Kapitel 126 ( Nadja )

Noch ein wenig müde, aber zufrieden lehnte ich mich an meinen Sitz auf der Beifahrerseite und genoss die leise Musik, die aus dem Radio drang. Wenn ich aus dem Fenster sah, streckte sich mir der blaue Himmel entgegen, an dem weiße Wolkenungetüme entlang trieben. Auf der Fähre, auf der wir ausgestiegen waren, war uns ein kräftiger Wind entgegengeweht, so dass ich ein Frösteln nicht hatte vermeiden können, aber jetzt schien die Sonne durch die Scheibe und ich spürte sie angenehm warm auf meinem Arm, der entspannt am Fenster ruhte.

Zwischendurch warf mir Mischa liebevolle Blicke zu, die ich mit einem glücklichen Lächeln erwiderte.

„Schon daran gewöhnt, verheiratet zu sein?", neckte er mich, bevor er wieder auf die Straße sah.

„Noch nicht so ganz", gab ich zu und sah verträumt auf den Ring an meinem Finger, der den Bund des Lebens sichtbar dokumentierte. Unwillkürlich überfiel mich ein Gähnen, denn es war gestern spät bzw. früh geworden und obwohl wir heute bis um 10.oo Uhr geschlafen hatten, fühlte ich mich noch ein wenig benommen, wenngleich auf eine angenehme Weise.

Ich ließ den gestrigen Tag Revue passieren, angefangen von der Zeremonie in der Kirche über viele unerwartete Bräuche bis hin zum Essen und Tanzen bis in die frühen Morgenstunden. Es war so viel los gewesen, dass ich gar nicht zum Nachdenken gekommen war, was geholfen hatte, die Gedanken an diejenigen, die diesen Tag nicht mit mir teilen konnte, zu verdrängen.

Umso mehr glitten meine Gedanken jetzt zu ihnen und trotz aller Freude, die ich in den vergangenen Tagen empfunden hatte, stieg Wehmut in mir auf. Ich hatte Mutter, Igor und Oksana geschrieben, aber was war schon ein Brief, sie waren weit weg und hätten – mit Ausnahme von Oksana und Boris – meine Heirat ohnehin nicht gut geheißen.

Bevor ich in Trübsal verfallen konnte, bremste Mischa den Wagen unerwartet ab und hielt mitten im Niemandsland an. Um uns herum waren nur Felder, deren Pflanzen leicht im Wind wogten und verwundert sah ich zu Mischa hinüber, der einen geheimnisvollen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte.

„Bereit für etwas Unerwartetes?", fragte er lächelnd.

„Sicher", gab ich ohne zu Zögern zurück und meine Neugier wuchs, während er hinüber zum Handschuhfach langte und verstohlen etwas heraus zog.

„Was wird das?", wollte ich wissen und zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Augen zu!", kommandierte Mischa. Ich tat wie geheißen und ein aufregendes Kribbeln erfasste mich, als er mir ein Tuch um die Augen legte und im Nacken verknotete.

„Hast du Angst?", raunte er in mein Ohr und ich schüttelte den Kopf, denn ich vertraute ihm vollkommen.

„Wir fahren noch ein Stückchen, und dann wirst du sehen bzw. merken, wo wir sind."

Ich hörte das Schmunzeln in seiner Stimme und dann ließ er den Motor an und wir fuhren weiter. Es war merkwürdig, wie intensiver man alles wahrnahm, wenn man nichts sehen konnte und sich nur auf alle die anderen Sinne verlassen konnte. Die Sonne schien mir ins Gesicht, aber ich konnte durch den Stoff des Tuches trotzdem nichts erkennen und schloss daher meine Augen.

Es dauerte nicht lange und wir hielten erneut an. Ich hörte, wie sich die Türen öffneten und bekam eine leichte Gänsehaut, als ich spürte, wie Mischas Hand meine Beine entlang glitt und mir erst die Schuhe und dann die Strumpfhose von den Beinen streifte. Was mochte er vorhaben?

„Komm!", forderte er mich auf, umfasste meinen Ellenbogen und meine Taille und lotste mich behutsam aus dem Auto.

Als erstes versank ich knöcheltief in warmen Sand. Sandkörner rieselten die Füße herab, als ich vorsichtig durch den weichen Boden schritt. Ich strich mit der Zunge über meine Lippen und bemerkte Salz darauf. Dann wurde der Boden fester unter meinen Füßen, ich spürte kleine Unebenheiten, vermutete Steine oder Muscheln. Meine Hand in Mischas ließ ich mich willig weiterziehen, bis mich die kurze Berührung seines Körpers stoppte. Ein Rauschen und Tosen erfüllte die Luft, so dass ich Mühe hatte, seine Worte zu verstehen.

„Schließ die Augen und spüre einfach", rief er dicht an meinem Ohr und berührte es dabei zart mit seinen Lippen. Dann zog er das Tuch beiseite, fuhr er mit geübten Fingern durch mein Haar und löste meinen Zopf, so dass der Wind kräftig hineinfuhr und mir die Haare ins Gesicht pustete. Ich ließ sie gewähren. Anschließend fuhren Mischas Hände meine Arme entlang und hoben sie leicht an.

Ich spürte den Wind um mich herum, die salzige Gischt, hörte die Wellen heran donnern, so gewaltig, dass das Kreischen der Möwen fast in ihnen unterging, und merkte, wie Welle um Welle meine Knöchel umspielte, so dass ich immer tiefer in den feuchten Sand sank. Die Sonne strahlte warm in mein Gesicht und der weite Rock wirbelte um meine Knie. Alle paar Momente wechselte der Wind seine Richtung, fuhr mir mal direkt ins Gesicht, dann wieder warf er mir übermütig einzelne Strähnen über Lippen und Wangen. Hier, an der Nordsee, spürte ich die Freiheit in einer bisher nie gekannten Intensität. Ich reckte das Kinn nach oben, öffnete ein wenig die Lippen und fühlte mich eins mit den Elementen.

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