen begreiflich zu machen, was Mischa mir damals bedeutet hatte.
Und anstelle eines ordentlichen Besuches und dem Versuch, eine Beziehung zwischen meiner Familie und meinem Freund aufzubauen, hatte ich mich zum Hof geschlichen wie jemand, der etwas zu verbergen hat und mich dann darüber echauffiert, genau wie ein solcher behandelt zu werden. Ich seufzte schwer.
Und dennoch – hier konnte ich lesen, dass Mutter meine Entscheidungen trotz allem akzeptierte, dass ich trotzdem weiterhin Teil der Familie war. Selbst Igor, der stets nur gegen die damaligen Besatzer wetterte, schien seinen Hass im Rahmen geschwisterlicher Verbundenheit zurückgenommen zu haben und meine sich im Gegensatz zu seinen Empfindungen bewegenden Gefühle zu respektieren. Das war mehr, als womit ich gerechnet hatte. Das Band, das uns als Familie zusammenhielt, war noch immer da, unsichtbar und angegriffen vielleicht, aber immer noch heil genug, um die Verbindung zueinander zu erhalten.
Und so gesellten sich zu der Trauer um verpasste Gelegenheiten die Erleichterung und die Freude, zur Hochzeit schließlich doch noch den familiären Segen erhalten zu haben. Mit tränenverschleiertem Blick las ich die letzten Zeilen erneut und drückte in einer Woge aufwallender Gefühle den Brief zärtlich an meine Brust. In diesem Moment trafen mich die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Ich sah ihr entgegen, wie sie da im Osten emporstieg und von einem neuen verheißungsvollen Tag kündete. Von dort, aus der Heimat, sandte sie mir ein Lächeln zu, und in ihrer beginnenden Wärme spürte ich die Hoffnung, dass alles gut werden würde.
Vielen Dank für's Mitlesen und Miterleben, ich hoffe, es hat euch gefallen :) Wenn ja, schaut gerne auch einmal bei meinen anderen beiden Love stories vorbei...
Liebe Grüße, Sunflower
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