Kapitel 120 ( Nadja )
Unruhig wälzte ich mich auf dem Sofa hin und her und wartete vergeblich darauf, in den Schlaf zu sinken. Es kam mir vor, als wären bereits Stunden vergangen, seitdem sich alle zu Bett begeben hatten. Resigniert setzte ich mich auf und starrte auf das Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel. Ich konnte die dunklen Silhouetten von Boris und Oksana im Bett erkennen und hörte Oksana leise schnarchen. Mischa lag auf der Bank am Tisch. Ein schmaler Strich Mondlicht lag auf seinem Haarschopf und tauchte ihn in silbriges Licht.
Sie alle schliefen tief und fest und ich beneidete sie darum. Meine Augenlider waren schwer, doch ich war wohl einfach zu aufgewühlt, um zu schlafen. Es war ein ereignisreicher Tag gewesen, der mir viel zum Nachdenken gegeben hatte. Schließlich stellte ich meine Füße auf den Boden und zuckte unwillkürlich zurück – er war furchtbar kalt. Daher bückte ich mich und streifte ein Paar Socken über. Eine Sprungfeder quietschte leise, als ich mich wieder aufrichtete, doch es rührte sich keiner. Ohne ein weiteres Geräusch zu verursachen, schlich ich zum Fenster hinüber, schob die Gardine beiseite und starrte hinaus.
Gedankenverloren sah ich auf die einzelnen Hofgebäude, das Kopfsteinpflaster und die sich daran anschließenden Nachbarhäuser. Die Felder konnte ich von hier aus nicht sehen, sie lagen hinter den Gebäuden auf der anderen Seite. Das hier war ländliches Gebiet wie das, in dem ich aufgewachsen war. Konnte ich diese Wälder und Dörfer wirklich dauerhaft verlassen, ohne die Chance, jemals wiederkehren zu können? Und wollte ich wirklich für immer die Stadt hinter mir lassen, in der ich über 15 Jahre gelebt hatte und in der ich heimisch geworden war?
Nachdenklich legte ich meine Stirn an die kühle Fensterscheibe. Seitdem mir Oksana die Post überreicht hatte, die sie aus meiner Wohnung mitgenommen hatte, fiel es mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Mit entschuldigender Miene hatte sie mir heute Abend zwei Briefe in die Hand gedrückt, die sie einige Tage lang völlig vergessen gehabt hatte. Ihr Gesichtsausdruck war dabei unbeteiligt gewesen, sie hatte wohl gar nicht bemerkt, was für ein Umschlag unter dem ersten Brief lag. Ich hatte gestutzt, als ich die unbekannten Briefmarken entdeckt hatte, aber meine Neugier mit Mühe zurückgehalten, bis ich einen Moment für mich hatte. Der Brief kam aus der Schweiz und enthielt ein Angebot, an einer renommierten Schweizer Klinik in Basel zu arbeiten.
Es war schwer zu glauben gewesen und ich hatte den Brief daher zwei Mal gelesen, doch der Inhalt war unverändert geblieben. Mein erster Gedanke war gewesen: „Auf keinen Fall!" Dann hatte ich das relativiert und über die Gründe nachgedacht gehabt, die dafür sprachen: interessante, anspruchsvolle Tätigkeit und eine neue Herausforderung, guter Verdienst und dicht an Deutschland...und nicht zuletzt fern von allem, was mich an Mila erinnern würde. Und was dagegen sprach: weit entfernt von Oksana und meinen Freunden, eine fremde Sprache und ein fremdes Land. Doch ich hatte mich nicht entscheiden können und haderte auch jetzt damit.
Ich fröstelte und holte eine Decke und drapierte sie um mich herum. Was sollte ich tun? Tatsächlich hielt mich hier nicht mehr so viel...wie das Verhältnis zu Marina und Dmitiry war, war gestern ja überaus deutlich geworden. Und ich zweifelte stark daran, dass es bei Igor und Tante Shenja anders war. Zu meiner Mutter, Lena und meiner Schwägerin Maria...nun ja. Unsere Beziehung ließ sich wohl am besten als distanziert beschreiben.
Ich legte mein Kinn in die Handfläche und seufzte tief. Und Oksana wohnte nicht gerade nah an Minsk, meistens schrieben wir uns ohnehin nur Briefe und sahen uns selten. Sascha, ja, und die anderen Arbeitskollegen, die würden mir fehlen...aber wollte ich wirklich wieder mein Leben aufnehmen, als wäre nichts gewesen?
Erneut ließ ich meinen Blick über die nahen Dächer der Nachbarshäuser streifen. Würde ich nicht Sehnsucht nach der Heimat haben? Nach dem Klang meiner Muttersprache und der vertrauten Art der Menschen, miteinander umzugehen? Am Schwersten wog jedoch die Erkenntnis, dass ich niemals wieder in der Wohnung zu leben gedachte, die ich gemeinsam mit Mila bewohnt hatte, denn zu viele Erinnerungen steckten in diesen vier Wänden. Tränen liefen mir die Wangen hinunter und ich ließ sie gewähren. Vielleicht war es gerade jetzt genau richtig, etwas Neues anzufangen, an einem Ort, an dem mich die Bilder gemeinsamen Lebens mit meiner Tochter nicht einholen würden...
Trotz der Decke wurde mir langsam kalt, doch ich war immer noch zu unruhig zum Schlafen, setzte mich auf einen Stuhl und zog meine Füßen in einen Schneidersitz. Was würde solch eine Entscheidung für Mischa und mich bedeuten? Ich hatte keine Ahnung, wie es mit uns weitergehen sollte, wir hatten darüber noch nicht gesprochen. Ich sah zu ihm hinüber. Der Mondstreifen auf seinem Haar war inzwischen weiter gewandert. Ich wollte ihn auf keinen Fall wieder aus den Augen verlieren. Ob er mit in die Schweiz gehen würde...? Ich kaute nervös an meiner Unterlippe. Jedenfalls würde es dort einfacher sein, sich zu treffen, das stand fest. Dennoch... Und nun spürte ich die Müdigkeit mehr und mehr von mir Besitz ergreifen. Ich tat daher jetzt das einzig Richtige und verschwand zurück ins Bett. Und dieses Mal dauerte es nur Sekunden, bis ich eingeschlafen war.
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