Kapitel 127 ( Michael )

Ich stand still neben ihr und beobachtete sie, sah, wie sich ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, während sie ihre Augen weiterhin geschlossen hielt. Es war ein schönes Bild, wie die Sonnenstrahlen ihr Gesicht leuchten ließen, der Wind mit ihren Haaren spielte und sie mit nach oben geöffneten Handflächen die Arme weit ausstreckte, als wollte sie die Welt umarmen. Ich hatte gewusst, dass es ihr an der Nordsee gefallen würde.

Das Meer war unberechenbar, so wie das Leben, das uns mal hierhin, mal dorthin trieb, wir konnten die Richtung nicht bestimmen, aber durch Steuern den Kurs ein wenig anpassen. Es war immer schön, am Meer zu sein, wo man bei Ebbe die Weite des Himmels aufnahm und in den Anblick des endlosen Horizonts versank und wo bei Hochwasser die schiere Kraft und Schönheit der Wellen beeindruckte.

Ich würde diesen Anblick vermissen, verschob aber diesen Gedanken sogleich in die hintersten Tiefen meines Gehirns, denn nichts sollte die Vorfreude auf die neue Existenz in der Schweiz schmälern und ich konzentrierte mich deshalb auf den überaus ansprechenden Anblick meiner frisch gebackenen Ehefrau. War es nicht unglaublich, dass wir nach all den Jahren trotz aller Hindernisse schließlich zueinander gefunden hatten? Ich fühlte tiefe Dankbarkeit gegenüber einer Kraft, die unsichtbar blieb, aber schließlich alles zum Besten lenkte.

In diesem Moment öffnete Nadja ihre Augen und ein Staunen legte sich auf ihr Gesicht, als sie die heran donnernden Wellen in Augenschein nahm. Auch in ihr hinterließ die Kraft der Elemente einen tiefen Eindruck. „Das ist unglaublich", rief sie lachend und wies auf das bewegte Wasser.

Sie zog die Füße aus dem Sand, hielt einen davon in eine heran brandende Welle, kam einen Schritt auf mich zu und lehnte sich dann an mich, so dass ich den Arm um ihre Schultern legen konnte. Ein Weilchen sahen wir schweigend auf das Meer hinaus, bevor wir schließlich zum Wagen zurückkehrten.

„Das war schön", verkündete Nadja lächelnd und strich sich die Haare hinters Ohr. „Kalt, aber herrlich. Hast du mein Haarband?"

Ich startete den Wagen und warf ihr einen zärtlichen Blick zu.

„Lass sie offen. Ich mag das. Sieht schön aus."

„Du meinst wohl, wild und verrückt."

Nadja lachte, aber nahm ihre Hände wieder runter und legte sie in den Schoß. „Und was machen wir jetzt?"

„Abwarten", tat ich geheimnisvoll, lenkte den Wagen von dem Feldweg auf die gepflasterte Straße und bog kurz darauf wieder zum Strand hin ab, wo ich auf einer Sandfläche parkte, auf der bereits ein paar andere Autos standen. Nadja reckte den Kopf und sah zum Strand hinüber, der hier an dieser Stelle belebt und lebendig war. Ich beugte mich zum Rücksitz hinüber, wickelte eine Flasche aus dem nassen Handtuch, das ich zum Kühlen um sie gelegt hatte und verstaute sie im Picknickkorb. Dann stieg ich aus und öffnete auch Nadja die Tür. Galant reichte ich ihr die Hand.

„Kommen Sie, meine Dame."

Einen Blick auf meine nackten Füße werfend streifte Nadja rasch ihre Schuhe ab, die sie zwischenzeitlich wieder angezogen hatte, und ergriff die dargebotene Hand. Mit dem Daumen fuhr ich sanft ihren Handrücken entlang und wir schritten langsam durch den Sand, wobei wir nicht umhin kamen, uns immer wieder verliebte Blicke zuzuwerfen. Ich fühlte mich wie in einem schönen Traum, von dem ich hoffte, dass er nie zu Ende gehen würde.

Der vor uns auftauchende Strandwärter versetzte mich zurück in die Realität, ich bezahlte für einen Strandkorb, und während Nadja ihre Blicke neugierig hierhin und dorthin schweifen ließ, hielt ich nach der Nummer 53 Ausschau. Mit gekonnten Bewegungen entfernte ich das Holzgitter, fegte ein wenig Sand von der Sitzfläche und machte eine einladende Bewegung.

„Was ist das?", fragte Nadja und strich mit der Hand über den glatten Sitzstoff und die hölzerne Seitenverkleidung. „Ein Strandkorb" erwiderte ich lächelnd auf Deutsch, da mir kein englisches Wort einfiel. „Strand-korb..." wiederholte Nadja langsam, mit rollendem R, als spürte sie die Worte auf der Zunge nach.

„Genau", bestätigte ich und klappte die hölzernen Seitentische aus, um dort zwei Gläser abzustellen.

Als ich eingeschenkt hatte und das Getränk in den Gläsern perlte, beäugte Nadja das Etikett.

„Champagner?", bemerkte sie beeindruckt und hob die Augenbrauen.

„Für die schönste Frau der Welt ist das Beste gerade gut genug", verkündete ich mit Nachdruck und erntete ein glückliches Lächeln. Wir stießen auf unsere gemeinsame Zukunft an und genossen einen Moment lang schweigend das wunderbare Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Erst als lautes Kreischen an unser Ohr drang, rissen wir unsere Blicke voneinander los, und dann knallte bereits ein Ball kräftig gegen die Holzbalken unseres Strandkorbes. Nadja zog erschrocken die Füße hoch und ich warf den Ball zurück in die Arme der Jungen, die sich mit einer Mischung aus Verlegenheit, Reue und Angst näherten und sich dann mit einem hastigen „Dankeschön" wieder zurückzogen.

„Es ist nichts passiert", versicherte Nadja, lehnte sich an die Seite des Strandkorbes und legte ihre Füße in meinen Schoß. Ich strich den Sand von ihrer Haut und knetete sanft die Sohlen. Nadja ließ ein wohliges Seufzen hören und schloss entspannt die Augen. Aus der Ferne war der Rauschen der Wellen und das fröhliche Kreischen von Kindern zu vernehmen.

„Der erste Tag unserer Ehe lässt sich gut an", kommentierte sie schließlich und nippte an dem Champagner.

„Hast du etwas anderes erwartet?", zog ich sie auf und freute mich an dem Lachen auf ihrem Gesicht, mit dem sie den Kopf schüttelte.

„Hat dir die Hochzeitsfeier gefallen?", fügte ich hinzu und sah sie an.

„Es war wunderschön", erwiderte sie nach einer kurzen Pause, die deutlich machte, dass ein „Aber" auf ihren Lippen gelegen hatte.

„Aber dir hat deine Familie gefehlt", vervollständigte ich ihre Antwort, ich wusste, dass sie eigentlich ganz klein hatte heiraten wollen – gerade auch, weil die Verwandten und Freunde aus der UdSSR gezwungenermaßen nicht kommen konnten.

„Mir hat das Gefühl, eine Familie dabei zu haben, gefehlt", korrigierte Nadja, „...und ja, Oksana, Boris und Sascha haben mir gefehlt."

Sie hielt ihre Hände vor sich im Schoß verschränkt und sah nachdenklich auf sie hinunter.

Ich reagierte instinktiv auf den leichten Schmerz in ihrer Stimme, ergriff ihre Hände und versicherte in dem Bemühen um Trost:

„Wir sind deine Familie."

Nadja hob den Kopf, warf mir einen klaren Blick zu und sagte dann leise:

„Ich weiß, aber das ist nicht dasselbe."

Ich schwieg und drückte nur ihre Hand. Was hätte ich auch hinzufügen sollen? Sie hatte ja Recht.

„In der Schweiz bilden wir unsere eigene Familie", schlug ich vor, während unweigerlich das Bild einer Familie mit Kind vor meinen Augen entstand, das einem üblicherweise dabei in den Sinn kommt. Das gleiche ging wohl Nadja durch den Kopf, denn sie sah zum Strand hinüber und kommentierte:

„Das hätte ihr auch gefallen."

Ihre Lippen zitterten ein wenig, aber sie hielt sich kerzengerade, als würde sie von unsichtbaren Stützen gehalten und verbat sich damit jegliche tröstende Geste. Ihr Entschluss, alles weiterhin alleine durchzukämpfen, machte mich ein wenig traurig, ein Gefühl, das noch genährt wurde von einer lachenden Mila, die sich plötzlich in meine Erinnerung schob. 21 Jahre alt wäre sie nun gewesen. Gerne hätte ich sie näher kennengelernt, aber es war uns leider nicht vergönnt gewesen.

„Wirst du deine Kinder nicht vermissen, wenn du in der Schweiz bist?", riss mich Nadjas Frage aus meinen Gedanken. Forschend blickte sie mich an.

„Schweiz oder nicht macht keinen Unterschied", erwiderte ich, „Ich sehe sie ohnehin nur selten. Und die Treffen sind irgendwie gezwungen, besonders mit Ingrid. Sie erinnert sich kaum an früher. Für sie bin ich fremd geworden."

Diese Wahrheit auszusprechen deprimierte mich. Dennoch war ich es, der nicht um diese Ehe, diese Familie, gekämpft hatte, denn ich hatte den Aufruhr des Herzens über die moralische Verpflichtung des Familienerhalts gestellt. Wenn es auch Gisela war, die den Beginn dieser Entwicklung erzwungen hatte. Doch jetzt, davon war ich überzeugt, würde es anders sein. Nie wieder würde ich Nadja aufgeben.

Ich sah sie an, lächelte, erfreute mich an ihren vom Wind geröteten Wangen, an den ungebändigten Haarsträhnen, die sich salzverkrustet auf ihren Schultern wellten, an den nach der Wahrheit forschenden Augen und ihren matt glänzenden Lippen. Unvermittelt beugte ich mich zu ihr hinüber und küsste sie sacht auf den Mund, was sie ebenso zart erwiderte, und ich gab mich dem Wissen hin, hier den Menschen gefunden zu haben, der die Ergänzung meiner selbst war, der mich verstehen und nicht verurteilen würde.

An meine vorherige Äußerung anknüpfend fuhr ich schließlich fort:

„Ich vermisse mehr die Zeit mit ihnen damals, als sie noch klein waren."

Gedankenverloren strich ich über Nadjas Hände.

„Aber ich würde auch fahren, wenn es anders wäre. Und du?", gab ich anschließend eine Frage zurück, die so gar nicht gestellt gewesen war.

Nadja verstand mich trotzdem.

„Ob ich für eine neue Arbeit in die Schweiz ausgewandert wäre, zu dir, wenn Mila in Minsk geblieben wäre?"

Ich nickte und war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob ich die Antwort auf meine spontan geäußerte Frage hören wollte. Nadja legte die Hände um meinen Nacken, zog mich heran und stieß etwas atemlos hervor:

„Ja, ja, und nochmals ja! Mila war schon groß. Auf keinen Fall hätte ich dich ein weiteres Mal gehen lassen!"

Nach diesem leidenschaftlichen Geständnis gab sie mir einen Kuss, der an Intensität nichts zu wünschen übrig ließ und der mich die Ungestörtheit des Strandkorbs schätzen ließ.

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