Kapitel 128 ( Nadja )

Hinter den geschlossenen Augenlidern spürte ich bereits die Helligkeit des Morgens, der seine tastenden Strahlen in das Zimmer und direkt auf mein Kissen lenkte. Von draußen waren Vogelstimmen zu hören, deren Melodien mir einst fremd erschienen waren, doch inzwischen vertraut geworden waren. Das vorsichtige Öffnen der Lider gewährte mir einen Blick auf den Wecker – es war noch viel zu früh zum Aufstehen, doch automatisch hatte sich mein Körper dem Rhythmus des gewohnten Frühdienstes unterworfen, obwohl ich noch zwei freie Tage hatte.

Ich schloss meine Augen wieder und kuschelte mich in dem Bemühen, den flüchtenden Schlaf zurückzuholen, an die Seite meines Mannes. Er gab ein kleines Schnaufen von sich, wurde aber nicht wach. Geborgen im herben Geruch seiner Haut und der sanften Wärme seines Arms entzog sich der Schlaf meinen Bemühungen, ihn wieder einzufangen und machte einem Kaleidoskop von Gedanken Platz.

Was war nicht alles in den letzten Tagen passiert. Die Erinnerungen an die mit Aktivitäten gefüllten Tage bis zur Hochzeit, den Polterabend, die Trauung im Standesamt und in der Kirche, die Familienfeier und die beiden anschließend zu zweit verbrachten Tage in Norddeutschland schoben sich übereinander. Noch vorgestern hatten wir am Meer gestanden, mitten im weißen Sand, an den die Wellen unaufhörlich heran rollten, und dessen gleichmäßiges Tosen vom Gekreisch der Möwen begleitet wurde.

Das war nicht die eingefasste Bucht der Sommerfrische in Jugoslawien gewesen, die mir einen Vorgeschmack auf das Meer gegeben hatte, sondern ein freies, unruhiges Wasser, dessen Wellen mal mehr, mal weniger den Strand hochliefen. Über allem spannte sich ein unendlich weiter Himmel, dessen Horizont sich in der Ferne mit dem Meer vereinte. Es war ein so unendlich schönes Gefühl gewesen. Noch immer konnte ich das Salz auf der Haut und den Lippen spüren, fühlte die nackten Füße im von der Sonne gewärmten Sand versinken.

Ich seufzte leise und schlug die Augen auf. Es war unmöglich, wieder einzuschlafen. Trotz der frühen Stunde war es bereits hell im Zimmer. Träge kam mir der Gedanke, dass ich demnächst ein paar Vorziehgardinen besorgen sollte. Andererseits würde es sich vor Bezug der neuen Wohnung wohl kaum lohnen. Wohlig räkelte ich mich wie eine Katze nach der freien Bettseite und strich schließlich zart über den Ehering an meinem Finger. Verheiratet. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass mir dieses Glück noch beschieden sein sollte.

Unerwartet stiegen mir dann Tränen in die Augen. Vor einem Jahr war Mila noch an meiner Seite gewesen. Wo mochte ihre Seele jetzt sein? Ob sie glücklich war, dass ihre Eltern jetzt zusammen waren, so wie sie es sich lange Zeit gewünscht hatte? Ich strich mit den Fingern die Tränen fort, die mir über die Wangen rollten und fragte mich, ob sie gehen musste, damit ich zu Mischa zurückfand? Gab es so etwas wie Schicksal oder Vorherbestimmung? Mischa würde das wahrscheinlich sofort bejahen.

Ich sah zu ihm hinüber und beobachtete, wie sich seine Brust im Rhythmus des Atmens hob und senkte. Die Morgendämmerung warf ihr weiches Licht auf seine Schulter und ich fuhr sanft mit den Fingerspitzen darüber, darauf bedacht, ihn nicht zu wecken, obwohl ich eigentlich nichts lieber täte... doch er war nach unserer Ankunft am späten Abend todmüde ins Bett gefallen, nachdem er den ganzen Tag durch Deutschland hindurch bis nach Basel gefahren war und konnte daher bestimmt noch ein wenig Schlaf gebrauchen.

Wie lustig war es doch, dass wir jetzt in genau dem Land waren, in das wir vor vielen, vielen Jahren einmal hatten flüchten wollen. Ich strich Mischa ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Verschlafen öffnete er die Augen, sah mich und lächelte, dann fielen sie ihm wieder zu.

„Schlaf weiter", flüsterte ich und rollte mich vorsichtig vom Bett. Ich spritzte mir ein wenig Wasser ins Gesicht, zog mich leise an und verschwand in die Küche, wo ich schließlich beschloss, in den Briefkasten zu schauen, der nach der längeren Abwesenheit eine Leerung bestimmt nötig hatte.

Im Treppenhaus kam mir der Nachbar von oben entgegen, ein etwa dreißigjähriger Mann in maßgeschneiderten Anzügen, der immer früh das Haus verließ und in einem schicken Auto davonfuhr. Vermutlich arbeitete er bei einer Bank. Wir hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt, aber wie immer nickte er mir im Vorbeigehen freundlich zu.

Meine Absätze hallten laut auf den Treppenstufen, so dass ich mich bemühte, vorsichtig aufzutreten. Es war ein schönes Treppenhaus, vornehm in Weiß gehalten und mit breiten Treppen. Irgendwie tat es mir leid, das Zuhause hier bald aufgeben zu müssen, von dem aus ich die ersten Schritte in eine Welt unternommen hatte, deren Sprache mir nicht vertraut war und wo Sitten und Gebräuche anders waren, als ich es kannte.

Aber trotz aller Schwierigkeiten hatte mir der Neunanfang nach Milas Tod gut getan. Hier erinnerte mich nichts an sie. Doch die jetzige Wohnung war zu klein für zwei Personen, sie bestand lediglich aus Bad, Küche und einem Raum zum gleichzeitigen Wohnen und Schlafen. Wir würden eine Wohnung brauchen, die auf jeden Fall ein Schlafzimmer besaß und vorzugsweise auch noch einen weiteren hellen Raum, am besten im Erdgeschoss mit Zugang zu einem kleinen Garten.

Ich lächelte beim Gedanken daran, wie viel Begeisterung Mischa ausstrahlte, wenn er über seine Zukunftspläne sprach. Auch Erika und Hannah hatten erkannt, wie viel Glück und Befriedigung ihm die Malerei bescherte, und wie gut es ihm tat, nach all den Jahren der Verantwortung gegenüber seiner Mutter, seinen geschiedenen Frau und seinen Kindern nun seinen Neigungen zu folgen und eine Tätigkeit aufzugeben, die ihm nur Verdruss bereitet hatte.

Hannah hatte mich kurz vor unserer Abreise beiseite genommen und wissen wollen, ob mir denn gar nichts daran läge, meinem Ehemann ein gemütliches Heim zu schaffen und ihn abends nach der Arbeit zu umsorgen.

„Ich glaube, Mischas Arbeitszeiten werden so unstet sein wie meine", hatte ich ihr geantwortet, „Da ist kein Raum für das konventionelle Leben, das du führst."

Er hatte den Vorteil, sich wie ein Bohemien geben zu können ohne einer zu sein und ich würde das Leben einer allein auf sich gestellten beschäftigten Frau führen, in dem Bewusstsein, keine zu sein, und zusammen ergänzte sich beides ganz wunderbar. Ich brauchte keinen Mann, der mich versorgte, ich hatte bisher alles gut alleine im Griff gehabt und nicht das kleinste Interesse, daran etwas zu ändern.

Hanna gegenüber hatte ich jedoch nur hinzugefügt:

"Er hat seine Leidenschaft, und ich habe meine, und dazwischen ist Liebe, die für den Rest des Lebens reicht". Hannah hatte verständnisvoll genickt und mich umarmt und einen baldigen Besuch versprochen.

Tief in Gedanken versunken war ich vor dem Briefkasten stehen geblieben, ohne Anstalten zu machen, ihn zu öffnen. Wie still es zu dieser Zeit immer im Treppenhaus war. Von draußen war noch immer das Gezwitscher der Vögel zu hören. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn mit einem Ruck, weil das Schloss oft klemmte. Mit einem leisen Plopp sprang die Tür auf und noch bevor ich reagieren konnte, rutschte mir der Inhalt entgegen. Im vergeblichen Bemühen, alles zu halten, segelten die Briefe und Wurfsendungen durch die Luft und landeten einer nach dem anderen auf dem Boden, wo sie sich malerisch verteilten.

Seufzend ging ich in die Knie und sammelte alles ein. Beim Anblick einer mir bekannten Handschrift hielt ich kurz inne und atmete tief ein. Dann legte ich den Brief ganz nach oben und ging zügig wieder zurück in die Wohnung. Der Blick zum Bett hinüber sagte mir, dass Mischa noch immer schlief. Daher verzog ich mich in die Küche und ließ mich vom verheißungsvoll durch das Fenster leuchtenden blauen Himmel auf den Balkon locken. Wie milde es in der windstillen Luft bereits war.

Den Stapel Briefe hatte ich auf den Küchentisch abgelegt. Mit einem gemischten Gefühl aus Neugier und Unruhe streckte ich den Arm durch die Balkontür, zog den obersten Brief herab und studierte den Absender. Ich hatte mich nicht getäuscht, der Brief kam von meiner Mutter. Der erste Brief seit Monaten, eine Expresssendung. Unzeremoniell riss ich ihn mit dem Daumen auf und zog eine Karte und einen Bogen Papier heraus. Ich überflog zuerst die Karte, es war eine Glückwunschkarte zur Hochzeit, beschrieben mit der mir so vertrauten verschnörkelten Handschrift meiner Cousine, die mir und Mischa mit warmen Worten gratulierte. Boris und die Kinder hatten mit unterschrieben, doch ich konnte außerdem Mutters Unterschrift sowie die von Igor, Maria, und Tante Shenja entziffern.

Ein Lächeln erschien auf meinem Gesicht und mit ein wenig mehr Aufmerksamkeit las ich den Text ein zweites Mal. Freude breitete sich langsam in mir aus, verästelte sich wie Wasser, das seinen Weg suchte, in jede Zelle meines Körpers. Nach dem unschön geendeten Ausflug zum Hof meiner Kindheit hatte ich Mutter nicht mehr aufgesucht – ich konnte mir lebhaft vorstellen, was Marina ihnen berichtet hatte – und ihr und meinen Geschwistern nur in einem Brief von meiner beruflichen Veränderung berichtet. Ich hatte den Weg eines Feiglings gewählt, mich ohne Abschied in ein neues Leben aufzumachen.

Ihre letzte und bislang einzige Reaktion war ein höflicher Weihnachtsgruß gewesen. Nur mit Oksana pflegte ich einen kontinuierlichen und intensiven Briefwechsel. Waren die Unterschriften ein Zeichen, dass sie mir meine Wege, die mich immer weiter von ihnen fortgeführt hatten, verziehen hatten? Fast hätte ich das Blatt Papier vergessen, das ich noch immer in der anderen Hand hielt.


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